Die Totenfrau von Edinburgh (eBook)
576 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-26327-0 (ISBN)
Oscar de Muriel wurde in Mexico City geboren und zog nach England, um seinen Doktor zu machen. Er ist Chemiker, Übersetzer und Violinist und lebt heute in Cheshire. Mit seiner viktorianischen Krimireihe um das brillante Ermittlerduo Frey und McGray feiert er in seiner neuen Heimat und darüber hinaus große Erfolge.
2. Juli
Öffentliche Anhörung vor dem Sheriff’s Court Dundee nach dem Tod von Mr James McGray und seiner Gattin Amina McGray (geborene Duncan)
Die Schritte, mit denen Doktor Clouston zögerlich vortrat, wirkten ohrenbetäubend in der Totenstille, die im Gerichtssaal herrschte. Seine Hände zitterten, und er musste sie zu Fäusten ballen, um seine Beklemmung zu verbergen. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, alle Blicke feindselig, so als wäre er es gewesen, der die Morde begangen hatte.
Er nahm im Zeugenstand Platz, hob das Kinn, legte den Eid ab und wartete, bis der Staatsanwalt auf ihn zutrat.
Der glatzköpfige Mann, dessen Kopfhaut so glatt und bleich war wie polierter Marmor, ließ sich Zeit. Er sortierte Dokumente und las dabei einige von ihnen noch einmal durch, während die Spannung im Raum mit Händen zu greifen war und alle still verharrten.
Clouston blickte den jungen Adolphus McGray an, der soeben seine Aussage gemacht hatte. Der Fünfundzwanzigjährige ragte aus den Reihen der Sitzenden heraus, da er größer war als die meisten anderen und breite Schultern und rabenschwarzes Haar hatte. Außerdem war sein Gesicht bleicher als das aller anderen, während er auf seine bandagierte Hand hinabstarrte, die er sich gegen die Brust gepresst hielt. Die Wunde war noch nicht gänzlich verheilt.
»Doktor Thomas Clouston«, stieß der Staatsanwalt unvermittelt aus, worauf der eine oder andere im Gerichtssaal zusammenfuhr. »Von der Königlichen Irrenanstalt Edinburgh.«
Während er aus der Personalakte vorlas, trat er, spöttisch grinsend, näher. Cloustons Blick blieb an einem Bleizahn hängen.
»Das ist korrekt«, bestätigte der Arzt, der augenblicklich eine Abneigung gegen den Mann verspürte.
»Können Sie uns schildern, was an jenem Abend geschehen ist?«
»Ich bin ausschließlich hier, um über den Geisteszustand von Miss McGray Zeugnis abzulegen.«
»Oh, seien Sie doch so nett, Doktor.«
Murrend kam Clouston der Aufforderung nach. »Ich erhielt ein Telegramm, in dem mir mitgeteilt wurde, dass Mr McGray und seine Gattin angegriffen worden seien. Dass sie bedauerlicherweise verschieden waren. Dass ihr Sohn verletzt worden sei und ihre Tochter in ihr Zimmer habe gesperrt werden müssen. Als ich eintraf …«
»Nein, nein, Doktor«, unterbrach ihn der Staatsanwalt. »Vorher. Ich möchte wissen, was vorher an diesem Tag geschehen ist.«
Clouston schnaubte. »Ich kann nur berichten, was ich von Mr McGrays Sohn und den Bediensteten gehört habe. Ich sehe nicht, inwiefern die Aussage eines Dritten …«
»Bitte«, schaltete sich nun der Sheriff von seiner erhöhten Position aus ein, »beantworten Sie die Frage des Staatsanwalts.« Sein »Bitte« klang eher wie ein Knurren.
Clouston räusperte sich. Je rascher er seiner Pflicht nachkam, desto schneller würde er es hinter sich haben.
»Nach dem, was mir erzählt wurde, verließen Adolphus und Amy, der Sohn und die Tochter von Mr McGray, am frühen Abend das Haus. Sie unternahmen einen Ausritt, da es trotz der fortgeschrittenen Tageszeit draußen noch freundlich war. Um ihren Pferden eine Rast zu gönnen, legten sie nach einer Weile eine Pause ein und setzten sich an den kleinen See, der an das Grundstück der Familie angrenzt. Sie plauderten eine Weile miteinander, bis Miss McGray dann sagte, sie sei unpässlich, und …«
»Inwiefern unpässlich?«
»Auch hier kann ich nur wiederholen, was …«
»Inwiefern?«
Ungeduldig zwirbelte Clouston seinen Schnurrbart. »Ihr Bruder sagte, sie habe über Kopfschmerzen und Atemnot geklagt. Sie beschloss, die Rückkehr zum …«
»Allein?«
»Ja.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Ich gehe fest davon aus, dass es vor der Abenddämmerung war.«
»Sie sagten, die beiden seien am frühen Abend aufgebrochen. Glauben Sie, sie könnten so lange geritten sein, dass die Pferde eine Ruhepause benötigten, und danach noch einen Plausch gehalten haben, und das alles noch vor Sonnenuntergang?«
»Ist Ihnen der Mittsommer nicht geläufig, Mr Pratt?«
Im Gerichtssaal brach Gelächter aus, und allein die Nennung seines Namens bewirkte, dass ein unkontrollierbarer Tic die Lippe des Staatsanwalts zucken ließ.
»Es erscheint mir schlichtweg sonderbar«, sagte er mit unheilvoll klingender Stimme, »dass eine junge Lady sich dazu entscheiden sollte, alleine zu reiten, mitten in der Wildnis, während der Tag sich bereits seinem Ende zuneigte.«
»Es handelte sich um das Grundstück der Familie. Das Mädchen war wahrscheinlich dort schon viele Male allein entlanggeritten.«
»Und sie bestand darauf, ihr Bruder solle zurückbleiben?«
»Sie haben es ihn gerade selbst sagen gehört.«
»Eine junge Lady, die sich unwohl fühlt, lehnt es trotz zunehmender Dunkelheit ab, sich nach Hause begleiten zu lassen. Und das Nächste, was wir erfahren, ist, dass sie Amok läuft und die einzigen beiden Personen im Haus tötet. Kommt Ihnen das nicht ein wenig verdächtig vor?«
»Verdächtig?«
»Sie war kerngesund, als sie ihren Bruder verließ, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und nur Minuten später wird sie zu einer mordlustigen Furie?«
Bei dieser Bemerkung fuhr Adolphus hoch, und er starrte den Staatsanwalt zornig an. Der neben ihm postierte beleibte Gerichtsdiener drückte ihn wieder auf seinen Stuhl hinunter. Es war nicht das erste Mal am heutigen Tag, dass der junge Mann die Beherrschung verlor.
Clouston holte tief Luft. »Das ist ein ungewöhnlicher Verlauf, aber nicht beispiellos. Die Funktionsweise des Verstandes bleibt bedauerlicherweise ein Rätsel.«
Der Staatsanwalt nickte, setzte jedoch ein leicht süffisantes Lächeln auf. »Sie halten also am Antrag auf verminderte Schuldfähigkeit fest?«
»Allerdings. Das Mädchen befindet sich zurzeit in meiner Obhut.«
»Wann haben Sie sie in Ihre – ähm – höchst ehrenhafte Anstalt gebracht?«
»Direkt am nächsten Tag.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Sie stellte eine Gefahr für sich selbst und für andere dar. Bei unserer ersten Begegnung hat sie mich angegriffen.«
»Ach ja«, erwiderte der Staatsanwalt und wandte sich wieder dem Publikum zu, um nun Betsy anzuschauen, die stämmige, in die Jahre gekommene Haushälterin der McGrays, und George, den wettergegerbten Butler. »Wie diese Bediensteten aussagten, haben Sie Miss McGray bei Ihrem Eintreffen mühelos überwältigt.«
Clouston, der eine Falle witterte, holte Luft. »Ja. Das war mir möglich.«
Der Staatsanwalt gluckste. »Es gelang dem Mädchen also, zwei putzmuntere Erwachsene zu töten und ihren Bruder zu verstümmeln, der, wie wir vor Augen haben, nicht gerade ein Fliegengewicht ist … und doch kamen Sie, Doktor, zu keiner Zeit zu Schaden.«
Clouston strich sich über seinen langen dunklen Bart. »Das ist richtig. Als ich eintraf, war Miss McGray ausgehungert und dehydriert. Die Hausangestellten hatten sie in ihrem Schlafzimmer eingesperrt, und niemand wagte sich in ihre Nähe. Das arme Mädchen hatte einen Tag lang nichts gegessen oder getrunken. Sie war nur noch in der Lage, für einen kurzen Moment ein Messer zu zücken. Mit diesem stürzte sie sich auf mich, brach dann aber zusammen.«
Aus dem Augenwinkel heraus schaute Clouston auf die Geschworenen. Hier und da bemerkte er ein Kopfnicken.
»Hat sie noch etwas gesagt?«, erkundigte sich der Staatsanwalt. »Bevor sie zusammenbrach?«
Auf diese Frage hatten alle gewartet. Die Leute reckten den Hals und lauschten gespannt. Einige blinzelten nicht einmal. Zwar kursierten bereits Gerüchte, doch Clouston war der Einzige, der die letzten bekannten Worte des Mädchens vernommen hatte.
»Denken Sie daran, dass Sie hier unter Eid stehen«, mahnte der Staatsanwalt.
Clouston schaute Adolphus an. Sie beide hatten darüber gesprochen. In seinen blauen Augen lag ein gequälter, flehender Blick. Erzählen Sie es ihnen nicht, schien er zu bitten.
Aber er stand unter Eid …
Der Doktor schluckte und spie die Worte dann förmlich aus. »Sie sagte: Ich bin nicht verrückt …«
Raunen und Laute des Erstaunens kamen auf. Triumphierend schritt der Staatsanwalt zur Geschworenenbank.
»Das Mädchen sagte selbst, es sei nicht verrückt! Und wenn sie nicht verrückt war, müssen diese Morde behandelt werden wie …«
»Oh, was für eine törichte Bemerkung!«, brüllte Clouston und sprang auf. Seine dröhnende Stimme ließ alle im Raum verstummen. »Ich habe in den zurückliegenden zwanzig Jahren Hunderte von Patienten behandelt. Neun von zehn behaupten, sie seien nicht geistesgestört. Wollen Sie etwa, dass ich ihnen das abnehme und sie alle auf einmal entlasse – Mr Pratt?«
Erneut brandete tosendes Gelächter auf, worauf der Staatsanwalt dunkelrot anlief.
Noch bevor der Lärm verebbte, fuhr Clouston fort. »Außerdem sagte Miss McGray gleich danach, es sei alles ein Werk des Teufels.«
Augenblicklich verwandelte sich das Gelächter in schockierte Rufe und Laute des Erschreckens. Das war es, wonach die Leute gegiert hatten. Das waren die Aussagen, die sämtliche Zeitungen in Dundee und Edinburgh am folgenden Tag abdrucken würden.
Clouston warf Adolphus einen besorgten Blick zu. Der junge Mann war im Begriff zusammenzubrechen und umklammerte mit der unversehrten Hand seinen Verband. Clouston empfand ein solches Mitleid mit ihm, dass es ihm zu Herzen...
Erscheint lt. Verlag | 21.12.2020 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Frey und McGray | Ein Fall für Frey und McGray |
Übersetzer | Peter Beyer |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Darker Arts |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | Beschäftigung Erwachsene • Detektivarbeit • Die Schatten von Edinburgh • eBooks • Historische Kriminalromane • Historische Romane • Horror • kleine geschenke für frauen • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuerscheinungen 2020 krimi • Neuerscheinungen 2020 Taschenbuch • Rätselhafter Todesfall • Schottland • Scotland Yard • Sherlock Holmes • Viktorianischer Krimi • Witziges Ermittlerduo |
ISBN-10 | 3-641-26327-1 / 3641263271 |
ISBN-13 | 978-3-641-26327-0 / 9783641263270 |
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