Piranesi (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
272 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-26486-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Piranesi -  Susanna Clarke
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Der neue Roman der Bestsellerautorin von »Jonathan Strange & Mr Norrell«
Ein riesiges Gebäude, in dem sich endlos Räume aneinanderreihen, verbunden durch ein Labyrinth aus Korridoren und Treppen. An den Wänden stehen Tausende Statuen, das Erdgeschoss besteht aus einem Ozean, bei Flut donnern die Wellen die Treppenhäuser hinauf. In diesem Gebäude lebt Piranesi. Er hat sein Leben der Erforschung des Hauses gewidmet. Und je weiter er sich in die Zimmerfluchten vorwagt, desto näher kommt er der Wahrheit - der Wahrheit über die Welt jenseits des Gebäudes. Und der Wahrheit über sich selbst.

Susanna Clarke wurde am 1. November 1959 in Nottingham geboren und verbrachte ihre Kindheit in Nordengland und Schottland. 1981 machte sie ihren Abschluss in Philosophie, Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften am St. Hilda's College in Oxford und arbeitete danach acht Jahre lang in der Verlagsbranche, ehe sie als Lehrerin nach Turin und Bilbao ging. 1992 kehrte sie nach England zurück und begann mit dem Schreiben. Ihr Debütroman »Jonathan Strange & Mr. Norrell« erschien 2004, wurde für den Man Booker Prize nominiert und mit dem Hugo Gernsback Award, dem British Book Awards Newcomer of the Year, dem Locus Award for Best First Novel und dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Er stand elf Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times und wurde 2015 von der BBC als Fernsehserie adaptiert. 2020 erschien ihr zweiter Roman »Piranesi« im Blessing Verlag. Susanna Clarke lebt mit ihrem Partner, dem Schriftsteller Colin Greenland, in Derbyshire.

Batter-Sea

Eintrag für den Zwanzigsten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam

Heute Morgen um zehn Uhr ging ich in den Zweiten Südwestlichen Saal, um mich mit Dem Anderen zu treffen. Als ich den Saal betrat, war er bereits da, lehnte an einem leeren Sockel und tippte auf einem seiner glänzenden Geräte herum. Er trug einen gut geschnittenen Anzug aus schwarzgrauer Wolle und ein leuchtend weißes Hemd, das einen angenehmen Kontrast zu seinem olivfarbenen Hautton bildete.

Ohne von seinem Gerät aufzublicken, sagte er: »Ich brauche Daten.«

So ist er oft: derartig konzentriert auf das, was er gerade macht, dass er vergisst, mich zu begrüßen oder zu verabschieden oder zu fragen, wie es mir gehe. Mich stört das nicht. Ich bewundere seine Hingabe an seine wissenschaftliche Arbeit.

»Was für Daten?«, fragte ich. »Kann ich behilflich sein?«

»Klar«, sagte er. »Besser gesagt komme ich ohne dich nicht weit. Mein heutiges Forschungsthema« – an dieser Stelle sah er auf und lächelte mich an – »bist du.« Er hat ein höchst charmantes Lächeln, wenn er daran denkt, es einzusetzen.

»Tatsächlich?«, fragte ich. »Was möchtest du herausfinden? Hast du eine Hypothese über mich?«

»Ja.«

»Und zwar?«

»Darf ich dir nicht sagen. Es könnte die Daten verfälschen.«

»Ach ja! Das stimmt. Entschuldigung.«

»Schon okay. Es ist normal, neugierig zu sein.« Er legte sein glänzendes Gerät auf den leeren Sockel und drehte sich um. »Setz dich«, sagte er.

Ich ließ mich im Schneidersitz auf dem Pflaster nieder und wartete auf seine Fragen.

»Bequem?«, fragte er. »Gut. Jetzt erzähl mal. Woran erinnerst du dich?«

»Woran ich mich erinnere?« Ich war verwirrt.

»Ja.«

»Als Frage mangelt es ihr an Genauigkeit.«

»Trotzdem«, sagte er. »Versuch, sie zu beantworten.«

»Tja, die Antwort lautet wohl, alles. Ich erinnere mich an alles.«

»Ehrlich?«, sagte er. »Das ist eine ziemlich kühne Behauptung. Bist du dir sicher?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Gib mir ein paar Beispiele, woran du dich erinnerst.«

»Also«, sagte ich. »Nehmen wir einmal an, du würdest mir einen Saal viele Tagesreisen von hier nennen. Vorausgesetzt, ich hätte ihn schon einmal besucht, könnte ich dir aus dem Stegreif den Weg dorthin erklären. Ich könnte dir die beachtenswerten Statuen beschreiben und, mit einigermaßen vertretbarer Exaktheit, ihren Standort, also, an welcher Mauer sie stehen, ob Norden, Süden, Osten oder Westen, und auf welcher Höhe. Außerdem könnte ich sämtliche …«

»Was ist mit Batter-Sea«, fragte Der Andere.

»Äh, was?«

»Batter-Sea. Erinnerst du dich an Batter-Sea?«

»Nein … ich … Batter-Sea?«

»Genau.«

»Das verstehe ich nicht.«

Ich wartete auf eine Erklärung, aber Der Andere blieb stumm. Ich sah ihm an, dass er mich eingehend beobachtete, und war mir sicher, dass diese Frage von entscheidender Bedeutung für seine wie auch immer geartete Forschung war, doch wie ich sie beantworten sollte, war mir absolut schleierhaft.

»Batter-Sea ist kein Wort«, sagte ich schließlich. »Es hat kein Bezugsobjekt. Es gibt nichts auf Der Welt, das von dieser Lautkombination bezeichnet wird.«

Immer noch schwieg Der Andere. Er betrachtete mich weiterhin forschend. Beunruhigt erwiderte ich den Blick.

Dann: »Ach so!«, rief ich, als mir plötzlich ein Licht aufging. »Jetzt verstehe ich, was du da machst!« Ich begann zu lachen.

»Was mach ich denn?«, fragte Der Andere lächelnd.

»Du musst herausfinden, ob ich die Wahrheit sage. Ich behauptete gerade, ich könne den Weg zu jedem Saal beschreiben, in dem ich schon gewesen sei. Ob das stimmt, kannst du allerdings nicht beurteilen. Wenn ich zum Beispiel die Route zum Sechsundneunzigsten Nördlichen Saal schildern würde, wüsstest du nicht, ob meine Wegbeschreibung korrekt ist, weil du noch nie dort warst. Deshalb enthielt deine Frage ein Nonsens-Wort, nämlich Batter-Sea. Sehr listig wähltest du ein Wort, das nach einem Ort klingt. Einem Ort an der See vielleicht, an einer sturmgepeitschten Küste. Würde ich jetzt sagen, dass ich mich an Batter-Sea erinnere, und dann den Weg dorthin beschreiben, wüsstest du, dass ich lüge. Du wüsstest, dass ich nur prahle. Das war eine Kontrollfrage.«

»Genauso ist es«, sagte er. »Exakt darum ging es mir.«

Wir lachten beide.

»Hast du noch viele Fragen an mich?«, erkundigte ich mich.

»Nein. Schon fertig.« Er wollte sich gerade umdrehen, um die Daten in sein glänzendes Gerät einzutragen, da fiel ihm etwas an mir ins Auge, und er sah mich leicht verwundert an.

»Was ist denn?«, fragte ich.

»Deine Brille. Was ist damit passiert?«

»Meine Brille?«

»Ja«, sagte er. »Sie sieht ein bisschen, äh, komisch aus.«

»Was meinst du?«

»Die Bügel sind mit lauter Streifen umwickelt. Und die Enden hängen an der Seite runter.«

»Ach so!«, sagte ich. »Ja! Die Bügel meiner Brille brechen immer wieder ab. Erst der linke. Und dann der rechte. Die salzhaltige Luft greift das Plastik an. Ich experimentiere gerade mit unterschiedlichen Methoden, um sie zu flicken. Am linken Bügel verwendete ich Fischlederstreifen und Fischleim und am rechten Seetang. Das funktioniert weniger gut.«

»Ja«, sagte er. »Kann ich mir vorstellen.«

In den Sälen unter uns prallte die auflaufende Flut gegen eine Mauer. Bumm. Sie zog sich zurück, brandete durch die Türöffnungen an die Mauer des nächsten Raumes. Bumm. Bumm. Bumm. Zog sich erneut zurück; wogte erneut voran. Bumm. Der Zweite Südwestliche Saal vibrierte wie die gezupfte Saite eines Instruments.

Der Andere wirkte besorgt. »Das klingt ziemlich nah«, sagte er. »Sollten wir nicht lieber abhauen?« Er versteht Die Gezeiten nicht.

»Das ist nicht nötig«, sagte ich.

»Okay.« Aber er war nicht beruhigt. Seine Augen weiteten sich, und sein Atem ging flacher und schneller. Unentwegt schielte er von Tür zu Tür, als erwartete er, jeden Moment Wasser hereinströmen zu sehen.

»Ich will nicht eingeschlossen werden«, sagte er.

Einmal war Der Andere im Achten Nördlichen Saal. Eine starke Flut aus den Nördlichen Sälen lief im Zehnten Vestibül auf, kurz darauf gefolgt von einer ebenso starken Flut aus den Östlichen Sälen im Zwölften Vestibül. Riesige Wassermengen flossen in die umliegenden Säle, einschließlich desjenigen, in dem Der Andere sich befand. Das Wasser hob ihn hoch und trug ihn fort, schwemmte ihn dabei durch Türöffnungen und schleuderte ihn gegen Mauern und Statuen. Mehrmals war er vollständig untergetaucht und rechnete damit zu ertrinken. Nach einer Weile warfen die Fluten ihn auf das Pflaster des Dritten Westlichen Saales (eine Entfernung von sieben Sälen von seinem Ausgangspunkt). Dort fand ich ihn. Ich holte ihm eine Decke und heiße Suppe aus Tang und Muscheln. Sobald er wieder laufen konnte, machte er sich ohne ein Wort davon. Wohin er ging, weiß ich nicht. (Das weiß ich nie so recht.) Dies geschah im Sechsten Monat des Jahres, in dem ich die Sternbilder benannte. Seitdem hat Der Andere Angst vor Den Gezeiten.

»Es besteht keine Gefahr«, teilte ich ihm mit.

»Bist du dir sicher?«, fragte er.

Bumm. Bumm.

»Ja. In fünf Minuten wird die Flut im Sechsten Vestibül ankommen und die Treppe hinaufklettern. Der Zweite Südliche Saal – zwei Säle östlich von hier – wird eine Stunde lang überschwemmt sein. Aber das Wasser wird nicht höher als knöcheltief sein und uns nicht erreichen.«

Obwohl er nickte, ließ seine Nervosität nicht nach, und bald darauf verließ er mich.

Am frühen Abend ging ich zum Fischen in das Achte Vestibül. Ich dachte nicht an mein Gespräch mit Dem Anderen; ich dachte an mein Essen und die Schönheit der Statuen im Abendlicht. Doch als ich dastand und mein Netz im Wasser der Unteren Treppe auswarf, stieg ein Bild vor mir auf. Ich sah schwarzes Gekrakel vor einem grauen Himmel und ein hellrotes Flackern; Worte trieben auf mich zu – weiße Worte auf einem schwarzen Hintergrund. Gleichzeitig nahm ich plötzlich dröhnend laute Geräusche und einen metallischen Geschmack auf der Zunge wahr. Und all diese Bilder – eigentlich nicht mehr als Fragmente oder Andeutungen von Bildern – schienen sich um das seltsame Wort »Batter-Sea« zusammenzuballen. Ich versuchte, sie zu fassen, sie vor meinem geistigen Auge schärfer zu stellen, aber wie ein Traum verblassten sie und waren fort.

*

Ein weißes Kreuz

Eintrag für den Dreißigsten Tag des Fünften Monats in dem Jahr, in dem der Albatros in die Südwestlichen Säle kam

Wenn man mein voriges Heft überprüft (Heft Nr. 9), wird man feststellen, dass ich im letzten Monat des vergangenen und in den ersten eineinhalb Monaten dieses Jahres sehr wenig schrieb. (Das kommt manchmal vor, aus einem Grund, den ich weiter unten erklären werde.) Während dieses Zeitraums ereignete sich etwas, über das ich schon länger hatte schreiben wollen. Jetzt hole ich das nach.

Es war tiefster Winter. Schnee häufte sich auf den Stufen der Treppen. Jede Statue in den Vestibülen trug einen Umhang oder ein Tuch oder eine Mütze aus Schnee. An jeder Statue mit ausgestrecktem Arm (von denen es viele gibt) hing ein...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2020
Übersetzer Astrid Finke
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Piranesi
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristik • dystopie fantasy • eBooks • Englische Literatur • Fantasy • Franz Kafka • jonathan strange & mr norrell • Jorge Luis Borges • magische Parallelwelt • Magischer Realismus • New York Times Besteller • New York Times Bestseller • Phantastische Literatur • Roman • Romane • Traumabewältigung • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-641-26486-3 / 3641264863
ISBN-13 978-3-641-26486-4 / 9783641264864
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