Faserland (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
176 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30146-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Faserland -  Christian Kracht
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Die Kontroversen, die 1995 sofort nach der Veröffentlichung des Romans Faserland ausbrachen, haben sich gelegt, der Roman ist heute ein Klassiker der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, der immer wieder neue Generationen von Lesern fasziniert. »Ein junger Mann irrt durch die alte Bundesrepublik. Wir schreiben das Jahr 1995, und die Mauer ist gefallen, das interessiert den jungen Mann aber nicht. Von Nord nach Süd lässt er sich treiben, von Sylt zum Bodensee, dann weiter nach Zürich ans Grab von Thomas Mann. Betrunken ist er häufig, angewidert eigentlich ständig. Von den Menschen, dem Land, der Zeit. Geld hat er viel, Stil auch, nur Halt hat er keinen. Er versteht alles, sagt er, dann entgleitet ihm wieder alles. Christian Kracht legt in seinem Debütroman Faserland das hedonistische Zeitalter der Bundesrepublik, legt seine eigene Generation unters Mikroskop. Und findet hinter tausend Marken, hinter tausend Masken, unter einer meterdicken Oberfläche keine Welt. Als Geburt der Popliteratur in Deutschland wurde Krachts schnoddrig-verzweifeltes Debüt bezeichnet. Es war nicht ihre Geburt, es war ihre Hinrichtung.« Elmar Krekeler, Die Welt

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Romane »Faserland«, »1979«, »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«, »Imperium«, »Die Toten« und »Eurotrash« sind in über 30 Sprachen übersetzt. 

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Romane »Faserland«, »1979«, »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«, »Imperium«, »Die Toten« und »Eurotrash« sind in über 30 Sprachen übersetzt. 

Eins


Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch, das ist eine Fischbude, die deswegen so berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist. Am obersten Zipfel von Sylt steht sie, direkt am Meer, und man denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude.

Also, ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever. Weil es ein bißchen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Barbourjacke mit Innenfutter. Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis mit Knoblauchsoße, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war. Der Himmel ist blau. Ab und zu schiebt sich eine dicke Wolke vor die Sonne. Vorhin hab ich Karin wiedergetroffen. Wir kennen uns noch aus Salem, obwohl wir damals nicht miteinander geredet haben, und ich hab sie ein paar mal im Traxx in Hamburg gesehen und im P 1 in München.

Karin sieht eigentlich ganz gut aus, mit ihrem blonden Pagenkopf. Bißchen zuviel Gold an den Fingern für meinen Geschmack. Obwohl, so wie sie lacht, wie sie das Haar aus dem Nacken wirft und sich leicht nach hinten lehnt, ist sie sicher gut im Bett. Außerdem hat sie mindestens schon zwei Gläser Chablis getrunken. Karin studiert BWL in München. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man sowas ja nicht wissen. Sie trägt auch eine Barbourjacke, allerdings eine blaue. Eben, als wir über Barbourjacken sprachen, hat sie gesagt, sie wolle sich keine grüne kaufen, weil die blauen schöner aussehen, wenn sie abgewetzt sind. Das glaube ich aber nicht. Meine grüne Barbour gefällt mir besser. Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts. Das erkläre ich später, was ich damit meine.

Karin ist mit dem dunkelblauen S-Klasse-Mercedes ihres Bruders hier, der in Frankfurt Warentermingeschäfte macht. Sie erzählt, daß der Mercedes ganz gut ist, weil der wahnsinnig schnell fährt und ein Telefon hat. Ich sage ihr, daß ich Mercedes aus Prinzip nicht gut finde. Dann sagt sie, daß es sicher heute abend regnen wird, und ich sage ihr: Nein, ganz bestimmt nicht. Ich stochere mit der Gabel in den Scampis herum. Ich mag die nicht mehr aufessen. Karin hat ziemlich blaue Augen. Ob das gefärbte Kontaktlinsen sind?

Jetzt erzählt sie von Gaultier und daß der nichts mehr auf die Reihe kriegt, designmäßig, und daß sie Christian Lacroix viel besser findet, weil der so unglaubliche Farben verwendet oder so ähnlich. Ich hör nicht genau zu.

Andauernd ruft jemand von Gosch über das Mikrophon irgendwelche bestellten Muschelgerichte aus und das lenkt mich immer wieder ab, weil ich mir vorstelle, daß eine der Muscheln verseucht ist und heute nacht irgendein chablistrinkender Prolet ganz schlimme Bauchschmerzen kriegt und ins Krankenhaus gebracht werden muß mit Verdacht auf Salmonellen oder irgendsowas. Ich muß grinsen, wie ich mir das vorstelle, und Karin denkt, ich grinse über den Witz, den sie gerade erzählt hat und grinst zurück, obwohl ich, wie gesagt, gar nicht zugehört hab.

 

Ich zünde mir eine Zigarette an, und während Karin weitererzählt, beobachte ich, wie ein schwarzer Windhund mit einem Halsband, auf das so winzige goldene Kühe geklebt sind, eine große Kackwurst neben einen Tisch setzt. Der Hund kackt komischerweise halb im Stehen, und ich kann genau erkennen, wie ein Viertel der Wurst an seinem Hintern klebenbleibt.

Ich muß schon wieder grinsen, obwohl mir jetzt richtig schlecht ist, weil ja auch die Scampis irgendwie komisch geschmeckt haben, und ich unterbreche Karin und frage sie, ob wir nicht ins Odin fahren wollen, nach Kampen. Sie sagt ja, und ich trinke mein Bier aus, obwohl mir Jever eigentlich gar nicht schmeckt, und wir laufen zu ihrem Auto, da ich gerade keine Lust habe, in meinem engen Triumph zu sitzen.

Sie schließt ihren Wagen auf, und wir steigen ein, und es riecht innen noch ganz neu, nach Leder. Ich werfe meine Zigarette aus dem Fenster, während Karin losfährt, weil ich diesen neuen Geruch nicht zerstören mag und weil sie nicht raucht. Sie legt eine Kassette ein, und während ein ganz schlechtes Lied von Snap aus den Boxen kommt, überholt sie einen Golf, in dem ein ziemlich hübsches Mädchen sitzt. Ich setze meine Sonnenbrille auf, und Karin erzählt irgend etwas, und ich sehe aus dem Fenster.

Links und rechts der Straße rast Sylt an uns vorbei, und ich denke: Sylt ist eigentlich super schön. Der Himmel ist ganz groß, und ich habe so ein Gefühl, als ob ich die Insel genau kenne. Ich meine, ich kenne das, was unter der Insel liegt oder dahinter, ich weiß jetzt nicht, ob ich mich da richtig ausgedrückt habe. Ich kann mich natürlich auch täuschen.

Kurz vor Kampen biegt Karin plötzlich rechts ab, auf den Parkplatz von Buhne 16, dem Nacktbadestrand, und ich denke, Moment mal, was kommt denn jetzt? Wir parken direkt zwischen einem Porsche und so einem blöden Geländewagen und steigen aus, und weil ich Karin durch meine Sonnenbrille etwas fragend ansehe, merkt sie, daß ich eben im Auto nicht zugehört hab. Sie lacht wieder auf ihre hübsche Art und erklärt mir, wir müßten vorher noch Sergio und Anne abholen, die gerade am Strand sitzen und daß die beiden extra vorhin mit dem Mobiltelefon angerufen hätten, bei ihr im Mercedes, meine ich.

Wir steigen aus, und ich denke daran, daß das Mobiltelefon sicher ziemlich versaut wird, dort am Strand, wegen dem Sand und dem Salzwasser. Karin drückt dem Parkwächter ein paar Mark in die Hand, und wir laufen auf dem Holzsteg durch die Dünen zum Strand. Während wir auf den verwitterten Holzbohlen laufen, redet Karin vom Schumanns in München und wie sie da neulich Maxim Biller kennengelernt hat und daß der so blitzgescheit gewesen ist und sie ein klein wenig Angst vor ihm gehabt hat.

Ab da höre ich nicht mehr zu, weil mir plötzlich dieser Geruch der Holzbohlen und des Meeres in die Nase steigt, und ich denke daran, wie ich als kleines Kind immer hierher gekommen bin, und beim ersten Tag auf Sylt war das immer der schönste Geruch: wenn man das Meer lange nicht gesehen hatte und sich riesig darauf freute und die Holzbohlen durch die Sonnenstrahlen so einen warmen Duft ausgeströmt haben. Das war ein freundlicher Geruch, irgendwie verheißungsvoll und, na ja, warm. Jetzt riecht es wieder so, und ich merke, wie ich fast ein bißchen heulen muß, also zünde ich mir schnell eine Zigarette an und fahre mir mit dem Ärmel meines Barbours über die Stirn.

Ziemlich peinlich, das Ganze, aber Karin hat davon nichts mitbekommen, außerdem ist sie gerade mit dem Strandwächter beschäftigt, der die Kurkarten von den blöden Rentnern sehen will, die hier an den Strand wollen. Karin gibt dem Mann für uns beide zwölf Mark für eine Tageskarte, und ich will mich bei ihr bedanken, lasse es dann aber sein.

Die Sonne fängt an, vom Himmel zu stechen, und mir wird heiß und Karin offenbar auch, weil sie ihren Barbour auszieht und ihren Pullover auch. Der Pullover ist wirklich hübsch. Darunter trägt sie nur einen Body, und ich sehe, daß sie ziemlich große, feste Brüste hat, und ich merke, daß sie weiß, daß ich das sehe. Ihre Nippel stehen ein bißchen vor wegen dem Wind, der immer noch ziemlich kühl ist, obwohl die Sonne so sticht.

Ich ziehe mir auch die Barbourjacke aus und das Jackett, und krempele mir die Hemdsärmel hoch. Gut, daß ich die Sonnenbrille dabei hab, denke ich. Der Seewind wirbelt meine zurückgegelten Haare nach vorne. Ich habe nämlich vorne ziemlich lange hellbraune Haare, und wenn ich mir sie runterziehe, dann gehen sie mir übers Kinn. In dem Moment fällt mir ein, daß ich in der Innentasche der Barbourjacke noch ein bißchen Haargel haben muß, und ich überlege, wann ich das Zeug benutzen könnte, ohne daß es gleich peinlich aussieht.

Wir sind jetzt fast am Strand. Links und rechts sind die Dünen, und überall weht dieses Heidegras und der Strandhafer. Das sieht fast so aus wie Wellen an Land. Über uns kreischen Seemöwen, und ich denke daran, daß Göring, der hier auf Sylt Ferien machte, einmal seinen Blut-und-Ehre-Dolch hier verloren hat, mitten in den Dünen. Es gab eine riesige Suchaktion und eine hohe Belohnung für den Finder, und schließlich wurde der Dolch gefunden, von einem gewissen Boy Larsen oder so, einem Jungbauern. Das hieß damals so. Alle haben sich über den dicken Göring totgelacht, wie der beim Pinkeln in den Dünen seinen blöden Dolch verloren hat, nur der Boy Larsen nicht, weil der die Belohnung eingesackt hat. Erst danach hat er, glaube ich, herzlich gelacht.

Ich denke an den Namen Boy und daran, daß nur hier oben auf Sylt die Menschen so heißen, als ob das gar nicht mehr Deutschland wäre, sondern so ein Mittelding zwischen Deutschland und England. Hier auf Sylt stand die Flak, sozusagen auf vorgeschobenem Posten, und die Engländer waren lange hier stationiert nach dem Krieg, und als kleiner Junge habe ich in den letzten deutschen Bunkern gespielt, bei Westerland. Inzwischen hat man sie, glaube ich, gesprengt.

 

Da vorne, am Strand, in einem blau-weiß gestreiften Strandkorb, sitzen Sergio und Anne. Ich sehe die beiden sofort, weil ich Anne erkenne. Ich hab einmal im P 1 versucht, sie aufzureißen, und das ist damals ziemlich in die Hose gegangen, da ich betrunken war und kotzen mußte, und als ich vom Klo zurückkam, war sie verschwunden. Jedenfalls glaube ich, daß es so war. Karin und ich steuern auf den Strandkorb zu. Wir sagen hallo, aber Anne erkennt mich nicht, oder sie tut so, als ob sie mich nicht erkennen würde. Die beiden haben zwei Flaschen Champagner dabei und bieten uns zwei Plastikbecher an. Karin redet mit Anne, also fange ich mit Sergio ein Gespräch an. Sergio, das ist so einer, der immer rosa Ralph-Lauren-Hemden tragen muß und...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1979 • Alkohol • Bildungsroman • Christian Kracht • Debüt • Deutschland • die Toten • Drogen • eurotrash • Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten • Identitätsfindung • Imperium • New Wave • Vorgeschichte zu Eurotrash
ISBN-10 3-462-30146-2 / 3462301462
ISBN-13 978-3-462-30146-5 / 9783462301465
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