Das Flüstern der Bäume (eBook)
560 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24394-4 (ISBN)
Jacinda Greenwood weiß nichts über ihre väterliche Familie, deren Namen sie trägt. Sie arbeitet als Naturführerin auf Greenwood Island, doch die Namensgleichheit, so glaubt sie, ist reiner Zufall. Bis eines Tages ihr Ex-Verlobter vor ihr steht. Im Gepäck hat er das Tagebuch ihrer Großmutter. Jahresring für Jahresring enthüllt sich für Jacinda endlich ihre Familiengeschichte. Seit Generationen verbindet alle Greenwoods eines: der Wald. Er bietet Auskommen, ist Zuflucht und Grund für Verbrechen und Wunder, Unfälle und Entscheidungen, Opfer und Fehler. Die Folgen all dessen bestimmen nicht nur Jacindas Schicksal, sondern auch die Zukunft unserer Wälder ...
»Eine Familiensaga voller unerwarteter Wendungen.« stern
Michael Christie, in Thunder Bay, Ontario, geboren, studierte Psychologie und arbeitete in der Obdachlosenhilfe, bevor er 2011 sein Debüt »The Beggar's Garden« veröffentlichte. Sein zweiter Roman »Das Flüstern der Bäume« wurde mehrfach nominiert, u.a. für den bedeutendsten kanadischen Literaturpreis, den Scotiabank Giller Prize. Michael Christie lebt mit seiner Familie in einem selbst gezimmerten Holzhaus auf der Insel Galiano vor Vancouver.
Gottes Mittelfinger
Das erste Licht sickert durch die Zweige, als Jake die Pilgergruppe dieses Morgens am Ausgangspunkt des Pfads begrüßt. Heute wird sie sie unter den himmelhohen Spitzen der Douglastannen und Riesenlebensbäume und zwischen granitenen, mit elektrisch glitzerndem grünem Moos überzogenen Felsnasen hindurch zum Primärwald führen, wo die Erleuchtung wartet. Aufgrund des angekündigten Regens ist das Pilgerdutzend in Leafskin gehüllt, den atmungsfähigen Stoff, der Gore-Tex ersetzt hat und durch seine nanotechnischen Eigenschaften die wasserabweisende Wirkung von Blättern nachbildet. Obwohl auch Jake von der Kathedrale mit einer Leafskin-Jacke ausgestattet wurde, trägt sie sie selten, aus Furcht, Firmeneigentum zu beschädigen; sie ist schon verschuldet genug. Doch als sie durch den Nieselregen trottet, wünscht sich Jake, sie hätte heute eine Ausnahme gemacht.
Sie hat zwar morgens vor der Arbeit einen Liter Kaffee in sich hineingeschüttet, doch Jakes verkatertes Gehirn fühlt sich wie Toffee an und pocht mit jedem ihrer Schritte schmerzhaft. In diesem jämmerlichen Zustand ist sie kaum fähig, vor Fremden das Wort zu ergreifen, beginnt aber bei den ersten Lichtungen des Primärwalds mit ihrer üblichen Einführung.
»Willkommen im pochenden Herz der Baumkathedrale von Greenwood«, sagt sie theatralisch. »Sie stehen auf siebenundfünfzig Quadratkilometern. Dies ist einer der letzten verbliebenen Primärwälder auf Erden.« Die Pilger zücken augenblicklich ihre Telefone und beginnen mit den Daumen auf die Bildschirme einzuhämmern. Jake weiß nie, ob sie den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen überprüfen, Ausrufe atemlosen Erstaunens posten oder irgendetwas anderes, von der Führung völlig Unabhängiges tun.
»Diese Bäume fungieren als riesige Luftfilter«, fährt sie fort. »Ihre Nadeln saugen Staub, Kohlenwasserstoffe und andere giftige Partikel auf und atmen reinen Sauerstoff aus, der reich an Phytonziden ist, Chemikalien, die den Blutdruck senken und den Herzschlag verlangsamen. Eine dieser ausgewachsenen Tannen allein kann den täglichen Sauerstoffbedarf vier erwachsener Menschen stillen.« Wie auf Kommando beginnen sich die Pilger bei genussvollem Einatmen zu filmen.
Zwar darf Jake in ihrem kurzen Abriss die auf der Erde grassierenden Staubstürme erwähnen, doch die Richtlinien der Kathedrale verbieten es, ihre Ursache zur Sprache zu bringen: das Große Welken – der Pilz- und Insektenbefall, der die Wälder der Erde vor zehn Jahren überrollt und Hektar um Hektar getilgt hat. Die Pilger sind gekommen, um abzuschalten und nicht an das Welken zu denken, und es ist Teil von Jakes Job (und ihr ist durchaus bewusst, dass Jobs derzeit Mangelware sind), ihnen das zu ermöglichen.
Nach ihrer Einführung lockt sie die Pilger einige Kilometer in Richtung Westen in einen Hain echter Altholzriesen. Es sind Bäume von einer solchen Unermesslichkeit und Erhabenheit, dass sie unecht wirken wie Filmrequisiten oder Denkmäler. In der Gegenwart dieser Giganten nehmen die Stimmen der Pilger einen ehrerbietenden Tonfall an. Die offizielle Firmenpolitik von Holtcorp sieht vor, den Wald als die Kathedrale und seine Gäste als Pilger zu bezeichnen. Laut Knut, dem dienstältesten Waldführer von Greenwood Island und Jakes engstem Freund, liegt das daran, dass der Wald die erste Kirche war (und nun vielleicht die letzte ist). Zu einer Zeit, in der eine Flugreise noch kein Jahresgehalt verschlang, war Jake im Rahmen eines Schüleraustauschs einmal in Rom gewesen und hatte in den Säulen und Kolonnaden dort nur gekrümmte Äste und faserige Stämme gesehen. Die belaubte Kuppel der Moschee, die aufwärts strebenden Türme der Abtei, das gerippte Gewölbe der Kathedrale – waren nicht die Sakralbauten aller Glaubensrichtungen von Bäumen inspiriert?
Einige der Pilger beginnen jetzt tatsächlich, ganz frei von Ironie oder Beschämung Stämme zu umarmen. In ihren Informationsbroschüren werden die Pilger angewiesen, den Bäumen nicht zu nahe zu kommen, da sie mit ihrem Gewicht den Boden um die Stämme herum zusammenpressen, wodurch die Wurzeln weniger Wasser aufnehmen können. Aber Jake hält sich zurück und sieht zu, wie die Pilger sich umeinanderscharen, fotografieren und schnaufend die durch Chlorophyll gereinigte Luft einatmen, alles mit einer Ehrfurcht, die eine Mischung aus Inszenierung und tatsächlicher Wertschätzung ist, wobei Jake das Mischverhältnis nicht genau abschätzen kann. Bald bestürmen die Pilger sie mit technischen Fragen: »Was wiegt denn so ein Teil?«, fragt ein klein gewachsener Mann, seinem Dialekt nach zu urteilen aus dem Mittleren Westen. »Das erinnert mich an meine Kindheit«, sagt eine Investmentbankerin Mitte fünfzig und streicht sanft über eine moosbedeckte Zeder.
Die meisten der Pilger scheinen sich auf die grüne Großartigkeit einzulassen, doch ein paar von ihnen wirken verloren, unbeeindruckt. Jake sieht zu, wie der Mann aus dem Mittleren Westen die Handfläche auf die Borke einer Douglastanne legt, in die Krone hinaufschaut und Ehrfurcht zu empfinden versucht. Aber sie spürt seine Enttäuschung. Bald suchen er und die anderen in ihren Telefonen Zerstreuung. Das kommt nicht überraschend. Obwohl sie den stolzen Eintrittspreis der Kathedrale bezahlt und die unwürdigen Reisebedingungen in der Zeit nach dem Welken überstanden haben, sind immer einige dabei, denen es nicht gelingt, sich von dem Gedanken daran frei zu machen, wie entspannt sie in diesem Augenblick eigentlich sein sollten und wie teuer es sie zu stehen kommt, dass es ihnen nicht gelingt.
Es ist einfach, sich über die Pilger lustig zu machen, aber ist Jake nicht aus den gleichen Gründen hier auf Greenwood Island? Um den Bäumen der Insel etwas Seltenes und Aufbauendes zu entlocken, um ihre saubere Luft zu atmen und sich in ihrer Mitte weniger verzweifelt zu fühlen? Auf dem Festland leben die Pilger in opulenten klimatisierten Türmen, die sie vor dem Rippenwürger schützen – der in den mit Staub bedeckten Slums der Welt herrschenden neuen Tuberkuloseart, die ihren Namen dem Husten verdankt, der Rippen wie Kleinholz brechen lässt, besonders bei Kindern –, und sie kommen zur Kathedrale, um nach etwas Unbeschreiblichem zu suchen, das ihrem Leben abgeht. Sie haben den Artikel über die heilende Wirkung des shinrin yoku gelesen, was auf Japanisch so viel wie »Waldbaden« heißt. Sie haben den Podcast darüber gehört, dass man durch einige Stunden inmitten von Bäumen seine Kreativität verdreifachen kann. Sie kommen also her, um Heilung zu erfahren, so zeitlich begrenzt sie auch sein mag, und wäre Jake wegen ihres Studentendarlehens nicht bis über beide Ohren verschuldet und hätte sich nicht obendrein für ein so jämmerlich unrentables Berufsfeld wie die Botanik entschieden, dann würde sie sich gern zu ihnen zählen.
Als Jake in der Ferne ein Grüppchen von Waldaufsehern sieht, treibt sie die Pilger zu dem Picknickbereich, den der mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Chefkoch des Resorts »Exklusives Holzfällerlager« getauft hat. Dort nehmen sie das vorbereitete Mittagessen ein. Heute gibt es hausgemachte Hotdogs mit Ketchup von Pfifferlingen und zum Nachtisch Bio-Marshmallows auf Vollkornkeksen. Jake sieht ihnen beim Fotografieren des Essens zu, da fällt ihr Blick auf einen abseits der Gruppe sitzenden Pilger, der eine große Sonnenbrille und eine unmodische Kappe trägt, die er tief ins Gesicht gezogen hat. Er ist wohlhabend, wahrscheinlich irgendein Holtcorp-Manager oder Schauspieler. Weil sich Jake keinen Internetzugang für ihre Mitarbeiterhütte leisten kann, erkennt sie die bekannten Besucher des Resorts nur selten. Die echten Prominenten lassen sich trotzdem an der Aura identifizieren, die sie umgibt, dem Gefühl, dass sie eine tiefere Verbindung mit der Welt eingegangen sind als gewöhnliche Menschen wie Jake.
Nach dem Mittagessen geleitet sie die Pilger zum Finale der Führung, dem größten Baumbestand auf Greenwood Island, wo sie ihnen einen poetischen kleinen Text vorträgt, den sie verfasst hat: »Viele Bäume der Kathedrale sind mehr als zwölfhundert Jahre alt. Damit sind sie älter als unsere Familien, älter als die meisten unserer Namen. Älter als unsere aktuellen Regierungsformen, älter sogar als manche unserer Mythen und Ideologien. So wie dieser hier«, sagt sie und tätschelt die dreißig Zentimeter dicke Borke der höchsten Douglastanne der Insel, eines atemberaubenden Baums, den Knut und sie insgeheim »Gottes Mittelfinger« nennen. »Dieser Siebzig-Meter-Titan war schon fünfundvierzig Meter hoch, als Shakespeare sich hinsetzte und die Feder in die Tinte tauchte, um Hamlet zu schreiben.« Sie verstummt kurz und sieht zu, wie die Gruppe von einer stoischen Feierlichkeit ergriffen wird. Sie trägt dick auf, aber ihr Kater hat sich verflüchtigt, und sie hat endlich in ihren Sprechfluss gefunden. Einmal in Fahrt, hört sie nicht auf, ehe sie die Pilger mit den Wundern der gesamten Schöpfung beeindruckt hat. »Mit jedem Lebensjahr hat dieser Baum einen neuen Kambiumring hervorgebracht, um den Wachstumsring des Vorjahrs zu schützen. Das sind zwölfhundert Jahre Kernholz, genug, um die Nadelkrone des Baums in die Wolken zu katapultieren.«
Als sie zum Schluss kommt, schießt eine Hand empor, an deren Handgelenk eine dicke Rolex baumelt. »Sie haben eine Frage?«, sagt Jake.
»Was meinen Sie, was so einer wert ist?«, fragt der Mann mit der Kappe. »Ein Baum. Grobe Hausnummer.«
Normalerweise würde sie eine Frage von so kruder kapitalistischer Dümmlichkeit übergehen. Aber aus diesem Gesicht, hinter diesen regimentartig geraden Zähnen hervorkommend, die an echte Perlen erinnern, wirkt sie...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2020 |
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Übersetzer | Stephan Kleiner |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Greenwood |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Annie Proulx • Buchmesse Gastland Kanada • climate fiction • Delia Owens • dystopie fantasy • eBooks • Familiensaga • Generationenroman • Globalisierung • Kanada • Kanada Wetter • Klimawandel • Laetitia Colombani • Maja Lunde • Öko-Roman • Ökosystem • Richard Powers • Roman • Romane • Scotiabank Giller Prize • Wälder |
ISBN-10 | 3-641-24394-7 / 3641243947 |
ISBN-13 | 978-3-641-24394-4 / 9783641243944 |
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