Kalmann (eBook)

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2020 | 2. Auflage
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61136-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kalmann -  Joachim B. Schmidt
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Er ist der selbsternannte Sheriff von Raufarhöfn. Er hat alles im Griff. Doch in Kalmanns Kopf laufen die Räder manchmal rückwärts. Als er eines Winters eine Blutlache im Schnee entdeckt, überrollen ihn die Ereignisse. Mit seiner naiven Weisheit und dem Mut des reinen Herzens wendet er alles zum Guten. Kein Grund zur Sorge.

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane sind Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Crime Cologne Award und zuletzt mit dem Glauser-Preis. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.


Ich wünschte, Großvater wäre bei mir gewesen. Er wusste immer, was zu tun war. Ich stolperte über die endlose Ebene Melrakkaslétta, hungrig, erschöpft, blutverschmiert, und fragte mich, was Großvater getan hätte. Vielleicht hätte er sich eine Pfeife gestopft und die Blutlache einfach zuschneien lassen, hätte seelenruhig zugeschaut, einfach um sicherzugehen, dass sie sonst niemand finden würde.

Immer wenn ein Problem anstand, stopf‌te er sich eine Pfeife, und sobald uns der süße Rauch benebelte, war alles gar nicht mehr so schlimm. Vielleicht hätte Großvater beschlossen, niemandem davon zu erzählen. Er wäre nach Hause gegangen und hätte sich keine Gedanken mehr darüber gemacht. Denn Schnee ist Schnee, und Blut ist Blut. Und wenn einer spurlos verschwindet, ist das vor allem sein Problem. Neben dem Eingang unseres Häuschens hätte Großvater sich die Pfeife an der Schuhsohle ausgeklopft, die Glut wäre im Schnee erloschen, und damit wäre die Sache erledigt gewesen.

Aber ich war ganz alleine da oben, Großvater war hunderteinunddreißig Kilometer entfernt, und durchs verschneite Hinterland der Melrakkaslétta wandern konnte er schon lange nicht mehr. Also gab es auch keinen Pfeifenrauch, und weil es schneite und einfach alles, mal abgesehen von der roten Blutlache, weiß war und man keinen einzigen Laut hörte, fühlte ich mich, als wäre ich der letzte Mensch auf der ganzen Welt. Und wenn man der letzte Mensch auf der ganzen Welt ist, ist man froh, wenn man es jemandem erzählen kann. Darum erzählte ich es dann doch, und damit fingen die Probleme an.

Großvater war Jäger und Haifischfänger. Jetzt war er es nicht mehr. Er saß meistens auf einem gepolsterten Stuhl im Pflegeheim in Húsavík und schaute den ganzen Tag aus dem Fenster – und schaute doch nicht, denn wenn ich ihn fragte, ob er etwas Bestimmtes sehe, gab er meistens keine Antwort oder brummte und guckte mich komisch an, als störte ich ihn bei irgendwas. Sein Gesicht war nun die meiste Zeit verdrossen, die Mundwinkel zeigten nach unten, die Lippen zusammengepresst, so dass man gar nicht sah, dass ihm vier Zähne fehlten, oben, die ganz vorne. Er konnte niemanden mehr beißen. Manchmal fragte er mich, was ich hier zu suchen habe, ziemlich barsch fragte er das, worauf ich ihm erklärte, ich heiße Kalmann und sei sein Enkel und besuche ihn einfach nur, wie jede Woche. Also kein Grund zur Sorge. Doch Großvater warf mir misstrauische Blicke zu und schaute wieder aus dem Fenster, total mürrisch. Er glaubte mir nicht. Ich sagte dann nichts mehr, denn Großvater guckte wie jemand, dem man die Pfeife weggenommen hatte, und darum war es besser, ich sagte nichts.

Eine Pflegefrau hatte mir geraten, Geduld mit Großvater zu haben, so, als wäre er ein kleines beleidigtes Kind. Ich müsse ihm immer wieder alles erklären, das sei ganz normal, und so sei das Leben nun mal, denn manche, die das Glück hätten, ein hohes Alter zu erreichen, würden in gewissem Sinne wieder Kleinkinder, denen man beim Essen helfen müsse, beim Anziehen, Schnürsenkel binden und so weiter. Einige bräuchten sogar wieder Windeln! Alles gehe rückwärts. Wie ein Bumerang. Was das ist, weiß ich. Das ist eine Waffe aus Holz, die man in die Luft schleudert, ein Bumerang eben, der dann in einem Bogen wieder zurückfliegt und einem den Kopf abschneidet, wenn man nicht mordsmäßig aufpasst.

Ich fragte mich, wie das mit mir sein wird, wenn ich mal so alt bin wie Großvater. Denn es war noch nie richtig vorwärtsgegangen mit mir. Man vermutete, dass die Räder in meinem Kopf rückwärtslaufen. Kam vor. Oder dass ich auf der Stufe eines Erstklässlers stehengeblieben sei. Ist doch mir egal. Oder dass in meinem Kopf bloß Fischsuppe sei. Oder dass mein Kopf hohl wie eine Boje sei. Oder dass meine Leitungen falsch verbunden seien. Oder dass ich den IQ eines Schafes habe. Dabei können Schafe gar keinen IQ-Test machen. »Run, Forrest, run!«, riefen sie früher im Sportunterricht und lachten sich krumm. Das ist aus einem Film, in dem der Held behindert ist, aber schnell laufen und gut Pingpong spielen kann.

Ich kann nicht schnell laufen und auch nicht Pingpong spielen und früher wusste ich nicht mal, was ein IQ ist. Großvater wusste es zwar, aber er sagte, das sei nichts als eine Zahl, um Menschen in Schwarz und Weiß einzuteilen, eine Messmethode wie Zeit oder Geld, eine Erfindung der Kapitalisten, dabei seien wir alle gleich, und dann verstand ich überhaupt nichts mehr, und Großvater erklärte mir, dass nur das Heute zähle, das Hier, das Jetzt, das Ich, hier mit ihm. Fertig. Das verstand ich. Er fragte mich, was ich machen würde, wenn ich draußen auf dem Meer wäre und Sturmwolken aufzögen. Die Antwort war einfach: So schnell wie möglich in den Hafen zurückfahren. Er fragte mich, was ich anziehen würde, wenn es draußen regnete. Einfach: Regenkleider. Wenn jemand vom Pferd gefallen wäre und sich nicht mehr bewegte. Kinderspiel: Hilfe holen. Großvater war zufrieden mit meinen Antworten und sagte, ich sei geistig völlig auf der Höhe.

Das sah ich ein.

Aber manchmal kapierte ich einfach nicht, was gemeint war. Kam vor. Dann sagte ich lieber nichts. Das brachte es dann einfach nicht. Denn niemand konnte die Sachen so gut erklären wie Großvater.

Zum Glück bekam ich dann einen Computer mit Internetanschluss, und damit wusste ich schlagartig viel mehr als früher. Denn das Internet weiß alles. Es weiß, wann du Geburtstag hast und ob du den Geburtstag deiner Mutter vergessen hast. Es weiß sogar, wann du das letzte Mal auf dem Klo gewesen bist oder dir einen runtergeholt hast. Das sagte zumindest Nói, der mein bester Freund war, als sich die Sache mit dem König zutrug. Aber was genau in meinem Kopf los war, konnte mir niemand erklären. Ärztepfusch, sagte meine Mutter einmal, als sie noch in Raufarhöfn lebte und ihr das so rausrutschte, wahrscheinlich als ich Elínborgs Katze abknallte und zerlegte, weil ich von Großvater gelernt hatte, wie man das machte, und üben wollte. Meine Mutter wurde sehr wütend, denn Elínborg hatte sich bei ihr beschwert und gedroht, zur Polizei zu gehen, und wenn meine Mutter wütend war, sagte sie nichts mehr, sondern machte was. Den Müll rausbringen zum Beispiel. Den Mülltonnendeckel aufklappen, den Müllsack hineinwuchten und den Deckel zuschlagen – und wieder öffnen und wieder zuschlagen. Peng!

Aber wer nun glaubt, dass ich eine schwierige Kindheit hatte, weil in meinem Kopf Fischsuppe ist, liegt falsch. Großvater übernahm das Denken für mich. Er passte auf mich auf. Aber eben, das war einmal.

Jetzt guckt mich Großvater mit farblosen, wässrigen Augen an und erinnert sich an nichts. Und vielleicht werde ich auch verschwinden, wenn Großvater nicht mehr ist, werde mit ihm begraben, ganz so wie das beste Pferd eines Wikingerhäuptlings. Das haben sie früher nämlich gemacht, die Wikinger; das Pferd einfach mit dem Häuptling beerdigt. Die gehörten einfach zusammen. So würde der Wikingerhäuptling über Bifröst nach Walhall reiten können. Das machte dann Eindruck.

Aber der Gedanke machte mich nervös. Begrabensein, meine ich. Zugedeckt unterm Sargdeckel. Da bekommt man Platzangst, und dann ist es besser, man ist tot. Darum blieb ich meistens nicht lange im Pflegeheim. In Húsavík bekam ich wenigstens etwas Anständiges zu futtern. Im Tankstellenimbiss bei Salvör gab es nämlich die besten Hamburger für eintausendachthundertfünfundvierzig Kronen. Den Betrag hatte ich immer passend, immer, und das wusste auch Salvör, der das Münzgeld gar nicht mehr zählte. Aber manchmal schmeckte mir der Hamburger dann doch nicht, weil ich traurig war, weil Großvater nicht mehr wusste, wer ich war. Und wenn er es nicht mehr wusste, wie bitte sollte ich es dann wissen?

Großvater hatte ich alles zu verdanken. Mein Leben. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, hätte mich meine Mutter in ein Behindertenheim gesteckt, wo ich missbraucht und vergewaltigt worden wäre. Jetzt würde ich in Reykjavík leben, einsam und verwahrlost. In Reykjavík herrscht Verkehrschaos, und die Luft ist schmutzig, und die Menschen sind gestresst. Pfui Teufel, das ist nichts für mich. Großvater hatte ich zu verdanken, dass ich wer war, hier, in Raufarhöfn. Er hatte mir alles gezeigt, mich alles gelehrt, was man eben braucht, um zu überleben. Er hatte mich auf die Jagd und aufs Meer mitgenommen, obwohl ich anfangs noch keine große Hilfe war. Vor allem auf der Jagd benahm ich mich wie der hinterletzte Trottel, stolperte und keuchte, und Großvater sagte, ich fiele über meine eigenen Füße, ich müsse sie heben, wenn das Gelände uneben sei, was ich dann auch machte, die Füße heben, wohlgemerkt, aber immer nur für ein paar Schritte, dann vergaß ich es schon wieder und stolperte über den nächsten Grashöcker, und manchmal fiel ich der Länge nach hin und machte dabei einen solchen Krach, weil ich doch so dick war, dass die Schneehühner aufgeschreckt davonflatterten und die Polarfüchse das Weite suchten, bevor wir sie überhaupt erspäht hatten. Aber wer jetzt denkt, Großvater sei deswegen wütend geworden, irrt sich mordsmäßig. Denn Großvater wurde nicht wütend. Im Gegenteil. Er lachte nur und half mir auf die Beine, klopf‌te mir den Schmutz von den Kleidern und sprach mir Mut zu. »Nur Mut, Genosse!«, sagte er. Und bald gewöhnte ich mich an das unebene Gelände, und ich war dann auch nicht mehr so dick. Selbst auf dem kleinen Kutter konnte ich dann aufrecht stehen, ohne hinzufallen, auch wenn das Boot schaukelte. Es machte mir plötzlich Spaß, die Wellen in den Knien abzufedern,...

Erscheint lt. Verlag 26.8.2020
Reihe/Serie Kalmann
Kalmann
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arktis • Autismus • Blut • Droge • Eisbär • Fischfang • Forrest Gump • Gammelhai • Gesellschaftskritisch • Hai • Hering • Island • Jagd • Küstennähe • Litauen • literarisch • Mafia • Marihuana • Mauser • Meer • Moosflüstern • philosophisch • Polarkreis • Reykjavik • Sheriff • Tourismus
ISBN-10 3-257-61136-6 / 3257611366
ISBN-13 978-3-257-61136-6 / 9783257611366
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