Die Frau zwischen den Welten (eBook)

Roman

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
432 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-24545-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Frau zwischen den Welten -  Hera Lind
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Die junge Ella erfährt mit brutaler Härte, was es heißt, nach 1945 als Tochter einer Deutschen in der Tschechoslowakei aufzuwachsen. Revolutionsgarden erschlagen ihren Vater, die Mutter muss sich mit ihrem neugeborenen Sohn in einem tschechischen Dorf verstecken. Ella erträgt immer neue Schicksalsschläge: Klosterschule, Kommunismus, die Ehe mit einem Egozentriker, Psychiatrie - bis sie endlich in Prag der großen Liebe begegnet. Mit dem jüdischen Arzt Milan ist sie zum ersten Mal glücklich. Beide haben nur noch einen Wunsch: zusammen mit Ellas kleiner Tochter in den Westen fliehen. Doch der Geheimdienst ist ihnen dicht auf den Fersen ...

Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert sie immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste. Hera Lind lebt mit ihrem Mann in Salzburg, wo sie auch gemeinsam Schreibseminare geben.

1

Hillemühl im Lausitzer Gebirge, Nordböhmen,

Deutsches Reich, seit 1939 Sudetengau,

Ende März 1945, 6 Wochen vor Kriegsende

Nebenan wackelte der kleine Ziegenstall. Das Vieh schrie und meckerte, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Irgendwas lag in der Luft, das mein Idyll im Haus meiner Großmutter bedrohte, das spürte ich. Auch die bucklige Tante Berta, genannt Bertl, die wegen ihrer Behinderung genauso klein war wie ich, hockte blass und verstört auf ihrem dreibeinigen Hocker in der rustikalen Wohnküche und hörte Radio.

»Was soll nur aus uns werden, vor allem aus dem Kind!«, murmelte sie.

Das Kind war ich. Elf Jahre alt und hier auf dem Land bei Großmutter und Tante Bertl in Sicherheit gebracht.

Großmutter Auguste, die nach der Ziege geschaut hatte, stand kopfschüttelnd in der Tür.

»Wenn der Krieg aus ist, werden uns die Tschechen an den Kragen gehen«, knurrte sie und wischte sich die Hände am Küchenhandtuch ab. »Wir Deutschen werden hier um unser Leben fürchten müssen!«

Erst jetzt schien mich Großmutter richtig zu bemerken.

»Oje, Ella, da bist du ja …« Sie trank einen Schluck Wasser und straffte sich. »Ich werde wieder nach der Ziege schauen, lange kann es nicht mehr dauern.«

»Tante Bertl, wieso müssen wir Deutschen jetzt um unser Leben fürchten?«

»Ach, Kleines, die Welt ist schon lange aus den Fugen geraten!« Tante Bertl sah mich aus ihren tief liegenden Augen traurig an. »Aber du bist jung, du hast dein Leben doch noch vor dir.«

»Aber wir Deutschen leben doch mit den Tschechen friedlich zusammen? Papa ist Tscheche, Mama Deutsche!« Ich schaute Tante Bertl fragend an. »Die können doch nicht plötzlich Feinde sein?«

»Ach Liebes!« Tante Bertl tätschelte mir den Kopf. »Es tut mir nur so leid um deine arme Mama, die in diesen wirren Zeiten ein Baby bekommt! Gut, dass sie nicht hier ist – wer weiß, ob wir nicht bald aus unserem Haus vertrieben werden!«

Ich verstand das alles nicht. In Großmutters beschaulichem Hillemühl sollte sich plötzlich alles ändern? Wieso waren die Deutschen plötzlich unbeliebt? Sie sollten aus Böhmen und Mähren vertrieben werden? Wohin denn nur? Heim ins Reich? Sudetenland war doch unser Reich! Das hatte der Herr Hitler doch laut genug im Radio herumgeschrien!

»Unsere Vorfahren leben doch schon lange hier! Schon seit sie vor knapp zweihundert Jahren unter Kaiserin Maria Theresia hier angesiedelt wurden, das habe ich im Geschichtsunterricht gelernt!«

»Geh der Großmutter helfen, Liebes!« Tante Bertl wollte nicht mehr darüber reden.

Ich tat wie geheißen und wartete unschlüssig vor dem Stall. Mit der bissigen Ziege war nicht zu spaßen, außer Großmutter durfte sich dem bockigen Tier niemand nähern, aber jetzt war sie völlig außer Rand und Band. Das Tier zerrte an dem Strick, mit dem es am Pflock angebunden war, zielte mit den Hörnern auf jeden, der sich ihr näherte, und stieß Töne aus, die ich einer Ziege nie zugetraut hätte.

»Ella!« Großmutter steckte den Kopf aus dem Stall. »Es ist so weit. Die Ziege bekommt Nachwuchs! Magst du zuschauen?«

Mein Herz polterte. »Ich trau mich nicht …«

Oh Gott! Machte meine Mama etwa gerade dasselbe durch? Jeden Moment sollte doch mein Geschwisterchen auf die Welt kommen!

Mama, Papa und ich wohnten eigentlich in Prag in einer geräumigen Wohnung unweit des Denis-Bahnhofs, aber der stand möglicherweise unter Beschuss, und die tschechische Schule war vermutlich längst geschlossen.

Deshalb hatte Papa meine hochschwangere Mama in ein nahe gelegenes tschechisches Dorf namens Zahořany verfrachtet, wo er ihr ein winziges Zimmerchen an der Durchgangsstraße gemietet hatte. Dort sollte Mama »in Ruhe« ihr Baby bekommen.

Irritiert stand ich da, wusste nicht, was ich tun sollte.

»Komm ruhig rein! Die Ziege hat etwas anderes zu tun, als dich zu beißen!« Großmutter winkte mich näher. Unter ihrem roten Kopftuch sahen ihre roten Wangen aus wie kleine verschrumpelte Äpfelchen. »Das ist deine Chance, eine Ziegengeburt mitzuerleben!«

Wollte ich das wirklich? Hätte ich gewusst, was mir in meinem jungen Leben bald noch alles bevorstehen würde, wäre das hier ein Klacks für mich gewesen! Aber ich wusste es nicht. Zum Glück.

An der Hand meiner lieben Großmutter Auguste stapfte ich tapfer in den kleinen Stall. Mit energischen Griffen band Großmutter mir eine Schürze um.

»So. Hier hinter dem Gitter bleibst du stehen. Ich reiche dir die Zicklein dann, und du trägst sie nacheinander vorsichtig in die Küche, einverstanden?«

Oh Gott, was war ich aufgeregt. Fasziniert beobachtete ich meine gebückte Großmutter und die sich windende Ziege, die in meinen Augen beide hochprofessionell ans Werk gingen. Mit geübten Griffen befreite Großmutter das schreiende Tier von drei zuckenden Wesen, die nacheinander ins Stroh plumpsten. Sie machten einen hilflosen, verstörten Eindruck. So war das also, wenn man auf die Welt kam!

»Hier, kleine Hebamme. Das Erste. Vorsichtig, es ist ganz glitschig.«

Respektvoll nahm ich mit meinen Kinderhänden das winzige Ding entgegen, dessen Augen noch verklebt waren, das aber schon mit seinen stangenähnlichen Beinchen strampelte. Es war überraschend leicht und zart, und mich durchströmte ein nie gekanntes Glücksgefühl. Es lebte! Und ich durfte es tragen!

Ehrfürchtig trug ich es in die Küche.

Tante Bertl drehte mit ihren knotigen Fingern das Radio ab. Sie hatte inzwischen eine Kiste mit Stroh ausgelegt und neben den aufgeheizten Ofen gestellt.

»Na bitte, kleine Ella! Das hat doch hervorragend geklappt.«

Nach kurzer Zeit zappelten drei kleine langbeinige Wesen in der Kiste herum, und Großmutter wusch sich lachend die Hände über dem Waschtrog. Auch Tante Bertls Augen lagen nicht mehr so tief in ihren Höhlen, sondern hatten einen warmen Glanz.

»Schau mal, Ella, die denken, du bist ihre Mama! Sie lecken dir die Hände!«

»Aber ihre Mama ist doch im Stall!«

»Wir bringen sie ihr gleich, sie muss sich noch ein bisschen ausruhen.« Großmutter nahm ein Bündel Stroh und machte sich daran, die feuchten Wesen trocken zu reiben.

Fasziniert sah ich zu, wie die drei Zicklein immer wieder versuchten, zum Stehen zu kommen. Doch ihre Beinchen waren so dünn, dass sie jedes Mal einknickten.

»Sie haben noch wenig Kraft, aber warte nur – bald springen sie herum!« Großmutter schenkte sich einen Kaffee ein und wärmte die rissigen Hände an der blauen Blechtasse. »Ella-Kind, das hast du großartig gemacht.«

Die Zeit bei meiner deutschen Großmutter war für mich, das Stadtkind aus Prag, wirklich das reinste Paradies gewesen. Mein um mich besorgter Papa hatte mich schon vor einem halben Jahr aus den Kriegswirren des hundert Kilometer entfernten Prag hierhergebracht, wo ich von den ganzen Irrungen und Spannungen der letzten Kriegsmonate nicht viel mitbekam.

Es war ein wunderschöner Winter gewesen, mit sehr viel Schnee. So viel weiße Pracht hatte ich in Prag noch nie gesehen, da waren die Straßen eher verharscht und schmutzig, wenn Autos, Pferdefuhrwerke und die Straßenbahn ein paarmal über den frisch gefallenen Schnee gerumpelt waren.

Aber hier, im weiß glitzernden Winterparadies im Sudetenland, war alles wie verzaubert und mit Puderzucker bestäubt. Riesige Baumstämme wurden von Waldarbeitern mit schnaubenden Kaltblütern, denen vor Anstrengung der Schaum vor dem Maul stand, von den Bergen heruntertransportiert und hinterließen tiefe Spuren im Schnee. Darin glitten wir Kinder jubelnd hinterher. Oft hielten wir uns sogar an den Enden der Baumstämme fest und ließen uns ziehen. Angst kannten wir nicht, und unsere Mütter und Großmütter hatten etwas anderes zu tun, als uns zu beaufsichtigen.

Ich durfte die deutsche Dorfschule besuchen, was ich unglaublich spannend fand! In Prag wäre ich unter normalen Umständen schon im ersten Schuljahr eines tschechischen Gymnasiums gewesen. Aber hier, in diesem mollig warmen Klassenzimmer, in dem wir unsere nassen Jacken am Bollerofen wärmten, saßen gleich vier Klassen auf abgewetzten Holzbänken im selben Raum. Ich konnte genug Deutsch, um dem Unterrichtsstoff mühelos zu folgen. Ich half sogar den i-Männchen mit dem ABC und dem kleinen Einmaleins. Und nach der Schule zogen wir alle zu Großmutters Gemischtwarenladen, wo ich meinen Mitschülern je eine lila Lakritzpastille aus dem bauchigen Glas spendieren durfte.

Eine Grundschule, eine Gaststätte mit Metzgerei, ein Sägewerk und der kleine Gemischtwarenladen meiner Großmutter – genau das war Hillemühl, das liebliche Fleckchen im Lausitzer Gebirge. Anders als in Prag lebten in diesem böhmischen Dorf fast nur Deutsche. So wie meine Mama Marie Kochel, die auch hier aufgewachsen war. Sie war eine sehr attraktive Frau und wurde von allen um ihre Lockenpracht beneidet. Mein Vater Jakob war wiederum Tscheche. Er hatte meine Mama bei einem Dorffest kennengelernt. Sie sang damals im Chor und war die Schönste von allen Mädchen, die unter der Linde Volkslieder zum Besten gaben und dazu tanzten. So erzählte es mir mein Vater immer wieder. Doch weil sie eine Deutsche war, wurde seine Liebe zu ihr von seiner sehr national eingestellten Familie nicht begrüßt. Trotzdem heiratete er seine Marie vom Fleck weg, die ihm nach Prag folgte. Dort arbeitete mein Vater als Prokurist in einer jüdischen Weinfirma. Er war extrem kurzsichtig. Deshalb beugte er sich mit seiner runden Nickelbrille stets tief über seine Akten. Im ersten...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Familiensaga • Flucht aus Prag • Mutige Frau • Nachkriegs-Tschechien • Neuanfang im Westen • Prag • Sudetendeutsche
ISBN-10 3-641-24545-1 / 3641245451
ISBN-13 978-3-641-24545-0 / 9783641245450
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