Die Rattenlinie - ein Nazi auf der Flucht (eBook)
544 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491072-7 (ISBN)
Philippe Sands, geboren 1960, ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre for International Courts and Tribunals am University College London. Leidenschaftlich setzt er sich für humanitäre Ziele und das Völkerrecht ein. Er formulierte u. a. die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. 2020 erschien von ihm »Die Rattenlinie - ein Nazi auf der Flucht«, 2017 »Rückkehr nach Lemberg«, das mit dem renommierten Baillie Gifford Prize und dem Wingate Literaturpreis 2016 ausgezeichnet und Buch des Jahres bei den British Book Awards 2017 wurde.
Philippe Sands, geboren 1960, ist Anwalt und Professor für Internationales Recht und Direktor des Centre for International Courts and Tribunals am University College London. Leidenschaftlich setzt er sich für humanitäre Ziele und das Völkerrecht ein. Er formulierte u. a. die Anklage gegen den chilenischen Diktator Pinochet. 2020 erschien von ihm »Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht«, 2017 »Rückkehr nach Lemberg«, das mit dem renommierten Baillie Gifford Prize und dem Wingate Literaturpreis 2016 ausgezeichnet und Buch des Jahres bei den British Book Awards 2017 wurde. Thomas Bertram, geboren 1954 in Gelsenkirchen, lebt nach Jahren in der schwäbischen Diaspora seit 1996 als freier Lektor, Übersetzer, Autor und Herausgeber wieder in seiner Heimatstadt. Wie fast jeder im Ruhrgebiet kam er schon als Fußballfan auf die Welt. Die Bundesliga betrachtet er natürlich am liebsten durch die Brille »seines« Klubs Schalke 04, erkennt aber an, dass es noch andere Vereine geben muss.
Eine Empfehlung für alle Leser, die sich für die Grautöne im Schwarz-Weiß der Geschichte interessieren.
"Die Rattenlinie" ist eine Mischung aus Kriminalakte, Fluchtgeschichte, Agententhriller und zugleich ein Dokument dafür, wie Nazi-Nachfahren bis heute mit den Untaten ihrer Väter umgehen müssen.
So gruselig wie großartig erzählt.
Unbedingt empfehlenswert!
Herausgekommen ist ein packendes Buch über eine bedrückende Rassenideologie und das Chaos der Nachkriegsjahre.
Sands' akribische Recherche ist mehr als ein Sachbuch: ein Krimi mit ausgesprochen lebendigen Protagonisten.
Philippe Sands erzählt nicht nur die Lebensgeschichte eines Massenmörders. Er zeigt zugleich, was es für die Familienangehörigen bedeutet, mit einer solchen Schuld zu leben.
eine hochspannende Detektivgeschichte, die einzig und allein auf Fakten beruht
Rom, 13. Juli 1949
Der Zustand des Mannes in Bett neun war ernst. Gequält von hohem Fieber und einem akuten Leberleiden, konnte er weder essen noch sich auf die Dinge konzentrieren, die ihn in seinem ehrgeizigen Bestreben über weite Strecken seines Lebens angetrieben hatten.
Das Krankenblatt am Fußende des Patientenbettes bot nur spärliche Informationen: »Am 9. Juli 1949 wird der Kranke namens Reinhardt […] eingeliefert.« Das Datum stimmte, der Name nicht. Sein bürgerlicher Name war Wächter, allerdings hätte die Verwendung dieses Namens die Behörden darauf aufmerksam machen können, dass der Patient ein ranghoher Nazi war und wegen Massenmordes gesucht wurde. Er hatte früher als Stellvertreter von Hans Frank fungiert, dem Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, der drei Jahre zuvor wegen der Ermordung von vier Millionen Menschen in Nürnberg gehängt worden war. Auch Wächter war angeklagt, wegen »Massenmords«, der Erschießung und Hinrichtung von mehr als einhunderttausend Menschen. Es war eine niedrige Schätzung.
»Reinhardt« war in Rom, er war auf der Flucht. Wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »Genozids« glaubte er sich von Amerikanern, Polen, Sowjets und Juden gejagt. Er hoffte, es nach Südamerika zu schaffen.
Sein Vater war auf dem Krankenblatt als »Josef« benannt, was korrekt war. Der für seinen Taufnamen vorgesehene Platz war leer. »Reinhardt« benutzte den Namen Alfredo, aber sein bürgerlicher Name war Otto.
Als Beruf des Patienten war »Schriftsteller« angegeben, was nicht ganz falsch war. Otto Wächter schrieb Briefe an seine Frau und führte ein Tagebuch, das allerdings nur wenige Einträge enthielt, die, wie ich erfahren sollte, in einer Kurzschrift oder einem Code verfasst waren, was ihre Entzifferung erschwerte. Außerdem schrieb er Gedichte, und kürzlich hatte er sogar, um die tristen Stunden eines ablenkungsbedürftigen Mannes auszufüllen, ein Drehbuch und ein Manifest über die Zukunft Deutschlands verfasst. Letzterem hatte er den Titel Quo Vadis Germania? gegeben.
Als er mächtig und frei gewesen war, hatte der Patient seinen Namen unter Dokumente gesetzt, die Menschen zu Freiwild erklärten. Sein Name erschien am Fuß wichtiger Briefe und Erlasse. In Wien beendete er die Karrieren von zweien seiner Universitätslehrer. In Krakau genehmigte er die Errichtung des dortigen Ghettos. Ein anderes, in Lemberg unterzeichnetes Schriftstück verbot es Juden zu arbeiten. Es wäre daher treffender gewesen, den Patienten hinsichtlich seiner beruflichen Beschäftigung als Anwalt, Gouverneur oder SS-Gruppenführer zu bezeichnen. In den zurückliegenden vier Jahren hatte ihn hauptsächlich der Versuch beschäftigt zu überleben – ein Mann, der sich versteckte und zu entkommen suchte und der glaubte, dass es ihm gelungen sei.
Als Alter nannte das Formular »45 Jahre«. Tatsächlich war er drei Jahre älter und hatte kürzlich seinen Geburtstag gefeiert.
Sein Familienstand wurde mit »ledig« angegeben. In Wirklichkeit war er mit Charlotte Bleckmann verheiratet, die er in seinen Briefen als Lotte oder Lo bezeichnete. Sie nannte ihn »Hümmchen« oder »Hümmi«. Das Paar hatte sechs Kinder, obwohl es mehr hätten sein können.
Auf dem Krankenblatt fand sich keine Adresse in Rom. Tatsächlich führte der Patient ein Leben im Verborgenen, in einer Mönchszelle im Dachgeschoss des Klosters Vigna Pia, das abseits am Stadtrand nahe einer Biegung des Tiber lag. Er schwamm gerne.
Das Krankenblatt ließ unerwähnt, dass der Patient von zwei Mönchen, die in Vigna Pia lebten, in das Hospital gebracht worden war.
Über seinen Gesundheitszustand wurde Folgendes vermerkt:
»Der Kranke gibt an, dass er seit 1.7. nichts mehr essen konnte, am 2.7. hohes Fieber bekam, am 7.7. eine Gelbsucht auftrat. Der Kranke ist Diabetiker; die klinische Analyse ergibt einen positiven Leberbefund: akute gelbe Leberatrophie (icterus gravis).«
Aus anderen Quellen wissen wir, dass »Reinhardt« während seines Aufenthalts im Hospital Santo Spirito drei Besucher empfing. Einer war ein Bischof, der früher Papst Pius XII. nahegestanden hatte. Ein weiterer war ein Arzt, der während des Krieges an der Deutschen Botschaft in Rom tätig gewesen war. Der dritte war eine preußische Dame, die Gattin eines italienischen Wissenschaftlers, mit dem sie zwei Kinder hatte. Sie besuchte den Patienten jeden Tag, einmal am Sonntag, dem Tag nach seiner Aufnahme, zweimal am Montag, einmal am Dienstag.
Am Mittwoch, dem 13. Juli, besuchte sie ihn zum fünften Mal. Bei jedem ihrer Besuche brachte sie ein kleines Geschenk mit, ein Stück Obst oder eine kleine Süßigkeit, wie vom Arzt vorgeschlagen.
Für die preußische Dame war es schwer, Zutritt zur Sala Baglivi zu erlangen, wo »Reinhardt« lag. Bei ihrem ersten Besuch wurde sie von einem Wächter eingehend befragt, doch sie konnte, wie der Mann sagte, »keine genaueren Angaben machen«. Man hatte sie gewarnt, sie solle diskret sein, lediglich sagen, sie gehöre zu den »Freunde[n] von der Kirche«. Sie wiederholte die Worte, am Ende ließ der Bewacher sich erweichen. Mittlerweile, bei ihrem fünften Besuch, erkannte man sie bereits.
Die Dame zeigte sich beeindruckt von der Weitläufigkeit der Sala Baglivi. »Wie eine Kirche«, erzählte sie der Frau des Patienten, die laut Krankenblatt nicht existierte. Sie war dankbar für die Kühle des weiten Raumes, der eine Zuflucht vor der Hitze des Tages bot, wenn sie von ihrer Wohnung zu Fuß herkam, vorbei an der Piazza dei Quiriti und dem Brunnen, der Mussolini zu der Äußerung veranlasst hatte, in einem Park hätten vier nackte Frauen nichts verloren.
Sie ging vorbei an der kleinen Kapelle, wandte sich nach rechts, betrat die Sala Baglivi und näherte sich dem Bett des Patienten, wo sie anhielt. Sie begrüßte ihn, sprach ein paar Worte, verschaffte ihm mit einem feuchten Tuch Kühlung, wechselte sein Hemd. Sie zog den kleinen Hocker unter dem Bett hervor und setzte sich, um Konversation und Trost anzubieten. Ein neuer Patient im Bett nebenan bedeutete weniger Privatsphäre, was sie auf ihre Worte achten ließ.
Der Patient hatte wenig zu sagen. Zur Behandlung der Infektion hing er an einem Penicillin-Tropf, das Medikament senkte zwar das Fieber, schwächte ihn aber auch. Er sollte nur wenig zu sich zu nehmen, Kaffee mit Milch, ein paar Tropfen Orangensaft mit einem Teelöffel Traubenzucker. Die Ärzte ermahnten ihn, seinen Magen zu schonen.
Bei jedem Besuch bemerkte die Dame eine Veränderung. Am Montag war der Patient schwach und sprach wenig. Am Dienstag wirkte er frischer und gesprächiger. Er erkundigte sich nach Briefen, die er erwartete, und äußerte die Hoffnung, dass sein ältestes Kind, das ebenfalls Otto hieß, ihn vielleicht besuchen würde, bevor der Sommer vorbei war.
Seine heutigen Worte waren ermutigend, auch wenn der Körper schwächer wirkte. »Es geht viel, viel besser«, sagte der Patient. Sie flößte ihm einen Teelöffel Orangensaft ein. Einen einzigen. Sein Verstand war klar, seine Augen strahlten.
Der Patient schaffte einen längeren, zusammenhängenden Gedanken: »Wenn Lo jetzt nicht kommen kann, so macht das gar nichts, ich bin ihr in den letzten langen Nächten so unendlich nah gewesen, und ich bin froh, dass wir so stark verbunden sind, sie versteht mich ganz und es ist alles richtig, so wie es war …«
Er loderte innerlich, verspürte aber keinen Schmerz. Er wirkte ruhig, lag still da, hielt die Hand der Dame. Sie erzählte ihm von ihrem Tag, dem Leben in Rom, den Kindern. Bevor sie ging, strich sie ihm sanft über die Stirn.
Er sprach ein paar letzte Worte zu ihr. »Ich danke Ihnen, ich bin in guten Händen, und auf morgen.«
Um halb sechs Uhr nachmittags verabschiedete sich die preußische Dame von dem Patienten, der als »Reinhardt« bekannt war. Sie wusste, das Ende war nahe.
Noch am selben Abend empfing der Patient den Bischof. Gegen Ende des Besuchs, so die Darstellung des Bischofs, in dessen Armen er angeblich gelegen hatte, sprach der Patient seine letzten Worte. Darin gab er einer vorsätzlichen Handlung die Schuld an seinem Zustand und identifizierte den Giftmörder. Es sollten viele Jahre vergehen, bevor die Worte, die er angeblich zu dem Bischof sprach und bei denen niemand sonst zugegen war, anderen zur Kenntnis gelangten.
Der Patient erlebte den nächsten Tag nicht.
Ein paar Tage später schrieb die Besucherin an Charlotte Wächter, die Witwe. Auf zehn handschriftlichen Seiten schilderte sie, wie sie Wächter ein paar Wochen vorher, kurz nach dessen Ankunft in Rom, kennengelernt hatte. »Ich weiß von ihm von Ihnen, von den Kindern und allem, was ihm das Leben wert machte.« »Reinhardt« hatte der Besucherin von seiner Arbeit vor und während des Krieges und in den folgenden Jahren, die er hoch oben in den Bergen verbrachte, erzählt. Der Brief beschrieb einen Zustand der Ruhelosigkeit und erwähnte einen Wochenendausflug in die Umgebung von Rom, den »Reinhardt« unternommen hatte. Den Namen des Ortes oder der Person, die er besucht...
Erscheint lt. Verlag | 25.11.2020 |
---|---|
Übersetzer | Thomas Bertram |
Zusatzinfo | 89 s/w-Abbildungen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Alois Hudal • Anspruchsvolle Literatur • Fluchthilfe • Galizien • Geheimdienste • Holocaust • Kalter Krieg • Krakau • Kriegsverbrechen • Nationalsozialismus • Österreich • Polen • Spionage • Südtirol • Vatikan • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-10-491072-3 / 3104910723 |
ISBN-13 | 978-3-10-491072-7 / 9783104910727 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 12,9 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich