Freundschaft auf den ersten Blick (eBook)
208 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-172-2 (ISBN)
Erich Kästner, 1899 in Dresden geboren, begründete gleich mit zwei seiner ersten Bücher seinen Weltruhm: Herz auf Taille (1928) und Emil und die Detektive (1929). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Bücher verbrannt, sein Werk erschien nunmehr in der Schweiz im Atrium Verlag. Erich Kästner erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, u.a. den Georg-Büchner-Preis. Er starb 1974 in München.
Erich Kästner, 1899 in Dresden geboren, begründete gleich mit zwei seiner ersten Bücher seinen Weltruhm: Herz auf Taille (1928) und Emil und die Detektive (1929). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden seine Bücher verbrannt, sein Werk erschien nunmehr in der Schweiz im Atrium Verlag. Erich Kästner erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, u.a. den Georg-Büchner-Preis. Er starb 1974 in München.
Wiedersehen in der Villa Seeseite
Halb Korlsbüttel war am Bahnhof, um den Ferienzug zu empfangen. Der Bahnhofsplatz stand voller Leiterwagen, Kutschen, Dreiräder, Tafelwagen und Karren. Man erwartete viele Gäste und noch mehr Gepäck.
Fräulein Klotilde Seelenbinder, Haberlands altes Dienstmädchen, lehnte an der Sperre und winkte, als sie den Justizrat erblickte, mit beiden Händen. Er überragte die aus dem Zug strömenden Menschen um Haupteslänge. »Hier bin ich!«, rief sie. »Herr Justizrat! Herr Justizrat!«
»Schreien Sie nicht so, Klotilde«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. »Lange nicht gesehen, was?«
Sie lachte. »Es waren doch nur zwei Tage.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Das will ich meinen. Guten Tag, gnädige Frau. Wie geht’s? Ein Glück, dass ich vorausgefahren bin. So ein Haus macht Arbeit. Guten Tag, Theo! Du bist blass, mein Liebling. Fehlt dir was? Und das ist sicher dein Freund Emil. Stimmt’s? Guten Tag, Emil. Ich habe schon viel von dir gehört. Die Betten sind überzogen. Heute Abend gibt’s Beefsteak mit Mischgemüse. Das Fleisch ist billiger als in Berlin. Ach, und das ist Pony Hütchen, Emils Kusine. Das sieht man sofort. Diese Ähnlichkeit! Hast du dein Fahrrad mitgebracht? Nein?«
Emils Großmutter hielt sich die Ohren zu. »Machen Sie ’ne Pause!«, bat sie. »Machen Sie ’ne Pause, Fräulein. Sie reden einem ja Plissee in die Ohrläppchen. Ich bin Emils Großmutter. Guten Tag, meine Liebe.«
»Nein, diese Ähnlichkeit!«, meinte Haberlands Dienstmädchen.
Dann verneigte sie sich und sagte: »Klotilde Seelenbinder.«
»Ist das ein neuer Beruf?«, fragte die Großmutter.
»Nein. Ich heiße so.«
»Sie Ärmste!«, rief die Großmutter. »Gehen Sie doch mal zum Arzt. Vielleicht verschreibt Ihnen der einen anderen Namen.«
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Klotilde.
»Nein«, erwiderte die Großmutter. »Nein, Sie kluges Geschöpf. Ich bin fast nie ernst. Es lohnt sich zu selten.«
Dann wurden die Koffer und Taschen auf einen Tafelwagen geladen. Den Wagen hatte Klotilde vom Fuhrhalter Kröger geliehen und ein Knecht zog ihn. Emil und der Professor schoben. So ging’s die Blücherstraße entlang. Die Erwachsenen und Pony spazierten hinterdrein.
Plötzlich hupte es laut. Aus einem Seitenweg bog, in voller Fahrt, ein Motorrad. Das Motorrad bremste. Krögers Knecht hielt den Wagen an und fluchte, dass die Fensterscheiben der Umgegend zitterten. Glücklicherweise fluchte er plattdeutsch.
»Nu treten Sie sich bloß nicht auf den Schlips!«, rief der Motorradfahrer. »Is ja alles halb so wichtig.«
Emil und der Professor guckten erstaunt hinter den Koffern vor und brüllten begeistert: »Gustav!« Sie rannten um Krögers Wagen herum und begrüßten den alten Freund.
Der legte vor Schreck sein Motorrad auf die Straße, schob die Schutzbrille hoch und sagte: »Das hätte mir gerade noch gefehlt, Herrschaften! Dass ich meine zwei besten Freunde zerquetscht hätte! Eigentlich wollten wir euch nämlich von der Bahn abholen.«
»Gegen sein Schicksal kann keiner an«, behauptete eine Stimme aus dem Straßengraben.
Gustav blickte erschrocken auf sein Rad. »Aber wo ist denn der kleine Dienstag?«, rief er. »Er saß doch eben noch hinter mir!«
Sie blickten in den Straßengraben. Dort hockte der kleine Dienstag. Passiert war ihm nichts. Er war nur hoch im Bogen ins Gras geflogen. Er lachte den Freunden entgegen und sagte: »Die Ferien fangen ja gut an!« Dann sprang er auf und schrie: »Parole Emil!«
»Parole Emil!«, riefen sie alle vier und setzten einträchtig den Weg fort.
Die Erwachsenen folgten weit hinten. Sie hatten überhaupt nichts gemerkt.
»Dort liegt Theos Haus!«, sagte Klotilde Seelenbinder stolz und zeigte mit der Hand geradeaus.
Es war ein reizendes, altmodisches Haus. Mitten in einem Garten voller Blumen, Beete und Bäume. »Villa Seeseite« stand am Giebel.
Klotilde fuhr fort: »Was Sie links unten sehen, ist eine große gläserne Veranda. Mit Schiebefenstern. Darüber befindet sich ein offner Balkon. Für Sonnenbäder. Das Zimmer, das anschließt, habe ich für Herrn und Frau Justizrat hergerichtet. Es ist Ihnen doch recht, gnädige Frau?«
»Alles, was Sie machen, ist mir recht«, sagte die Mutter des Professors freundlich.
Das Dienstmädchen wurde rot. »Das Nebenzimmer gehört Emils Großmutter und Pony Hütchen. Die Jungens werden wir im Erdgeschoss unterbringen. Im Zimmer neben der Veranda. Im Nebenraum steht noch ein Sofa. Falls noch wer zu Besuch kommen sollte. Und ein zusammenklappbares Feldbett können wir auch noch aufschlagen. Gegessen wird in der Veranda. Bei schönem Wetter kann man natürlich auch im Garten essen. Obwohl im Freien das Essen schneller kalt wird. Aber man kann ja etwas drüberdecken.« Sie sah sich um. »Wo sind denn eigentlich die Jungens hin? Sie müssen doch vor uns angekommen sein.« […]
Hinterm Haus lag der größere Teil des Gartens. Dort stöberten die vier Jungen herum und suchten eine Garage. Für Gustavs Motorrad. Der Professor saß auf einer Bank, baumelte mit den Beinen und erklärte: »Es gibt offensichtlich zwei Möglichkeiten. Wir stellen die Maschine entweder ins Treibhaus zu den Tomaten. Oder in den Geräteschuppen.«
»Im Treibhaus ist es zu warm«, vermutete Dienstag.
Emil dachte nach. »Im Geräteschuppen liegen sicher Messer und andre scharfe Gegenstände rum. Das kann leicht über die Gummireifen gehen.«
Gustav lief zu dem Schuppen hinüber, blickte hinein und zuckte die Achseln. »Da ist nicht einmal Platz für einen Roller, geschweige denn für meine schwere Maschine.«
Der Professor lachte. »Das nennst du eine schwere Maschine?«
Gustav war beleidigt. »Ohne Führerschein gibt’s keine schwerere. Mir ist sie schwer genug. Und wenn ich vorhin nicht so doll gebremst hätte, wärt ihr jetzt Knochenmehl.«
»Wir werden im Treibhaus die Heizung abstellen«, schlug Dienstag vor.
Der Professor schüttelte den Kopf. »Da bleiben doch die Tomaten grün!«
»Was glaubst du, wie egal das den Tomaten ist, ob sie grün oder rot sind!«, rief Gustav. »Is ja alles halb so wichtig!«
Da kam Pony Hütchen anspaziert.
Emil winkte ihr und fragte: »Weißt du keine Garage für Gustavs Motorrad?«
Sie blieb stehen und sah sich suchend um. Dann zeigte sie ans Ende des Gartens. »Was für ein Gebäude ist denn das dort?«
Der Professor sagte: »Das ist der sogenannte Pavillon.«
»Und wozu braucht man denselben?«, fragte das Mädchen.
»Keine Ahnung«, entgegnete der Professor.
Sie gingen zu dem Pavillon. Gustav schob sein Motorrad hinterher.
Der Pavillon war ein Glashäuschen, in dem ein weiß lackierter Tisch stand und eine grüne Gießkanne.
»Großartig!«, rief der Professor. »Die geborene Garage!«
Pony Hütchen meinte: »Wenn ich nicht wäre!« Sie öffnete die Tür. Der Schlüssel steckte. Gustav schob das Rad in den Pavillon, schloss die Tür, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in die Tasche.
Die anderen Jungen gingen zum Haus zurück. Sie hatten Hunger. Pony Hütchen wollte ihnen folgen.
Gustav fragte: »Wie gefällt dir eigentlich meine Maschine?«
Sie blickte durch die Glaswand und musterte das Rad.
»Na«, fragte der Junge, »wie gefällt sie dir?«
»Untermittelprächtig«, erklärte sie. Hierauf schritt sie wie eine Königinmutter von dannen.
Gustav schaute ihr verdutzt nach. Dann nickte er seinem kleinen Motorrad freudestrahlend zu, sah beleidigt hinter Pony her und sagte zu sich selber: »Is ja alles halb so wichtig.«
Nach dem Abendessen saßen sie noch eine Weile in der Veranda und blickten in den bunt blühenden Garten hinaus.
»Hat’s geschmeckt?«, fragte Klotilde schließlich neugierig.
Es herrschte selbstredend nur eine Meinung. Und als Emils Großmutter behauptete, seit ihrer Silbernen Hochzeit kein gelungeneres Beefsteak gegessen zu haben, war Fräulein Seelenbinder geradezu glücklich.
Während sie, von Pony unterstützt, abräumte, schrieb Emil eine Karte an seine Mutter. Gustav entschloss sich ebenfalls dazu, einen Gruß nach Hause zu schicken und seine glückliche Ankunft zu vermelden. Sie gaben ihre Karten dem kleinen Dienstag, der in der Pension »Sonnenblick« längst von seinen Eltern erwartet wurde. Er versprach, an der Post vorbeizugehen.
»Aber nicht nur vorbeigehen«, bat Emil. »Steck die Karten lieber in den Kasten!«
Dienstag verabschiedete sich allerseits und sagte: »Morgen nicht zu spät!« Dann verschwand er eilig.
Der Justizrat trat in die Verandatür und betrachtete den Himmel. »Die Sonne ist zwar schon untergegangen«, meinte er. »Aber wir müssen dem Meer noch guten Abend sagen, ehe wir in die Klappe gehen.«
Sie wanderten also durch den dämmrigen Erlenbruch. Nur Klotilde blieb zurück. Sie wollte das Geschirr abwaschen. […]
Als Klotilde am nächsten Morgen an die Tür klopfen wollte, hinter der die Jungen schliefen, hörte sie Gekicher. »Ihr seid schon wach?«, fragte sie und legte ein Ohr an die Tür.
»Wach ist gar kein Ausdruck«, rief der Professor und lachte.
»Wer spricht?«, fragte Gustav streng. »Wer redet mit uns, ohne sich vorzustellen?«
Das Dienstmädchen rief: »Ich bin’s! Die Klotilde!«
»Aha«, sagte Emil, »das Fräulein Selbstbinder.«
»Seelenbinder«, verbesserte Klotilde ärgerlich.
»Nein, nein«, meinte Gustav. »Selbstbinder gefällt uns besser. Wir werden Sie von jetzt ab Selbstbinder nennen. Und wenn Ihnen das nicht passt, nennen wir Sie Schlips! Verstanden, Fräulein Klotilde Schlips?«
»Eine hervorragende Bezeichnung«,...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2020 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
Sonstiges ► Geschenkbücher | |
Schlagworte | Briefe • Emil und die Detektive • Freunde • Freundscahft • Gedichte • Geschenkbuch • Geschichten • Sylvia List • verschenken • Walter Trier |
ISBN-10 | 3-03792-172-2 / 3037921722 |
ISBN-13 | 978-3-03792-172-2 / 9783037921722 |
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