Verhängnis (eBook)

Roman

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
448 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43773-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verhängnis -  Janet Lewis
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»Ein großartiges Porträt Frankreichs zur Zeit des Sonnenkönigs in all seiner Pracht und in all seinen Schwächen.« >Times Literary Supplement< In den Gassen von Paris geht ein Pamphlet von Hand zu Hand: Es diffamiert Ludwig XIV. und seine Mätressenwirtschaft. Der Sonnenkönig tobt und verlangt, den Urheber unverzüglich dingfest zu machen. Als das Flugblatt dem jungen Buchbinder Paul in die Finger kommt, schmiedet er zusammen mit seiner Geliebten Marianne, der Frau seines Meisters, einen perfiden Plan: Sie wollen dem Meister die skandalöse Schrift unterschieben und ihn an die Polizei verraten - und dann wie das Staatsoberhaupt frei in Lust und Laster leben. Aber Paul und Marianne ahnen nicht, welche fatalen Folgen ihre Intrige haben wird.

Janet Lewis (1899-1998) lebte zumeist in Kalifornien mit ihrem Mann, dem Dichter Yvor Winters. Neben Lyrik schrieb sie vier Romane, darunter eine viel beachtete Trilogie um berühmte historische Justizfälle. Lewis war ihr Leben lang vehemente Kriegsgegnerin und Fürsprecherin der indigenen und schwarzen Bevölkerung.

Janet Lewis (1899-1998) lebte zumeist in Kalifornien mit ihrem Mann, dem Dichter Yvor Winters. Neben Lyrik schrieb sie vier Romane, darunter eine viel beachtete Trilogie um berühmte historische Justizfälle. Lewis war ihr Leben lang vehemente Kriegsgegnerin und Fürsprecherin der indigenen und schwarzen Bevölkerung.

1


Der Buchbinder Jean Larcher saß mit seiner Frau und seinem Sohn beim Abendessen. Es war Ostersonntag, der in diesem Jahr des Herrn, dem Jahr 1694, und dem einundfünfzigsten Jahr der Herrschaft Louis’ XIV., auf den elften April fiel. Sie saßen an dem mit weißem Leinen gedeckten Tisch in einem der vier Zimmer, die Larcher in der Rue des Lions in Paris mietete, in einem Haus, das selbst damals schon alt war. Das Zimmer, das als Küche, Wohnzimmer und Verkaufsraum diente, war sehr klein. Trotz des Steinfußbodens und des riesigen altmodischen Kamins hatte es eine gewisse Eleganz, die Eleganz der vergangenen Generation. Die Proportionen waren gut.

Vor dem Fenster, dessen Läden noch nicht geschlossen waren, schwand langsam das Zwielicht aus dem bewölkten Frühlingshimmel. In der Küche wurde es unmerklich dunkler, während die Familie Larcher das Brot brach und ihre Suppe aß. Als Jean den Löffel neben die leere Schüssel legte und sich auf seinem Stuhl zurücklehnte, stellte er überrascht fest, dass die Gesichter der anderen, obwohl ganz nah, nur noch undeutlich zu erkennen waren. In den Ecken der Küche war es schon dunkel. Selbst die Kohlenglut im Kamin leuchtete nur noch mattrot. Aber durch das vergitterte Fenster sah er die Straße, im Gegensatz zum Zimmer, in hellem Licht, was ihm bewusst machte, dass die Tage länger wurden, und das stärkte seine Zuversicht: Der Frühling hielt Einzug, der Winter lag hinter ihnen.

Der Winter war schwieriger gewesen als sonst, mit Entbehrungen und Missständen weit über das normale Maß hinaus. Bei der bitteren Kälte war die Seine zugefroren. Die Stadt, die über den Fluss versorgt wurde, musste tagelang in einer Art Belagerungszustand ausharren, und die noch größere Knappheit zu einer Zeit, als schon lange Mangel an Getreide und Brot herrschte, brachte immenses Leid über die Bevölkerung. Mit dem einsetzenden Tauwetter wurden die Boote und Kähne von den aufbrechenden Eismassen zusammengeschoben oder von der Gewalt des plötzlich frei strömenden Wassers gegen die Brückenpfeiler gedrückt, worauf sie zerbarsten und sanken. Jean Larcher hatte diese Verwüstung mit eigenen Augen gesehen. Die Rue des Lions lag in der Nähe des Flusses. Den ganzen Winter über waren obdachlose, kranke und hungernde Menschen durch die Straßen gezogen. Wo immer auf den Märkten Brot verkauft wurde, hatte es Schlägereien gegeben; und obwohl die Reichen weiterhin uneingeschränkt im Wohlstand lebten und anlässlich der Verheiratung ihrer Töchter große Gelage und Feste veranstalteten, ging es Geschäften wie dem seinen nicht gut. Der König führte Sparmaßnahmen ein, Sparmaßnahmen waren üblich geworden, wenn schon nicht bei Hochzeiten, so doch bei gut gebundenen Büchern. Jetzt aber war der Winter vorbei, und die Familie Larcher hatte ihn überstanden.

Sie hatte ihn sogar mit einem kleinen Gewinn überstanden und ein »Osterei« zurücklegen können. Die Familie war zur Beichte und zur heiligen Kommunion gegangen und hatte an diesem Ehrentag überdies gut gegessen. Auf dem Tisch lag eine weiße Leinendecke, es hatte Weißbrot gegeben, Suppenhuhn mit Lauch und zum Nachtisch Walnüsse mit Rosinen.

Jean Larcher war ein frommer Mann. Im Frühling hielt er so gewissenhaft und pflichtbewusst die Fastenzeit ein, wie er übers Jahr seine Geschäftsbücher führte, und wenn er das Gefühl hatte, dass alles in Ordnung war, genoss er bei aller Gottesfurcht eine stille Zufriedenheit. Er war von kräftiger Statur mit breiten Schultern und einem Gesicht, das eher kantig war als rund und einfache, aber angenehme Züge hatte; sein Haar wurde an den Schläfen schon grau, und um den Mund lagen ein paar deutliche Falten. Er füllte den Armlehnstuhl ganz aus. Was den Gewinn aus seinem Geschäft anging, der steckte in Form von zwei Pistolen in den tiefen Taschen seiner langen Wollweste. Von Zeit zu Zeit vergewisserte er sich mit den Fingerspitzen, dass sie noch da waren.

Ihm gegenüber saß seine Frau, sie hatte beide Unterarme auf den Tisch gelegt und den mit einer weißen Leinenhaube bedeckten Kopf geneigt. Um sich zu wärmen, hatte sie die Ellbogen mit den Händen umfasst und drückte die Unterarme an die Brust. Die üppigen Rüschen ihrer Sonntagsbluse fielen ihr über die Hände wie ein Muff, und das Weiß von Haube und Ärmeln war deutlicher zu sehen als ihr Gesicht. Die fächerförmigen Rüschen der Haube wippten bei jeder Kopfbewegung.

Jean brauchte das Gesicht seiner Frau nicht zu sehen, er kannte ihre Züge: das runde Kinn, die grauen Augen mit den schweren Lidern und den dichten Wimpern, den Mund, der immer schon, seit ihrer ersten Begegnung, zartrosa aus der gleichmäßigen Blässe ihres Gesichts hervortrat. Er kannte das Gesicht auch von der Berührung her, fest und kühl. Die glatte Haut war von keiner Krankheit entstellt.

Das Gesicht seines Sohnes, der näher bei ihm saß, war im Zwielicht klarer zu erkennen, aber schwieriger zu deuten. Er kannte dessen Maske sehr gut, mit Zügen, die seinen eigenen glichen, die junge, flaumige Haut, die Pockennarbe, eine einzige, zwischen den dichten, glatten Augenbrauen – er wusste, dass sie da war, obwohl er sie nicht sehen konnte. Er wusste es, denn er hatte viele Stunden am Bett des kleinen, fiebrigen Jungen gesessen und dessen Hände gehalten, um zu verhindern, dass er sich kratzte. Aber was hinter dieser Maske vor sich ging, welche brennenden Ideen den jungen Mann zu Taten drängten, die sein Vater missbilligte, darüber wusste er weniger gut Bescheid. Der Junge kam ihm beinah wie ein Fremder vor. Wann es zu dieser Veränderung gekommen war, konnte er nicht sagen, aber er hatte sie verständlicherweise an dem Tag bemerkt, als der Junge aus der Lehre nach Hause kam. Seitdem arbeitete Nicolas als geprüfter Geselle im Geschäft seines Vaters, jedoch ohne die Zufriedenheit, die sein Vater sich erhofft hatte. Jean hatte seinen Sohn in einer der besten Werkstätten der Stadt in die Lehre gegeben, nicht nur, damit der Junge ein besserer Handwerker würde als sein Vater, sondern auch, damit er unter strengerer Aufsicht lernte, als sein Vater sie aufgrund väterlicher Zuneigung üben konnte. Dem Jungen hatte er den zweiten Grund nie erklärt, noch hatte er zu seiner Frau davon gesprochen – ihm widerstrebte es, diese Schwäche einzugestehen.

Der Junge war im Begriff, eine Walnuss zu knacken, und zog die Stirn kraus. Sein Vater sah es und wusste, dass es nichts mit der Nuss zu tun hatte. Wieder spürte er das Unbehagen, das ihn in letzter Zeit seinem Sohn gegenüber oft befiel, und um es zu vertreiben, sagte er nach einem tiefen Luftholen:

»Das Leben ist gut.«

Er sagte es mit fester Stimme, als würde diese Festigkeit der Aussage Wahrheit verleihen. Seine Frau hob den Blick und lächelte ihm kurz zu.

»Das Leben ist hart«, korrigierte sie ihn. »Die Suppe war gut.«

»Na ja«, stimmte er ihr zu, »die Suppe war nicht schlecht.«

»Ich gebe dir nur deine eigenen Worte zurück, Jean. Das Leben ist hart. Aber ich hätte nichts dagegen, für meine Suppe gelobt zu werden.«

»Ich lobe dich für die Suppe, Maman«, sagte Nicolas.

Marianne lächelte ihrem Sohn zu, und Jean schwieg. Er dachte, dass er sie in all den Jahren oft genug für ihre Kochkünste, ihre Sparsamkeit und ihre vielen anderen guten Eigenschaften gerühmt hatte. Es wären lauter überflüssige Worte gewesen, hätte er ihr gesagt, was sie ohnehin wusste. Stattdessen zog er jetzt die zwei Pistolen aus der Westentasche. Auf der Straße blieb ein Fußgänger vor dem Fenster stehen und betrachtete die dort ausgelegten Bücher, die Kunden in den Laden locken sollten. Der Mann ging weiter, und erst als deutlich war, dass er nicht hereinkommen würde, legte Jean die Münzen auf den Tisch, bedeckte sie aber mit den Händen.

»Was hast du da?«, fragte Marianne. »Silber?«

»Goldmünzen«, sagte Jean und nahm die Hände hoch. »Gefällt dir das?«

»Natürlich gefällt mir das.«

»Dann nimm sie«, sagte Jean. »Näh sie in die blaue Seidenrolle ein.«

»Und die Miete?«, frage Marianne.

»Ist bezahlt.«

»Und die Rechnung für Leder bei Pincourt?«

»Auch bezahlt.« Er gestattete sich ein bedächtiges Lächeln. »Es ist doch eine Freude, hin und wieder ein bisschen Geld beiseitelegen zu können.«

Nicolas entgegnete abrupt: »Es wäre auch eine Freude, es auszugeben.«

»Nicolas!«, rief seine Mutter in tadelndem Ton. Sein Vater, erstaunt und vor den Kopf gestoßen, antwortete dennoch ganz sachlich:

»Aber wir brauchen es nicht auszugeben. Bereitet es Freude, Geld auszugeben, das man nicht ausgeben muss?«

»Ja«, sagte Nicolas und fügte dann, um seiner Bemerkung die Spitze zu nehmen, was aber die Sache nur schlimmer machte, hinzu: »Wenigstens vermute ich, dass es so sein könnte. Bisher habe ich diese Erfahrung noch nicht gemacht.«

»Auf diese Erfahrung kannst du auch gut verzichten«, sagte Jean. »Eine andere Erfahrung, die du nicht kennst, ist die, Geld zu brauchen, wenn man keines hat.«

Nicolas blickte stumm in die leere Schüssel vor sich. Jean sah von seinem Sohn zu seiner Frau, die den Kopf wieder gesenkt hatte und ihre Rüschen betrachtete. Von ihr bekam er keine Hilfe. Mit seiner breiten Hand schob er – nicht sehr geschickt – ein paar verstreute Nussschalen auf dem Tischtuch zusammen und warf sie in seine Schüssel. Die beiden goldenen Pistolen lagen unberührt auf dem weißen Leinen. Er betrachtete sie und versuchte, das Gefühl der Befriedigung wieder wachzurufen, mit dem er sie dorthin gelegt hatte. In verändertem Ton sagte er:

»Nun, mein kleiner Colas, was würdest du denn mit zwei Pistolen machen?«

»Ich würde reisen. Du weißt, dass ich reisen würde.«

»Mit zwei Pistolen...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2020
Nachwort Julia Encke
Übersetzer Susanne Höbel
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Absolutismus • Egoismus • Ehebruch • Ferdinand von Schirach • Frankreich 17. Jahrhundert • Hilary Mantel • Historischer Roman • Intrige • Korruption • Leidenschaft • Louis XIV. • Maßlosigkeit • Moral • Paris • Politik • Prinzipienlosigkeit • Sonnenkönig • Strafe • Verantwortung
ISBN-10 3-423-43773-1 / 3423437731
ISBN-13 978-3-423-43773-8 / 9783423437738
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