Philosophie für Abenteurer (eBook)
192 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76625-4 (ISBN)
»Unterwegs im ewigen Eis kommst du dem Geheimnis eines guten Lebens auf die Spur. Es geht um die Konzentration auf die einfachen Freuden«, schreibt einer der größten Abenteurer unserer Zeit, auf seinem Weg zum Südpol. Ausdauer, Mut und Leidenschaft verlangt eine solche Expedition. Und es sind besondere Erfahrungen, die man dabei macht: Wie wichtig es ist, morgens früh aus dem Schlafsack zu kriechen, auch wenn das Thermometer minus 50 Grad anzeigt. Wie gut eine Handvoll Rosinen schmeckt, die im Eis eine ganze Mahlzeit ersetzen. Dass die Einsamkeit der Natur zu innerem Frieden führt.
Und wir? Haben wir in Zeiten von Corona nicht Ähnliches erlebt? Dass unser Leben in ungewohnter Einfachheit überraschend reich sein kann? Erling Kagges Philosophie für Abenteurer ist das Buch der Stunde.
<p>Erling Kagge, geboren 1963, ist ein Verleger, Autor, Jurist, Kunstsammler, Bergsteiger und Vater von drei Töchtern. Er lebt in Oslo. Der norwegische Abenteurer hat als erster in der Geschichte die »drei Pole« erreicht – den Süd- und Nordpol und den Mount Everest. Im Jahr 2017 erschien der SPIEGEL-Bestseller <em>Stille. Ein Wegweiser</em>. Seine Anleitung für angehende Kunstsammler, <em>Große Kunst für kleines Geld</em>, erschien 2019.</p>
Fürchte dich nicht vor deiner eigenen Größe
Ich habe über hundert Länder besucht und bin einer großen Zahl von Menschen begegnet, und ich habe keinen Zweifel, dass die allermeisten von uns sich selbst unterschätzen. Als würden wir uns vor unserer eigenen Größe fürchten und uns damit kleiner machen, als wir sind. Es ist nicht immer offensichtliche Angst, sondern lediglich ein Gedanke, der im Hintergrund lauert und einen Dämpfer auf alles legt. Beinahe so, als hätten wir eine kleine innere Stimme, die uns erzählt, dass es an der Zeit ist aufzugeben, dass es nicht der Mühe wert ist weiterzumachen, dass wir weit genug gekommen sind. Es ist einfach, das Interessante und Spannende zugunsten des Sicheren abzulehnen und zu vergessen, dass jeder von uns zahlreiche Möglichkeiten für neue, positive Erfahrungen hat und Dinge erreichen kann, von denen wir immer geträumt haben.
Größe ist relativ. Ein Bekannter von mir hat Angst, die Briefe mit Rechnungen zu öffnen, die mit der Post kommen. Für ihn ist es eine Leistung, sich der Welt anzupassen und die Übersicht zu behalten, um einen persönlichen Konkurs zu vermeiden. Briefumschläge zu öffnen, hat normalerweise nichts mit Stärke zu tun, für ihn aber schon. Wenn ich an Größe denke, dann meine ich das Potential jedes einzelnen Menschen. Oder die Potentiale. Im Kleinen und – bisweilen – auch im Großen.
Es gibt noch einen anderen Grund für die Furcht so vieler Menschen vor der Größe: Je mehr man zu erreichen versucht, desto wahrscheinlicher ist es, dass man einen Misserfolg riskiert. Die Angst, wie ein Idiot dazustehen, ist möglicherweise die häufigste Ursache, dass wir unsere Träume unter den Teppich kehren. Häufig haben wir das Gefühl, es sei besser, etwas nicht zu tun, als damit zu beginnen und zu scheitern. Wenn sich vor deiner Tür eine Chance zeigt, ist es leichter, die Rollläden herunterzulassen und sie zu ignorieren, als zuzugreifen und eine Niederlage zu riskieren. Ich erinnere mich noch sehr genau an einen Saunabesuch mit dem Kumpel, mit dem ich ein knappes Jahr später zum Nordpol unterwegs war, wir kamen gerade von einer Skitour. Was, fragte ich ihn, würden die Leute wohl sagen, wenn wir scheiterten? Wie würde ich wohl darauf reagieren? »Pfeif drauf!«, war seine unmittelbare Reaktion. Im ersten Moment dachte ich, er würde eine berechtigte Sorge, die mich umtrieb, ein wenig zu barsch abfertigen. Als ich jedoch darüber nachdachte, sah ich allmählich ein, dass ich mich mit solchen Sorgen ebenso gut mit der Fernbedienung aufs Sofa setzen könnte, statt zum Nordpol zu gehen.
Manchmal hat man Angst, sich von der Menge abzuheben, weil man glaubt, dies führe zu Einsamkeit. Ich habe gelesen, dass Freundschaften oft deswegen zu Ende gehen, weil der eine erfolgreicher war als der andere und sich dadurch auf eine unangenehme Weise vor dem anderen auszeichnete. Üblicherweise entscheiden sich die nicht so erfolgreichen Leute dazu, Freundschaften abkühlen zu lassen oder ganz zu beenden. Eine ähnliche Erkenntnis findet sich auf einer von Morrisseys älteren Singles: »We Hate It When Our Friends Become Successful«. Denn eigentlich will er singen: Das hätte ich sein sollen.
Es ist in Ordnung, ein bisschen besser zu sein, ein bisschen interessanter, aber nicht zu viel. Wirst du zu besonders für deine Umgebung, kann man dir das als Verrat und Selbstausgrenzung ankreiden. Ein Teil des Beitrags, den du bezahlst, um Mitglied in einer Gruppe zu sein, ist die Anpassung, und vielleicht musst du dich auch ein wenig kleiner machen, als du bist, damit sich die Menschen in deiner Umgebung sicher und geborgen fühlen können.
Wir vergessen leicht, dass es andere Möglichkeiten gibt als nur die, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind. Anfang der neunziger Jahre arbeitete ich zwei Jahre als Gerichtsreferendar bei Norsk Hydro. Kurz nach meinem Eintritt in das Unternehmen hatte ich das Gefühl, dass die ganze Firma – oder zumindest ein großer Teil – von mir abhängig war. Ich hielt meine Aufgabe für essentiell. Eine durchaus positive Haltung, aber natürlich vollkommen verrückt. Zu glauben, deine Arbeit sei so ziemlich die wichtigste, hat der britische Philosoph Bertrand Russell als »ein Symptom dafür, dass du dabei bist, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen«, bezeichnet. Gleichzeitig spürte ich immer wieder, dass ich von meinem Arbeitgeber abhängig war. Ähnlich wie viele Kollegen erlebte ich meinen Arbeitsplatz als Nabel der Welt. Ich war dabei, mich selbst zu betrügen, und vergaß, dass ich auch eine andere Richtung wählen konnte. Hat man einmal eine aussichtsreiche Karriere als Gesellschaftsrechtler begonnen, kann man davon ausgehen, dass man sich immer mit Gesellschaftsrecht beschäftigen wird. Es endete damit, dass ich kündigte und beschloss, zum Südpol zu gehen. Im darauffolgenden Jahr ging es meinem Arbeitgeber besser als je zuvor.
Es fällt uns so leicht, die falschen Götter zu verehren. Ich glaube, den meisten von uns täte es gut, zwischendurch zumindest über die Alternativen zu all dem Eingefahrenen und Festgeklopften nachzudenken, zu dem die Karrierejagd uns geführt hat. Und wenn wir herausfinden, dass der Weg, den wir gewählt haben, der richtige für uns ist, können wir sagen, wir haben diesen Weg gewählt und nicht umgekehrt. Es könnte aber auch sein, dass wir neue Möglichkeiten entdecken, die sonst an uns vorbeigegangen wären.
Als Fünfzehnjähriger fuhr ich mit dem Fahrrad von Oslo nach Strömstad in Schweden, um ein Mädchen zu besuchen, in das ich verliebt war. Die Strecke ist ungefähr hundertdreißig Kilometer lang, ich brauchte den halben Tag. Dann stand ich vor ihrem Haus – ich erinnere mich noch immer an ihre Adresse, Tallstigen 4 – und zögerte, da mir plötzlich klar wurde, dass ich ebenso gut wieder nach Hause fahren könnte. Klingel nicht. Dieses Gefühl überraschte mich ein wenig. Schließlich war sie nicht weniger hübsch als in dem Moment, in dem ich beschloss, zu ihr zu fahren und sie zu besuchen. Jetzt, da ich endlich am Ziel war, verlor ich ganz einfach die Lust, es zu Ende zu bringen. Nicht weil ich das Gefühl hatte, dass der Weg das Wichtigste war, sondern weil ich nicht wagte, das nächste Kapitel aufzuschlagen. Seither habe ich ein ähnliches Verhalten auch bei anderen Menschen gesehen. Ein Freund bekam endlich die Stellung und das Gehalt, das er angestrebt hatte, die Chancen für eine steile Karriere waren groß. Doch anstatt die letzte Distanz in Angriff zu nehmen, pfiff er drauf. Er konnte oder wollte nicht mehr.
In dem italienischen Film Cinema Paradiso erzählt Alfredo, ein älterer Mann, die Geschichte von einem Soldaten, der sich in eine Prinzessin verliebt. Der Soldat hatte begriffen, dass ein Mann seines Standes chancenlos war, er gab aber dennoch nicht auf. Eines Tages sagte die Prinzessin zu ihm, wenn er hundert Tage und Nächte vor ihrem Fenster stehen würde, dann würde sie ihn heiraten. Der Soldat stellte sich vor ihr Haus. Die Tage und Wochen vergingen. Er trotzte Regen, Wind, Schnee und Kälte. Am neunzigsten Tag konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten, die Tränen liefen ihm über die Wangen, aber er gab nicht auf. Am neunundneunzigsten Tag, als er seine Geliebte beinahe schon gewonnen hatte, gab er auf. Ohne größeres Aufheben verließ er seinen Platz. Ich habe den Film zusammen mit einer Freundin gesehen. Sie meinte, er hätte aufgegeben, weil er nicht mit der Demütigung hätte leben können, die er durch die Prinzessin erlitten hatte. Ein Freund, der Psychiater ist, glaubte, er hätte seinen Platz verlassen, weil er schließlich wusste, dass er das Ziel erreichen konnte. Vielleicht hat er recht, aber ich denke, er verließ den Platz nach rund zweitausenddreihundert Stunden, weil er nicht auf die Liebe zu setzen wagte – das größte aller Gefühle –, als das Leben mit der Prinzessin nicht länger ein fernes Ziel war. Er gab eine unsichere Zukunft für etwas Vorhersehbares auf. »Die Prinzessin und das halbe Königreich« zu gewinnen – wie es im Märchen heißt –, muss nicht unbedingt der Beginn einer wunderbaren Geschichte sein. Es gibt keine Automatik, dass man »bis ans Ende seiner Tage glücklich« ist. Vielleicht beginnen dann erst die wirklichen Probleme, deshalb enden die Märchen auch genau an dieser Stelle.
Die eigene Größe nicht zu fürchten, hat den Vorteil, dass du aufhören kannst, dich auch bei anderen nicht davor zu fürchten. »Das...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2020 |
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Übersetzer | Ulrich Sonnenberg |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Alt jeg ikk laerte på skolen. Filosofi for eventyrere |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 50plus • Abenteuer • Abenteuer des täglichen Lebens • Abenteuer leben • Abenteuerlust • Achtsamkeit • auf der Suche nach sich selbst • Best Ager • Bewusstsein • Einfaches Leben • Einsamkeit • Entschleunigung • Erfahrungsbericht • Erfolgreiches Leben • ewiges eis • Expedition • Gehen. Weiter gehen • Generation Gold • Geschenkbuch für Männer • Geschenkbuch für Väter • Glück • Golden Ager • Große Kunst für kleines Geld • innerer Friede • insel taschenbuch 4858 • IT 4858 • IT4858 • ITB BuchAward 2018 • Lebenserfahrung • Lebensphilosophie • Lebensweisheit • Leichtes Gepäck • Leidenschaft • Moderne Abenteurer • Mut • Persönliche Verwandlung • Philosophie • Potential • Psychologie • Reise zum Nordpol • reise zum südpol • Reise zu sich selbst • Rentner • Rentnerdasein • Risikofreude • Ruhestand • Selbsthilfe • Senioren • Sinn des Lebens • Sinnsuche • Stille • Unterwegs sein • Wagemut |
ISBN-10 | 3-458-76625-1 / 3458766251 |
ISBN-13 | 978-3-458-76625-4 / 9783458766254 |
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