Klaras Schweigen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
400 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-24437-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Klaras Schweigen -  Bettina Storks
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Freiburg im Breisgau, 2018: Nach einem Schlaganfall spricht Miriams hochbetagte Großmutter plötzlich französische Worte - eine Sprache, die sie angeblich nie gelernt hat. Miriam erkennt schnell, dass Klara weit mehr verbirgt, doch alle Nachfragen finden kein Gehör. Was genau passierte im Leben ihrer Großmutter? Warum verließ sie Freiburg und ging im Dezember 1949 überstürzt nach Konstanz? Miriams Suche nach Antworten führt sie bis in die Bretagne, immer auf der Spur eines jahrzehntelang gehüteten Familiengeheimnisses ...

Bettina Storks, geboren bei Stuttgart, ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin. Sie war viele Jahre als Redakteurin tätig, bevor sie ihr erstes Buch veröffentlichte. Die Leidenschaft für Familiengeheimnisse und die Faszination für die deutsch-französische Geschichte vereint Bettina Storks immer wieder in ihren vielschichtigen Romanen. Die Autorin lebt und arbeitet am Bodensee.

MIRIAM

1

Freiburg,

März 2018

»Sie spricht wieder.«

Miriam hielt das Handy dicht an ihr Ohr und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Achtlos warf sie einen Blick aus dem Fenster, sah auf das gegenüberliegende dunkelrote Backsteingebäude der ehemaligen Universitätsbibliothek und atmete tief durch.

Was für eine wunderbare Nachricht! Eine, die Miriams Panik vor Hiobsbotschaften im Zusammenhang mit ihrer Großmutter für einen Moment verdrängte. In der Bibliothek des Deutschen Seminars der Albert-Ludwigs-Universität schien es mucksmäuschenstill zu sein.

»Wirklich?«, flüsterte Miriam ungläubig.

Schräg hinter ihr raschelte jemand mit Papier.

»Ja«, sagte Miriams Großtante Lotte. »Die Stationsleitung hat angerufen. Sie konnten dich nicht erreichen. Klara spricht wieder.«

Gleich nach der Diagnose vor sechs Wochen hatten die Ärzte Miriam erklärt, man müsste Geduld haben, und ob Klara nach ihrem Schlaganfall jemals wieder sprechen würde, sei ungewiss.

»Was sagt sie?«, fragte Miriam leise und sah sich um.

In der Präsenzbibliothek hatten sich an diesem kalten Märztag nur einige Studierende eingefunden.

Miriam hatte ihren Lieblingsplatz am Fenster bekommen, vor ihr lagen drei aufgeschlagene Bücher mit Post-its, ein Notizbuch, ein Füllfederhalter. Wann immer es ging, ließ sie den Laptop im Büro und schrieb von Hand.

Fontane. Die Berliner Romane. Effi Briest. Eine literaturgeschichtliche Abhandlung über die Standesunterschiede im ausgehenden 19. Jahrhundert und der fragwürdige Versuch, ihn durch amouröse Abenteuer zu überwinden. Nahezu ausschließlich waren Frauen die Verliererinnen dieser Grenzüberschreitung und die Schöpfer jener Werke Männer.

»Ist sie bei klarem Verstand?«, flüsterte Miriam weiter, klappte ihre Bücher zu, klemmte sie zusammen mit den anderen Unterlagen unter den Arm und stand auf.

»Warum sprichst du denn so leise? Ich verstehe dich kaum«, hörte sie die vorwurfsvolle Stimme ihrer Großtante.

»Ich bin an der Uni«, flüsterte Miriam, während sie an den meterhohen Bücherregalen vorbeiging.

Der Geruch von bedrucktem Papier streifte ihre Nase.

Im Flur empfing sie die Geräuschkulisse eines aus dem Winterschlaf erwachenden Universitätsbetriebs. In zwei Wochen war Semesterbeginn. Das Echo der Stimmen mischte sich mit Geraschel, Schritten und Zurufen der Studierenden. Miriam nahm ihren Rucksack, verstaute ihr Arbeitsmaterial darin und lief mit dem Handy am Ohr in Richtung der Treppe.

»Ich war in der Bibliothek, Tante Lotte, ein Seminar vorbereiten. Was genau hat sie denn gesagt? Ist sie bei klarem Verstand?«

»Das weiß ich nicht. Das Wichtigste ist, dass es Hoffnung gibt. Ab 17 Uhr hat der behandelnde Arzt Zeit für ein Gespräch mit dir. Er wird dir sicher mehr erklären können. Gibst du mir Bescheid, nachdem du dort warst?«

Miriam sah auf die Uhr – kurz nach drei. Ihre Schritte hallten auf den breiten Steintreppen, die sich durch die Mitte des Betonbaus, wo das Deutsche Seminar lag, zogen. Draußen holte Miriam tief Luft und hielt Ausschau nach ihrem Rad.

Über ihr ein strahlend blauer Himmel.

»Ja, gerne, Tante Lotte. Ich mache mich direkt auf den Weg und melde mich später bei dir.«

Sie schlüpfte in die Träger ihres Rucksacks, öffnete das Schloss ihres Rads und schob es auf den Gehweg, vorbei am Kollegiengebäude I, dem ältesten Gebäude der Philosophischen Fakultät, an dessen Seite in goldenen Lettern der Bibelspruch Die Wahrheit wird euch freimachen prangte – ein schlichter Satz, an den Miriam stets geglaubt hatte.

Schräg gegenüber beschien die Mittagssonne das gläserne futuristische Gebäude der neuen Universität.

Mehr als sechs Wochen war Miriams Großmutter kein Wort über die Lippen gekommen. Ende Januar, mitten in einem Telefonat mit Miriam, war es passiert. Plötzlich hatte Klara gelallt, anschließend wahllos Silben aneinandergereiht und dann einfach den Hörer aufgelegt. Ausgerechnet an jenem Tag war Klara allein zu Hause gewesen. Klaras Schwester Lotte, die im selben Haus lebte, war für ein paar Tage im Schwarzwald.

Miriam hatte blitzschnell reagiert, den Notarzt gerufen und war wenige Minuten nach dem Vorfall zeitgleich mit dem Rettungsdienst vor der Wohnung ihrer Großmutter eingetroffen. Nahezu apathisch hatte Klara die Behandlung über sich ergehen lassen und auf keine einzige Frage reagiert.

»Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute«, war die Erklärung der Notärztin gewesen, und Miriam hatte starr vor Angst und Entsetzen dabei zugesehen, wie das Rettungsteam ihre Großmutter für den Transport ins Krankenhaus vorbereitet hatte.

Dem vorausschauenden Handeln jener Ärztin war es zu verdanken, dass Klara sich verhältnismäßig schnell erholte. Die einseitigen Lähmungen der linken Körperhälfte hatten sich zügig verbessert. Schon bald, so hieß es, würde Klara wieder gehen können. Nach einer Intensivbehandlung im Krankenhaus war die Verlegung in eine Reha-Einrichtung etwas außerhalb der Stadt erfolgt.

Seitdem war kein Tag vergangen, an dem Miriam nicht die Zeit auf sich genommen und ihre Großmutter besucht hatte. Dort war sie so oft wie möglich mit ihr im Rollstuhl ins Freie gefahren oder hatte ihre ersten Schritte auf dem Flur begleitet. Schon bald konnte ihre Großmutter wieder gehen. Nur gesprochen hatte sie seit jenem verhängnisvollen Tag bis heute kein einziges Wort.

Und so wurde die Angst, ihre Großmutter endgültig zu verlieren, Miriams ständiger Begleiter. Aber weit vor Miriams Ängsten stand der Wunsch, Klara möge die letzten Jahre in Würde und Selbstbestimmung verbringen. Dazu musste sie sich ausdrücken können, brauchte ihre Sprache.

Miriam hatte ein besonders enges Verhältnis zu ihrer Großmutter, seit sie ihre Eltern bei einem Autounfall im Alter von zwei Jahren verloren hatte. Miriam besaß keinerlei Erinnerungen an ihre Eltern. Alles, was sie über sie wusste, speiste sich aus Erzählungen und Fotos.

Mit klopfendem Herzen betrat Miriam das Zimmer ihrer Großmutter. Es war kurz vor vier.

Klara lag in ihrem Bett, den Blick zur Decke gerichtet. Das grau gewellte Haar war zurückgekämmt. Erneut bemerkte Miriam, wie dünn und zerbrechlich sie in den letzten Wochen geworden war.

Langsam ging Miriam zum Krankenbett, während sie einen Blumenstrauß in die Höhe hielt.

»Hallo, Omi. Wie geht es dir denn heute?«

Miriam küsste ihre Großmutter auf die Wange und nahm ihre Hand.

Auf Klaras Lippen legte sich ein zaghaftes Lächeln, das sofort wieder verschwand.

»Ich habe dir Tulpen mitgebracht. Schau nur!«

Klara lächelte und schloss seufzend die Augen.

»Ich bringe dir den Frühling, Omi, deine Lieblingsblumen in drei Farben. Sind sie nicht wunderschön?«, fragte Miriam noch einmal und streichelte die Hand ihrer Großmutter. »Sie sagen, du sprichst wieder. Das ist wunderbar! Jetzt geht es aufwärts. Du wirst schon sehen!«

Es war, als spräche sie sich selbst Mut zu.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bis Klara die Augen wieder öffnete. Miriam versuchte den Blick ihrer Großmutter zu deuten und ihm etwas Positives abzugewinnen – aber da war nur eine seltsame Mischung aus Resignation und Aufruhr.

Hatte sich das Pflegepersonal getäuscht?

Wie so oft in den letzten Wochen fragte sich Miriam, ob ihre Großmutter mit fast neunzig Lebensjahren gehen wollte, ob sie einfach genug hatte. Sie, die ein Leben lang beweglich gewesen war, geistig und körperlich. Sie, die gerne gesprochen und Geschichten erzählt hatte. Sie, die Miriams Vorliebe für Romane schon in frühen Jahren mit Buchgeschenken und Empfehlungen gefördert und Miriams Berufswahl als Literaturwissenschaftlerin stets unterstützt hatte.

Dieselbe Frau schwieg nun schon so lange.

Miriam ließ Klaras Hand los, stand auf, nahm eine Blumenvase vom Regal, ging damit zum Waschbecken und füllte die Vase.

Sie warf einen Blick in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing, und beobachtete ihre Großmutter, wie sie ausdruckslos dalag.

»Man hat mir gesagt, du hättest gesprochen, Omi.« Miriam bemühte sich um einen belanglosen Ton. »Sag was, Omi! Auch fluchen ist erlaubt«, sagte sie aufmunternd in ihr Spiegelbild, während das Wasser in die Vase plätscherte. »Möchtest du wiederholen, was du heute gesagt hast?«

Sie zwinkerte ihrer Großmutter zu, dann drehte sie den Hahn zu, löste die Blumen aus dem Papier und steckte sie in die Vase.

Plötzlich hörte sie undefinierbare Laute hinter sich. Abrupt drehte sie sich um.

Klara lächelte wieder.

Eilig stellte Miriam die Blumen auf den Tisch und trat zurück an das Bett ihrer Großmutter. Sie setzte sich und nahm erneut ihre Hand.

»Möchtest du das noch einmal sagen?«

Klara bewegte die Lippen und zog ihre Hand weg. Dann tippte sie mit den Fingerspitzen auf die Decke. Immer wieder im gleichmäßigen Takt, als übe sie eine Tonfolge auf dem Klavier.

Klara hatte nie ein Instrument gespielt.

Plötzlich hielt sie inne, und ihre Lippen bildeten Laute, unzusammenhängendes Kauderwelsch. Leise, ganz leise, kamen Töne aus ihrem Mund.

Miriam lauschte und bemühte sich, die Silben zusammenzusetzen.

War es das, was die Ärzte Aphasie nannten? Genau wie vor Wochen am Telefon reihte Klara lallend und zusammenhanglos Silben aneinander.

Klaras Mimik verriet Unruhe, als ginge in ihrem Inneren...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1950er Jahre • Bretagne • Das geheime Lächeln • eBooks • Familiengeheimnis • Familiensaga • Frankreich • Frauenromane • Freiburg • Historische Romane • Konstanz • Leas Spuren • Liebesromane • Nachkriegsgeschichte • Saint-Malo • Verbotene Liebe
ISBN-10 3-641-24437-4 / 3641244374
ISBN-13 978-3-641-24437-8 / 9783641244378
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