Westwind -  Samantha Harvey

Westwind (eBook)

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2020 | 1. Auflage
350 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-155-5 (ISBN)
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1491. In dem kleinen Dorf Oakham, ein Ort in dem es Ziegen gibt, die reicher sind als die Bewohner, bereitet man sich gerade auf die bevorstehende Fastenzeit vor, als eines Nachts ein Unglück geschieht: Thomas Newman, der wohlhabendste und einflussreichste Mann im Dorf, wurde von der tödlichen Strömung des Flusses mitgerissen. War es ein Unfall, Selbstmord oder gar Mord? Dies herauszufinden, obliegt dem örtlichen Priester John Reve, einem geduldigen Hirten seiner eigensinnigen Herde. Während sich durch die Beichten der unterschiedlichen Dorfbewohner langsam ein Porträt der Gemeinde zusammensetzt, kommen immer dunklere Geheimnisse ans Licht - und die Schuldfrage wird immer dringlicher.

Samantha Harvey ist Autorin mehrerer hochgelobter Romane, mit denen sie für wichtige Literaturpreise wie den Man Booker Prize, den Orange Prize und den Guardian First Book Award nominiert war. ?Westwind? ist ihr viertes Buch. Es erhielt viel Aufmerksamkeit und wurde mit dem Staunch Book Prize fur Spannungsliteratur ausgezeichnet. Samantha Harvey lebt und arbeitet in Bath, England.

Samantha Harvey ist Autorin mehrerer hochgelobter Romane, mit denen sie für wichtige Literaturpreise wie den Man Booker Prize, den Orange Prize und den Guardian First Book Award nominiert war. ›Westwind‹ ist ihr viertes Buch. Es erhielt viel Aufmerksamkeit und wurde mit dem Staunch Book Prize fur Spannungsliteratur ausgezeichnet. Samantha Harvey lebt und arbeitet in Bath, England.

Rohrkolben


Bin ich auch Staub und Asche, so schlafe ich doch den Schlaf der Engel. Nichts weckt mich nachts auf, nicht, ehe ich bereit bin. Aber in jener Nacht war mein Schlaf unruhig und morgens wurde er von angstvollen Rufen zerschnitten. Eine zischelnde, drängende Stimme durch das Sprechgitter: »Pater, sind Sie da drin?«

»Carter?« Selbst halb im Schlaf erkannte ich seine Stimme: »Um was geht’s?«

»Ein Mann ist im Fluss ertrunken. Drüben bei West Fields. Ich – ich war da wegen eines Baums, der in den Fluss gestürzt ist. Da lag ein Mann im Wasser, der hing wie ein Stofffetzen unter dem Stamm fest, Pater.«

»Ist er tot?«

»So tot, wie man nur sein kann.«

Ich hatte auf dem niedrigen Schemel im Beichtstuhl geschlafen, die Wange gegen das Eichenholz gelehnt. Mein Schlaf war unruhig gewesen, überhaupt nicht den Engeln nah. Jetzt stand ich auf und glättete, so gut es ging, meine Soutane. Draußen war es dunkel; es hätte Nacht sein können oder früher Morgen. Meine Hände und Füße waren steif vor Kälte. Ich schob die Trennwand gerade weit genug zur Seite, um den Beichtstuhl verlassen zu können – der im Grunde kein Beichtstuhl ist, sondern ein Provisorium aus Balken und Vorhängen –, und sah im Kerzenschein das gerötete, besorgte Gesicht von Herry Carter.

»Ich habe Sie erst im Pfarrhaus gesucht, aber da waren Sie nicht«, stotterte er. »Da habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht hier sind.«

Ich hätte ihm gern gesagt, dass ich normalerweise nicht sitzend im Beichtstuhl schlief, dass ich selbst nicht wusste, was mich in dieser Nacht dazu gebracht hatte. Aber Carter sah nicht aus, als ob ihn das interessieren würde. Er wollte bloß zurück zum Fluss.

»Vielleicht kann er noch die Letzte Ölung bekommen«, sagte er mit dünnen, missmutig verzogenen Lippen.

»Du sagtest, er sei tot.«

»Aber wenn wir ihm ein bisschen Messwein einflößen könnten …«

Eine tote Kehle ist nicht empfänglich für Messwein, dachte ich, aber ich schwieg.

»Wenn uns wenigstens das gelingt«, sagte Carter, »kann er vielleicht einen halbwegs anständigen Tod sterben. Sonst …«

Sonst läge ein garstiges Schicksal vor ihm, und die Zeit, in der er wie ein Stofffetzen unter einem umgestürzten Baum festgehangen hatte, würde ihm wie die Erinnerung an eine rosige Vergangenheit erscheinen. Herry Carter tat recht daran, dem Toten Besseres zu wünschen. Also verließen wir die Kirche und liefen los.

Als Erstes bemerkte ich, wie heftig und bitterkalt der Ostwind war. Die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt und am Himmel zeigte sich nur eine schwache Ahnung von Tageslicht. Wir liefen den Pfad nach West Fields entlang, das beinahe eine Meile entfernt liegt, größtenteils schräg gegenüber auf der anderen Seite des Flusses. Der Fluss schlängelt sich windungsreich dahin und braucht fast zwei Meilen, um dieselbe Strecke zurückzulegen. Ich eilte atemlos weiter, mein Gewand flatterte wie ein Segel im Wind, der Messwein schwappte in meiner rechten Hand in der Flasche, das Weihöl in meiner linken und meine Oberschenkel brannten. Wie ein Reh, hatte mein Vater immer gesagt und dabei gezwinkert, weil er gern Rehe schoss. Carter war jung, klein gewachsen, flink auf den Beinen. Mit seinen blonden windzerzausten Haaren und den schlammverkrusteten Knien verkörperte er die schlichte, flaumige Unschuld der Jugend. Mit rhythmischen Armbewegungen lief er voran.

Das Weideland in den Flussbiegungen war überflutet, aber nicht mehr so sehr wie zuvor; es war, als hätte der Wind das Wasser zurück in den Fluss geschoben. Über uns wölbte sich ein hoher, bewegter Himmel, der nach Sonnenaufgang blau sein würde, und alles außer dem Wind war nass – der Pfad, das Gras, die Erde, unsere Füße und Knöchel, die Baumstämme, die Nester mitsamt den Küken darin. Meine Zehen waren wie Frösche in einem Sumpf. Als wir an den Rand des saftigen Weidelands bei West Fields kamen, wurde die Welt noch nasser – durchweichte Schafe mit zitternden Lämmern; Kühe, die auf der Suche nach trockenerem Boden durch das Gras planschten, um fressen zu können, ohne gleichzeitig saufen zu müssen. Townshends Pferde hatten einander die Schnauzen auf die durchnässten Flanken gelegt und bildeten ein Viereck im Sumpf. Nur der Wind selbst war trocken, trocken und kalt, und blies die langen Regentage fort.

»Dort«, sagte Carter und zeigte auf eine Stelle des Flusses, die siebzig oder achtzig Schritte vor uns lag. »Ich habe es mit meiner Axt markiert.«

Keine gute Markierung. Mit der in die Uferböschung gerammten Klinge ragte die Axt keine zehn Zoll aus dem Boden. Man hätte eine Markierung gebraucht, um sie zu finden. Aber Herry Carter hatte die scharfen Augen der Jugend, und seine Gedanken waren auf nichts anderes als diese Axt und die Stelle des Flusses gerichtet, der einen alten, toten Stofffetzen von einem Mann angespült hatte. Mit dem Wind im Rücken beschleunigte er seine Schritte. Jetzt war er schon bei der Axt, schritt unruhig am Ufer auf und ab und stand knöcheltief im Wasser, als ich ihn endlich eingeholt hatte.

»Sie ist fort«, sagte er. Er klang verzweifelt, seine Stimme war kratzig. »Die Leiche. Dort war sie.« Dort bezeichnete den umgestürzten Baum in der Biegung eines Seitenarms. Der Fluss toste wild durch diesen Seitenarm; nichts hätte dort an Ort und Stelle bleiben können, gar nichts. Nicht die Leiche eines Menschen, nicht einmal die Leiche einer Kuh. Wie hatte Carter das glauben können? Andererseits, was hätte er tun sollen? Allein hatte er den Mann nicht bergen können.

»Wo ist er hin?«, fragte Carter wieder und wieder. Er hastete hin und her wie ein Hirtenhund. Dann blieb er stehen, sah geradewegs auf das Wasser hinaus und sagte mit flacher Stimme: »Wo ist die Leiche hin? Sie war genau dort.«

Mein weißes Messhemd war durchnässt und schlammverschmiert bis zu den Knien. Ich verspürte eine gewisse Niedergeschlagenheit, denn nun musste ich Carter Fragen stellen, und das wollte ich nicht. Ich wollte selbst herausfinden, was geschehen war. Die Worte blieben mir im Hals stecken, und wie sehr ich mich auch räusperte, sie wollten nicht herauskommen. Ich hätte überallhin geschaut, nur um mir den Anblick dieses kläglichen, ziellosen Herumlaufens zu ersparen. Überallhin: aufwärts, abwärts. Aufwärts zu den Sternen, die jetzt bei Tagesanbruch verblassten.

Als ich mich wieder nach Carter umsah, stand er links von mir, ungefähr dreißig Ellen flussabwärts, knietief und völlig entgeistert im Wasser, nah bei einem dichten Röhricht. Die Rohrkolben bogen sich im Wind. Erst als ich näher kam, sah ich, dass er etwas Hellgrünes in der Hand hatte, ein Stück Stoff, das er kraftlos in die Höhe hielt. Ein Hemd.

»Ich habe es dort gefunden«, sagte er und deutete kurz auf das Röhricht. »Es hing einfach da.«

Ich musste also gar keine Fragen stellen, die ich nicht stellen wollte, denn das Hemd zeigte unmissverständlich, wer der Ertrunkene war. Wir wussten beide, wem es gehörte; selbst in diesem schwachen Licht war klar, dass ein solches Hemd nur einem einzigen Mann im Dorf gehören konnte. Alle anderen trugen beigefarbene, braune oder graue Hemden, aus einer Wolle gemacht, die ihre schäfische Herkunft nie ganz verleugnen konnte. Kein anderer besaß eines aus gutem Leinen, das einst so grün wie der im Wind wogende Flachs gewesen war, aus dem es gewebt wurde. Jetzt war es verblasst, aber es war immer noch ein schönes Holländerhemd. Schon ehe Carter das Hemd gefunden hatte, musste er beim Anblick der Leiche sofort gewusst haben, dass es sich um Newman handelte. Wie viele andere aufgeschwemmte Leichen sollten in diesem Fluss treiben? Wie viele andere Männer waren drei Tage zuvor verschwunden?

Aber es liegt in unserer Natur, das zu verleugnen, was uns ängstigt, und daran ist nichts Boshaftes und Stumpfsinniges. Existiert nicht immer ein heiterer Teil in uns, der hofft, dass das, was wir wissen, nicht wahr ist? Carter versuchte das Hemd zu einem ordentlichen, pietätvollen Geviert zu falten – wenn sein Tod auch unordentlich war, hatte Newman doch ein ordentliches Leben geführt. Das Hemd war zu nass, um die Form zu behalten, und das Bündel wurde unter Carters Händen lose und unförmig. Murmelnd befahl er seinen linkischen Fingern, das Hemd erneut zu falten, und wieder löste es sich. Dann stopfte er es in den Bund seiner Hose, lief an der Böschung entlang flussabwärts, stieß dabei heulend Newmans Namen aus und platschte durch das aufspritzende Wasser, das sich im ersten Sonnenlicht rosa färbte.

Ach, dass ich den Messwein und das Öl in den Fluss schütten musste! Schlimm genug, dass der Mann keine letzte Beichte hatte ablegen können, aber welche Hoffnung bestand für ihn, wenn ich ihm nicht den kleinsten Tropfen Wein einflößen konnte? Carter hatte recht, es hätte vielleicht ausgereicht, seinen Mund, seine Lippen damit zu benetzen. Mit dem Öl ein Kreuz auf seine Stirn zu malen. Und jetzt lief Carter, wie von Dämonen besessen, am Ufer auf und ab, der Wind wehte unablässig, unsere Beinkleider waren durchnässt und der Tag hatte eine verzweifelte Stimmung angenommen.

Kurz darauf kam Carter wutschnaubend zurück und ging in die Hocke.

»Er ist fort«, sagte er wieder, »der Leichnam ist fort.«

»Er wird jetzt schon auf halbem Weg zum Meer sein«, entgegnete ich – auch wenn wir beide wussten, dass das unmöglich war, lief es aufs Gleiche hinaus. Nach fünf Biegungen und zwei weit geschwungenen Schleifen hinter dem Dorf verbreitert und beschleunigt sich der dann in gerader Linie verlaufende Fluss. Nach mehreren Regentagen floss er so schnell wie ein bergab rumpelnder Karren und scherte sich wenig um das, was ihm in den Weg kam. Carter...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2020
Übersetzer Steffen Jacobs
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 15. Jahrhundert • Fastenzeit • historisch • Mittelalter • Oakham • Pfarrer • Schuld • Somerset • Spannungsroman • Staunch Book Prize
ISBN-10 3-03792-155-2 / 3037921552
ISBN-13 978-3-03792-155-5 / 9783037921555
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