Wilde Jahre (eBook)

Roman
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2020 | 2. Auflage
464 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43766-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wilde Jahre -  Astrid Ruppert
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»Sie wollte immer nur weg, weit weg von zu Hause.« In den ausgehenden Sechzigerjahren verlässt die junge lebenshungrige Paula Winter Hals über Kopf die enge Welt ihres hessischen Heimatdorfes. Und damit auch ihre verbittert schweigsame Mutter Charlotte. In den »Roaring Seventies« von London schlägt sie sich als Sängerin und Schauspielerin durch. Selbst als sie schwanger und vom Vater des Kindes verlassen wird, verschweigt sie ihren Eltern die Wahrheit. Nur in ihrer hochbetagten Großmutter Lisette hat Paula eine Seelenverwandte. Gegen alle Widerstände zieht sie ihre Tochter Maya alleine groß und merkt dabei nicht, dass sich das Mädchen immer mehr von ihr entfernt. Bis Maya eines Tages verkündet, ab sofort bei ihrer Großmutter Charlotte in Deutschland leben zu wollen - in dem Dorf, das Paula viele Jahre zuvor unter Protest verlassen hat.

Astrid Ruppert studierte Literaturwissenschaft und arbeitete mehrere Jahre als Fernsehredakteurin, bevor sie freie Autorin wurde. Neben ihren Romanen schreibt sie auch regelmäßig erfolgreiche Drehbücher.

Astrid Ruppert studierte Literaturwissenschaft und arbeitete mehrere Jahre als Fernsehredakteurin, bevor sie freie Autorin wurde. Neben ihren Romanen schreibt sie auch regelmäßig erfolgreiche Drehbücher.

Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast.

1949


Das Dorf lag eingebettet zwischen Weideland und Feldern, Obstwiesen und bunten Futterwiesen, in denen Margeriten und Klee blühten, bevor sie im Frühsommer gemäht wurden. Die oberhessische Landschaft war sanfter als das Rheingau, aus dem sie stammte, dafür war das Klima rauer, und auch die Menschen, die hier lebten, waren rauer. Aber vielleicht stimmte das auch gar nicht, dachte Charlotte. Vielleicht konnte man die Menschen vor dem Krieg nicht mit den Menschen nach dem Krieg vergleichen. Der Krieg hatte sie alle verändert. Auch sie war eine andere geworden. Charlotte war jetzt schon fünf Jahre hier, und inzwischen kannte sie die wiederkehrenden Gerüche der Landschaft, die sie umgab. Heute roch es nach süßem Heu, denn überall waren die Wiesen geschnitten worden. Sie waren früh hinausgefahren, um das Heu noch einmal zu wenden, bevor sie es morgen einholen würden. Der Tag versprach warm zu werden, und die Sonne schien aus einem klaren blauen Himmel auf sie herab. Das perfekte Wetter fürs Heuen.

Das Fuhrwerk ruckelte auf den unebenen Wegen, und sie hielt sich den Bauch. Fritz schaute sie besorgt an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er hatte sie morgens nicht mit hinausnehmen wollen, aber sie hatte gesagt, etwas Bewegung würde ihr guttun. Sie hatte Licht und Luft gebraucht und einen Himmel über sich.

Das Kind würde bald kommen. Ihre Schwiegermutter hatte gemurmelt, dass sie nicht da sein könnte, um ihr zu helfen, sollte das Kind auf den Wiesen geboren werden. Fritz hatte noch ängstlicher geschaut, als er sowieso schon immer schaute, aber Charlotte hatte den Kopf geschüttelt und versprochen, sich nicht zu sehr anzustrengen, sie wolle doch nur hinaus ins Freie. Das hatte ihn beruhigt. Sie konnte ihn immer beruhigen. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum ihre Schwiegermutter den Kampf gegen sie aufgegeben hatte. Weil Fritz in ihrer Gegenwart ruhiger wurde.

Als sie an der Wiese ankamen, musste Fritz ihr vom Wagen helfen. Aber dann griff sie wie die anderen auch nach einer Gabel und nahm sich eine Reihe vor. Sie arbeitete langsam, und die Heuladungen, die sie wendete, waren klein und flogen nicht so mühelos wie bei den anderen. Aber es tat gut, draußen zu sein. Immer wenn die schweren Gedanken kamen, tat es ihr gut, draußen zu sein und Arbeit zu haben. Es war das Einzige, was half. Jetzt, kurz vor der Geburt ihres Kindes, wo sie doch glücklich sein müsste und froher Erwartung, da war es besonders schwer. Doch sie versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben und sich nichts anmerken zu lassen. Es war wichtig, sich nichts anmerken zu lassen. Als ihr der Duft des Heus, der sich schon bald über der Wiese ausbreitete wie ein Teppich, in die Nase stieg, wurde alles leichter. Sie streckte sich, stützte ihre Hände ins Kreuz, und der Schmerz im Rücken ließ etwas nach. Sie atmete tief durch und sah in den Himmel, in dem weiße Wolkenschleier wie Spitze vor einem hellblauen Himmel schwebten. Die Feldlerchen schraubten sich hoch und sangen, Fliegen brummten, und der Heustaub begann auf ihren bloßen Armen zu jucken, während der Tag immer wärmer wurde.

Charlotte sah, wie die anderen schnell ihre Reihen zogen, und wie Fritz sich zu ihr umdrehte, um zu schauen, ob alles in Ordnung war. Sie nickte ihm zu, alles ist gut. Er nickte zurück, und sie musste lächeln, wie schnell er das Heu heute wendete. So als wollte er so schnell sein, dass nichts mehr für sie übrig bliebe. Das war auch schon ganz anders gewesen. Als er aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, da war sie es, die seine Ladungen für ihn gewendet hatte. Wie oft hatte er wie verloren im Feld gestanden, als ob er vergessen hatte, was er hier eigentlich sollte. Dann wieder hatte er sich wie irre über die Wiesen gearbeitet, über die Felder, durch die Ställe, wie ein Besessener, der erst aufhören konnte, wenn er fast zusammenbrach vor Erschöpfung. Den anderen hatte das bisweilen Angst gemacht, den jungen Bauer so zu sehen. Da waren sie erst froh gewesen, dass er heil aus dem Krieg zurückgekommen war. Der Körper war dürr, aber er war noch ganz. Und dann das. Das war doch nicht heil.

Sie hatte ihn verstanden. Ihr ging es genauso, sie konnte ihre Verletzungen nur besser verbergen, weil sie gut gelernt hatte, alles zu verbergen.

Mittags waren sie fertig und fuhren zurück. Als das Fuhrwerk auf den gepflasterten Hof ruckelte, spürte sie, dass es losging. Ein Krampf ließ den Bauch fest und hart werden, und der Schmerz im Rücken wurde schärfer, als würde jemand mit einer Zange hineinkneifen. Das war die erste Wehe. Heilige Margarete, steh mir bei, betete sie, und das Beten half. Bis zur nächsten Wehe, die sie mit Margaretes Hilfe gut ertragen konnte, dauerte es eine ganze Weile, und sie sagte niemandem etwas, bis der Abwasch nach dem Mittagessen erledigt war. Die Wehen kamen jetzt in kürzeren Abständen, und der Schmerz wurde spitzer. Charlotte hängte die nassen Geschirrtücher ordentlich an den Herd zum Trocknen und wandte sich zu ihrer Schwiegermutter um.

»Es dauert nicht mehr lang. Ich gehe hoch. Würdest du die Hebamme rufen?«

Ihre Schwiegermutter warf ihr einen irritierten Blick zu. »Ja, hast du denn schon Wehen?«

»Sie kommen jetzt ständig.«

Damit verließ Charlotte die Küche und ging langsam die Treppe hoch. Als sie spürte, dass die nächste Wehe anrollte, klammerte sie sich am Geländer fest, bis es vorbei war, und die heilige Margarete stützte sie, und dann ging sie weiter nach oben in ihr Schlafzimmer.

Es dauerte eine Stunde, bis die Hebamme da war, und noch eine weitere Stunde, bis das Kind da war. Wie in einem Traum zog alles an ihr vorbei, unwirklich schien es ihr, dass sie hier lag und auf Kommando den Atem anhielt und presste und wieder atmete. Sogar der Schmerz schien irgendwie in diesen Traum zu gehören. Das ist es jetzt. Jetzt bekomme ich ein Kind, sagte sie sich immer wieder. Mein Kind kommt jetzt. Aber es blieb sonderbar, sie war da und spürte den Schmerz, und gleichzeitig war sie wie in einer Trance und ganz woanders. Und als es vorbei war und die Hebamme ihr irgendwann das Kind in den Arm legte, da wurde es plötzlich Wirklichkeit.

»Es ist ein Mädchen«, sagte sie und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Das hast du gut gemacht, Charlotte, sehr gut, weißt du das?«

Charlotte spürte das kleine Gewicht in ihrem Arm und schaute in die dunklen Augen des kleinen Mädchens, in denen die Weisheit der ganzen Welt zu liegen schien. Die alles sahen, was es zu sehen gab. Sie sah den dunklen, suchenden Blick über ihr Gesicht wandern, und als das kleine Wesen den Mund verzog wie zu einem Lächeln, da löste sich etwas ganz tief in ihr. Sie begann zu weinen. Sie hielt ihre Tochter und dachte, sie müsse jetzt aufhören zu weinen, jetzt sofort, sonst würde sie nie mehr aufhören können. Nie mehr. Etwas Gewaltiges überschwemmte und schüttelte sie und ließ sie nicht los. Gleich würde sie hemmungslos schluchzen. Sie musste damit aufhören und rang nach Luft. Wenn sie tief genug atmete, würde sie aufhören können, das wusste sie, das konnte sie. Aber so tief sie auch zu atmen versuchte, es brach einfach aus ihr heraus. Dieses Weinen, das waren keine stillen Freudentränen, das Weinen schwemmte sie weg aus diesem Raum, diesem Haus und hin zu etwas, was sie für immer vergessen wollte.

Die Hebamme nahm ihr das Kind aus dem Arm und gab ihr ein Tuch, in das sie ihr Gesicht vergrub und das sie sich in den Mund stopfte, um das Schluchzen zu stoppen. Dieses Schluchzen, es musste doch aufhören … aufhören.

Wortfetzen drangen an ihr Ohr, durch das Schluchzen hindurch … Erschöpfung … so tapfer … jede Frau ist anders … Ruhe … Ruhe, ja. Ruhe. Wie gerne hätte sie Ruhe. Aber würde sie die jemals wieder finden können?

Mein Ruh ist hin, Mein Herz ist schwer; Ich finde sie nimmer und nimmermehr.

Später, als alles wieder sauber war, als sie sich frischgemacht hatte und die Kleine neben ihr schlief, kam Fritz und legte sich neben sie. Vorsichtig schlang er den Arm um sie beide.

»Wir haben eine Tochter«, flüstert er leise und legte seinen Kopf an Charlottes Schulter, und sie spürte, wie sie ruhiger wurde. Sie schloss die Augen, und sie lagen ganz still zusammen, spürten, wie sie atmeten, zu dritt, und wie ihre drei Herzen klopften. In diesem Nest war alles gut. Hier war alles gut und ruhig. Aber durfte das überhaupt sein, alles ruhig und gut?

»Wir nennen sie Helene, wie meine Mutter«, sagte Fritz.

Aber Charlotte schüttelte den Kopf. »Sie heißt Paula«, sagte sie. »Ich habe sie schon Paula genannt.«

»Aber alle Kinder werden hier nach den Großeltern benannt. Schon immer«, widersprach Fritz, und sie spürte, dass die Ruhe vorbei war. Er hatte Angst, es seiner Mutter zu sagen, es machte ihn nervös. »Und deine Mutter heißt doch auch nicht Paula. Woher kommt …?«

»Meine Tochter heißt Paula«, wiederholte sie noch einmal in einem Ton, der noch weniger Widerspruch duldete, und er verstummte.

Zur Taufe gab es zwei Bleche Butterkuchen und echten Bohnenkaffee für alle. Die Taufe des ersten Enkelkindes, auch wenn es nun Paula hieß und nicht Helene, war ein Grund zum Feiern, ein Grund, aufzutischen und einmal nicht zu verzichten. Verzichten konnten sie gut. Die Kriegsjahre hatten ihnen beigebracht, dass man auf alles verzichten konnte, wenn man musste.

Die Haustür stand nicht still, denn das halbe Dorf kam zum Gratulieren. Vielleicht weil es sich herumgesprochen hatte, dass es frischen Butterkuchen gab, mit echter Butter gebacken, ohne zu sparen. Vielleicht auch, weil der Duft die halbe Dorfstraße hinunterzog und man ihm einfach folgen musste. Vielleicht auch, weil man...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2020
Reihe/Serie Die Winter-Frauen-Trilogie
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1970er Jahre • Buchgeschenk Frau • Familiengeschichte • Familienroman • Familiensaga • Feminismus • Frauenschicksal • Frauenunterhaltung • Generationenroman • Geschenk für Frauen • Hessen • Hippie-Zeit • Künstlerleben • Lisette Winter • London • Mütter • Mutter-Tochter-Beziehung • Mutter-Tochter-Verhältnis • Roman Emanzipation • Roman Frauen • Roman für Frauen • Roman Neuerscheinung 2020 • Roman Neuerscheinung 2021 • Schmöker • Taunus • Töchter • Trilogie • Wiesbaden
ISBN-10 3-423-43766-9 / 3423437669
ISBN-13 978-3-423-43766-0 / 9783423437660
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