Sag immer Deine Wahrheit (eBook)

Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben
eBook Download: EPUB
2020
160 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-27011-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sag immer Deine Wahrheit - Benjamin Ferencz
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Benjamin Ferencz blickt auf 100 Jahre eines bemerkenswerten Lebens zurück. Unermüdlich hat er sich für eine gerechte und friedliche Welt eingesetzt. Dieses Ziel, das er als Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen bis zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs mit nie nachlassendem Engagement verfolgte, lässt ihn bis heute nicht ruhen. Der Sohn armer Migranten in den USA wurde als US-Soldat im Zweiten Weltkrieg und Ermittler im besiegten Nazideutschland Zeuge des Unsagbaren, das Menschen einander anzutun in der Lage sind. Dennoch verlor er nie den Glauben an die Befähigung des Menschen zum Guten. Sein Optimismus und sein Scharfsinn, seine Dankbarkeit und Demut beim Blick auf ein erfülltes Leben, seine tiefe Überzeugung, im Kampf für eine menschenwürdige Welt das Richtige zu tun, seine Energie und sein Humor: Ben Ferencz hat viel weiterzugeben in dieser zutiefst persönlich erzählten Autobiographie.

Benjamin Ferencz wurde 1920 in Transsilvanien geboren und emigrierte mit seiner Familie in die USA. Er schloss sein Jura-Studium in Harvard ab und landete 1944 als Soldat mit den alliierten Truppen in der Normandie. In der Folge ermittelte er hinter den Frontlinien und in den befreiten Konzentrationslagern wegen Kriegsverbrechen. Ferencz war einer der Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen 1946, leitete Bemühungen um die Rückgabe gestohlenen Eigentums an Holocaust-Überlebende und nahm an den Reparationsverhandlungen zwischen der BRD und dem Staat Israel teil. An der Etablierung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag war er maßgeblich beteiligt. Er hat vier Kinder mit seiner 2019 verstorbenen Ehefrau Gertrude, die beiden waren über 80 Jahre ein Paar. Im März 2020 wurde Benjamin Ferencz 100 Jahre alt.

Einleitung

Ich frage Ben Ferencz oft, warum er so gut gelaunt ist.

»Wer innerlich weint, sollte nach außen besser lachen, Mädel. Es bringt ja nichts, in einem See aus Tränen zu ertrinken«, lautet seine Antwort.

Geschichte war für mich etwas gewesen, auf das man nur in Büchern und den schwarz-weißen Filmausschnitten trifft, die in der Schule gezeigt werden. Die alten Bilder von Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau scheinen weit von unserem heutigen Alltag entfernt zu sein. Aber die Menschen, die aktiv dafür gesorgt haben, dass die Welt in ihrer heutigen Form existiert, sind nicht immer illustre Gestalten aus einer längst vergangenen Zeit, bevor das Gute über das Böse triumphierte.

Ich entdeckte Ben durch puren Zufall. Als ich eines Abends durch die amerikanischen Nachrichtenkanäle zappte, blieb ich an einem Bericht über ihn hängen. Ich schrieb damals für den Guardian in London, und Bens Worte weckten mein Interesse. Als ich seinen Namen recherchierte, stellte ich überrascht fest, was für ein bedeutender Mann er war und über welchen großen Erfahrungsschatz er verfügte.

In einem Video, aufgenommen im Hauptverhandlungssaal des teilweise wiederaufgebauten Justizpalasts in Nürnberg – der Stadt, in der die Nazis einst ihre Reichsparteitage abhielten – , sah ich, wie Ben, ein wortgewandter und entschlossener Siebenundzwanzigjähriger, dessen geringe Körpergröße durch ein großes Holzpult verdeckt wurde, als Chefankläger den größten Mordprozess der Geschichte eröffnete. Die zweiundzwanzig Mitglieder der Einsatzgruppen, der Nazi-Vernichtungstruppen, die für den Tod von mehr als einer Million Juden und Angehörigen anderer Minderheiten verantwortlich waren, starrten ihn von der Anklagebank aus an.

Ich bin mir nicht sicher, warum mich dieser Anblick so berührte, aber ich verspürte ein plötzliches Bedürfnis, zum Telefon zu greifen und diesen Mann anzurufen. Vielleicht lag es daran, dass ich genauso alt war wie er während des Prozesses vor mehr als siebzig Jahren. Vielleicht lag es an der aktuellen Nachrichtenlage. Das Votum der Briten, aus der EU auszutreten, die Wahl eines Reality-TV-Stars zum fünfundvierzigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten, die Bürgerkriege im Nahen Osten – überall schien die weltweite Nachkriegsordnung rasant in sich zusammenzufallen. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass ich gerade eine schlimme Trennung hinter mir hatte und jemanden brauchte, der mir in Erinnerung rief, wie unbedeutend mein privates Drama angesichts tief greifender Probleme wie Krieg und Terror war.

Also nahm ich Kontakt zu Ben auf und erhielt einen Termin für ein Telefongespräch mit ihm. Ich muss zugeben, dass ich einen ernsten, schwermütigen Menschen erwartete. Doch das Erste, was mir auffiel, war seine mitfühlende und charmante Art. Auch im hundertersten Lebensjahr hat er nichts von seinem geistreichen Scharfsinn eingebüßt, und trotz der Schrecken, die er erlebt hat, ist er immer zu Scherzen aufgelegt.

Innerhalb von Minuten war klar, dass er über die Gabe verfügt, Menschen zu inspirieren. Aus unserem Gespräch wurde ein Interview, das im Feuilleton des Guardian erschien. Der Artikel zog mehr Aufmerksamkeit auf sich als alles andere, was wir an jenem Tag herausbrachten, und die Leute lasen ihn am Stück bis zum Ende durch, was in heutigen Zeiten sehr ungewöhnlich ist. Ich habe in fünf Jahren als Journalistin nie positivere Rückmeldungen auf eine Geschichte erhalten. Leser aller Altersgruppen aus der ganzen Welt meldeten sich bei mir, um mir mitzuteilen, wie sehr Bens Worte sie berührt hatten.

Die folgenden Kapitel sind das Ergebnis einer Reihe von Gesprächen, die ich über mehrere Monate hinweg mit Ben geführt habe. Ich könnte behaupten, dass ich mich weiterhin mit ihm unterhalten habe, damit mehr Menschen in den Genuss dessen kommen, was er zu sagen hat. Das trifft auch zu, doch auf einer tieferen Ebene blieb ich aus rein egoistischen Gründen mit Ben in Kontakt: Er ist ein überaus einnehmender und unterhaltsamer Mensch und gibt wirklich gute Ratschläge.

»Ich bin heute traurig, Benny«, sage ich manchmal.

»Meine Liebe«, antwortet er dann, »was auch immer der Grund ist, ich bin mir sicher, dass du schon Schlimmeres überstanden hast.«

Ben ist unheimlich gut darin, sich an genaue Details und Anekdoten aus früheren Zeiten zu erinnern, sei es der volle Name von Menschen, die er getroffen hat, oder das Wetter an einem bestimmten Tag. Als ich ihm vorschlug, die Gespräche zu führen, aus denen letztendlich dieses Buch entstehen sollte, reagierte er zunächst zurückhaltend. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel ich zu tun habe«, sagte er. »Ich bin so beschäftigt, dass ich keine Zeit habe, um herauszufinden, warum ich so bin, wie ich bin; ich habe ja nicht einmal Zeit, um zu sterben.« So ging es eine Zeit lang hin und her – er beharrte darauf, dass sein Terminplan voll sei, ich darauf, dass das Ganze nicht viel Zeit in Anspruch nehmen würde. »Meine Liebe«, meinte er nach einer Dreiviertelstunde trocken zu mir, »so bringst du deinen Protagonisten noch ins Grab.«

Am allermeisten hat mich im Verlauf unserer gemeinsamen Zeit fasziniert, wie viel Ben und ich gemeinsam haben, obwohl ein Ozean und sieben Jahrzehnte zwischen uns liegen. Wir sind beide in sehr jungen Jahren in ein neues Land gekommen und in einer rauen Umgebung aufgewachsen, gefangen zwischen den Kulturen und den Kontinenten. Wir haben uns Sprachen durch Freundschaften und untertitelte Filme beigebracht. Wir waren lernbegierig, aber unfähig, uns an Regeln und Vorschriften zu halten. Wir waren die Ersten in unserem engeren Familienkreis, die auf die Universität gingen, wo wir schnell feststellten, dass wir mehr Zeit und Mühe aufbringen mussten als andere, um nicht den Anschluss zu verlieren. Wir studierten beide Jura, schwammen gern und verloren niemals den Humor. Wir haben sogar am gleichen Tag Geburtstag, auch wenn Ben mich jedes Mal, wenn ich ihn daran erinnere, warnt: »Komm nicht auf die Idee, etwas Blödes zu veranstalten und mir damit den Tag zu ruinieren, Kind.«

Auf den Bildern zum Artikel im Guardian trägt Ben blaue Shorts und Hosenträger, ein fröhlicher Mann in einer Wohnanlage in Delray Beach, Florida. Er hat die Hände in die Hüfte gestützt und schaut durch seine Brille in die Kamera, ein Lächeln auf den Lippen und die Sonne hinter dem Kopf. Auf einen unbeteiligten Betrachter wirkt er wie der nette alte Mann von nebenan, der Großvater, den man gerne am Wochenende und in den Ferien besucht. In seinem Garten hört man oft Enten quaken.

Doch Ben ist in keiner Hinsicht gewöhnlich. Fatou Bensouda, die Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof, hat ihn als »Ikone der internationalen Strafgerichtsbarkeit« bezeichnet; Alan Dershowitz, ein angesehener Anwalt und Verfechter der bürgerlichen Freiheit, der O. J. Simpson und Donald Trump verteidigt hat, nannte ihn die »Verkörperung des internationalen Weltverbesserers«, und Barry Avrich, der Regisseur der Netflix-Dokumentation Prosecuting Evil über Bens juristische Erfolge, in der alle Genannten auftreten, betrachtet ihn als eine der symbolträchtigsten Personen unserer Zeit.

Die folgenden Kapitel decken nur einen Teil dessen ab, was Ben im Verlauf seines bemerkenswerten Lebens alles gelernt hat, aber ich will versuchen, seine Geschichte hier zusammenzufassen. Er ist Träger von fünf Battle Stars – Verdienstauszeichnungen des US-Verteidigungsministeriums – , da er im Zweiten Weltkrieg sämtliche großen Schlachten in Europa miterlebt und überlebt hat. Er war bei der Landung in der Normandie dabei, beim Durchbruch durch die Maginot-Linie und den Westwall der deutschen Verteidigung, er hat den Rhein über die Brücke von Remagen überquert und war an der Abwehr der Ardennenoffensive in Bastogne beteiligt.

Nach seiner Versetzung in das Hauptquartier von General Pattons dritter Armee im Jahr 1944 erhielt Ben die Aufgabe, eine neue Abteilung zur Verfolgung von Kriegsverbrechen aufzubauen. Er war bei der oder kurz nach der Befreiung mehrerer Konzentrationslager vor Ort, darunter Buchenwald, Mauthausen, Flossenbürg und Ebensee, um Beweise für die Verbrechen der Nazis zu sichern – Beweise, die sich vor Gericht verwenden lassen würden. Ben grub oberflächlich verscharrte Leichen aus, manchmal mit bloßen Händen. Und er sah Szenen des absoluten Grauens, die ihn bis heute verfolgen.

Als sich die USA in die Wirren des Vietnamkriegs verstrickten, beschloss Ben, aus seiner Kanzlei auszusteigen und sich für den Frieden einzusetzen. Er schrieb in den folgenden Jahren mehrere Bücher, in denen er seine Ideen für eine internationale juristische Instanz darlegte und die entscheidend zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag beitrugen. Außerdem setzte er sich dafür ein, Holocaust-Überlebenden ihren Besitz zurückzuerstatten, und war an den Verhandlungen über das Wiedergutmachungsabkommen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland beteiligt.

Bens Karriere umspannt mehr als siebzig Jahre; er hat mehr erlebt als die meisten Menschen. Seine Geschichte ist eine klassische Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Erzählung. Er wurde in eine jüdische Familie in Transsilvanien hineingeboren und zog schon im Alter von neun Monaten mit seinen Eltern und Geschwistern nach Hell’s Kitchen in New York. Dort arbeitete er später hart daran, der Armut zu entkommen, bis er dank eines Stipendiums ein...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2020
Übersetzer Elisabeth Schmalen
Zusatzinfo 9 s/w Abbildungen im Text
Sprache deutsch
Original-Titel Parting Words. 9 Lessons for a Remarkable Life
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 100-jährige • außergewöhnliche Menschen • außergewöhnliches Leben • Ben Ferencz • Besonderes Buch • Besonderes Geschenkbuch • Biografie • Biographien • D-Day • Den Haag • eBooks • Einsatzgruppen • Entnazifizierung • Erfülltes Leben • Gerechtigkeit • Internationaler Strafgerichtshof • Jahrhundertzeuge • Kriegsverbrechen • Lebenssinn • Lebensweisheiten • Nationalsozialismus • Nazideutschland • Nürnberger Prozess • Nürnberger Prozesse • Überlebensbiographien • Was ist wichtig im Leben • Weltgeschichte • Zeitzeuge • Zeitzeuge Holocaust • Zeitzeugenberichte • Zeitzeugen berichten • Zeitzeugen erzählen
ISBN-10 3-641-27011-1 / 3641270111
ISBN-13 978-3-641-27011-7 / 9783641270117
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