Die fremde Küste (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
432 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-23392-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die fremde Küste - Virginia Baily
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Sie sucht das Abenteuer und die Freiheit, doch sie bezahlt einen hohen Preis
Rom, 1929. Mit siebzehn lässt Liliana ihre italienische Heimat hinter sich und reist voller Abenteuerlust mit dem Schiff nach Tripolis. Als sie an der Reling steht und auf die verheißungsvolle weiße Stadt blickt, ahnt sie noch nicht, was sie im italienisch besetzten Libyen erwartet: Eine Freundschaft mit der wunderschönen, wilden Beduinin Farida und eine verhängnisvolle Affäre mit Ugo, einem Oberst der Luftwaffe und überzeugtem Faschisten. Unweigerlich verknüpfen sich drei Schicksale und münden in eine unaufhaltsame Katastrophe, die Lilianas Leben und das ihrer Familie für immer prägen wird.

Virginia Baily studierte Italienisch, Französisch und Englisch und leitet eine Zeitschrift für Kurzgeschichten, die sie mitbegründete. Neben dem Schreiben gilt ihre Leidenschaft Reisen nach Afrika und Italien. Im ersten Licht des Morgens schrieb sie während eines langen Aufenthalts in Rom. Der Roman wurde in England zum Bestseller und erscheint in zwölf Ländern. Heute lebt die Autorin im südenglischen Exeter.

2

Heimatlose Hunde

Ein Ausschnitt aus der Repubblica vom Mai 1980 – ein Artikel mit der Überschrift Versuchter Mord an libyschen Dissidenten in Rom.

Der Himmel war grau, aber es war warm und kein Regen angesagt. Später sollte die Sonne hervorkommen und sämtliche Wolken auflösen. Es war Anfang Mai, und zum ersten Mal in diesem Jahr herrschte in London echtes Sandalenwetter. Liliana zog den Leinenbeutel, in dem sie ihre Sommerschuhe aufbewahrte, unter ihrem Bett hervor. Obenauf lag eine von Alans grauen Socken.

Sie ging in die Hocke und musterte ihn.

Alan war vor Weihnachten gestorben, im Februar hatte sie seine Sachen weggegeben. Ihre Freundin Joan hatte gesagt, das sei therapeutisch, und war gekommen, um zu helfen.

Joan war eine langjährige Freundin aus der Kirchengemeinde. Seit auch Liliana Witwe war, sahen sie sich deutlich öfter.

Alans Hemden, Anzüge, Krawatten, Gürtel, Brogues, sein großer Mantel und seine besten Pullis wurden in Tüten gepackt, um sie der Hilfsorganisation in Muswell Hill zu spenden, für die Joan ehrenamtlich arbeitete. Schlafanzüge, Unterwäsche und Socken landeten im Müll. »Niemand will anderer Leute Socken tragen«, sagte Joan. Es gab ein Paar Wandersocken, das er nur einmal getragen hatte.

Alan war gerne gewandert. Manchmal hatte ihn Liliana in die Yorkshire Dales begleitet. Dann ging es in derben Stiefeln und wasserabweisender Kleidung im Nieselregen auf den Gipfel, wo in den Nebel gespäht wurde. Liliana hatte nie richtig verstanden, was das sollte, sich aber nichts anmerken lassen. Das war eines von diesen seltsamen englischen Dingen wie Yorkshire Pudding mit Sauce, Teebecher, Essigchips und selbst bei kühlem Wetter an den Strand gehen. Sie hatte all das bereitwillig übernommen, weil sie in England eine neue Heimat gefunden hatte – erst recht, nachdem ihr Bruder und seine Familie verschwunden waren. Seitdem war Alan ihre Familie gewesen.

Sie griff nach der einsamen Socke, die Joans Ausmistaktion entwischt war. Es steckte etwas drin, vorne bei den Zehen. Sie zog ein Bündel Scheine hervor, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Sie waren um einen Zettel gefaltet, auf dem in Alans Handschrift stand: Verwöhn dich, mein Schatz. Sie zählte die Scheine. Fünfhundert Pfund.

Verrückt, dachte sie. Ein Geschenk aus dem Jenseits. Guter alter Alan.

Sie schlüpfte in ihre Sandalen, steckte das Geld und den Zettel in das mit einem Reißverschluss versehene Innenfach ihrer Handtasche und machte sich auf den Weg.

Die Rosskastanien an der Priory Road waren voller weißer und dunkelrosa Blüten, die schwer zwischen den Blättern hingen. Was für üppige, ausladende Bäume!, dachte Liliana, während sie unter ihnen herging und über ihren unerwarteten Geldsegen nachdachte.

Verwöhn dich.

Was sollte das bedeuten? Sie wartete an der Bushaltestelle. Alans Aufforderung bekam plötzlich so eine Tragweite, so etwas Nachdrückliches, seltsam Provozierendes. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt wusste, wie das ging, sich verwöhnen. Was das eigentlich hieß. Auf einmal wurde sie sich der unsichtbaren Kräfte bewusst, die ihr Leben bestimmt und sie hierhergeführt hatten, in diese Straße Nordlondons, ins Hier und Heute im Mai 1980. Sie hatte immer nur reagiert, erduldet und improvisiert, statt aktiv zu entscheiden oder sich etwas zu gönnen.

Der Bus kam, und sie stieg ein.

Sie würde sich auf ein Sandwich mit Joan treffen, nachdem deren Schicht bei der Hilfsorganisation vorbei war. Doch zunächst wollte sie in die Bibliothek, um italienische Zeitungen zu lesen. Das war relativ neu, dass sie sich mit Nachrichten aus Italien beschäftigte. Sie hatte es sich erst in den letzten Monaten angewöhnt. Dienstags und donnerstags, wenn Joan bei der Hilfsorganisation arbeitete, nahm sie den Bus nach Muswell Hill, um dann eine gute Stunde die Repubblica vom Vortag zu lesen.

Nach Jahrzehnten, in denen sie englischer gewesen war als jeder Engländer, war es, als hörte sie den Ruf ihres Geburtslandes. Es schrie nicht und fuchtelte nicht, drängte sie zu nichts. Auf eine leise, unitalienische Art schien es ihr nahezulegen, dass das, was sie hinter sich lassen wollte, als sie vor Jahrzehnten nach London zog, doch ziemlich lange her war. Seitdem war viel Wasser den Fluss hinuntergeflossen. »Oder besser gesagt: Wasser, das keine Mühle mehr antreibt«, murmelte sie in ihren Worten. Nein, das stimmte nicht: Acqua passata non macina più.

Ihr Italienisch war ganz eingerostet. Das Lesen fiel ihr leicht. Sie wusste allerdings nicht, was ihr über die Lippen kommen würde, sollte sie versuchen, es zu sprechen. Sie hatte ihre Muttersprache seit Jahren nicht mehr benutzt, nicht einmal im Stillen oder wenn sie sich den Zeh stieß und laut fluchte. »Damn«, fluchte sie dann, oder: »Flaming Nora. Ach du Schreck!«, wie Alan sich auszudrücken pflegte. Manchmal träumte sie auf Italienisch, aber im Wachzustand war die Sprache tabu. Sie hatte versucht Engländerin zu werden, ihr Italienischsein abzulegen. Das hatte sie wichtig gefunden, ja, sogar notwendig.

Wasser, das vorbeigeflossen ist, mahlt nicht mehr. Keine besonders elegante Übersetzung, aber genau das besagte das Sprichwort mehr oder weniger. Sie stellte sich einen von den Gezeiten glatt geschliffenen, rund gewordenen Flusskiesel vor.

Kaum hatte sie die Bibliothek betreten, nahm sie eine Ausgabe der Repubblica aus dem Regal im Lesesaal und setzte sich an einen Fenstertisch. Beim letzten Mal hatte sie vom Mafiamord an einem Polizisten erfahren, der Korruption aufgedeckt hatte. Keine vierzig Jahre alt.

»Fast noch ein Kind«, hätte Alan gesagt.

Auf eine distanzierte, irgendwie unbeteiligte Art versuchte sie zu ergründen, ob Italien heute, 1980, mehr oder weniger gewalttätig war als das Land, das sie 1938 für immer verlassen hatte. In diesen Tagen gab es zwar keine squadristi mehr, die ihre »heiligen Knüppel« schwangen, dafür schien die Mafia ein ernstes Problem zu sein. Und die Terroristen von den Roten Brigaden.

Heute beschäftigte sich die Titelseite fast ausschließlich mit dem politischen Machtkampf zwischen den Christdemokraten und den Republikanern, die beide zur Regierungskoalition gehörten. Das war natürlich die größte Veränderung, die Demokratie. Italien war keine Monarchie mehr. 1938 wäre das unvorstellbar gewesen, zumindest für Liliana. Damals hatte es nur eine Partei gegeben, die Faschistische Partei. Als sie dem Land den Rücken gekehrt hatte, waren die Faschisten sechzehn Jahre an der Macht gewesen. So gut wie jeder, der eine andere Meinung vertrat, war auf die eine oder andere Art zum Schweigen gebracht worden.

Sie blätterte um, als sie das Gesicht eines Mannes anstarrte, den sie fünfzig Jahre nicht mehr gesehen hatte.

Ugo Montello.

Bei seinem Anblick verschlug es ihr den Atem, als hätte sie einen Schlag auf den Solarplexus bekommen. Sie verdeckte das Bild und sah auf. Sie war ganz aufgewühlt und befürchtete, sich übergeben zu müssen.

Bleib sitzen!, befahl sie sich. Gleich ist es vorbei.

Sie schloss die Augen. Hinter ihren Lidern tauchte kurz ein kleines Baby mit schwarzem Haar und saphirblauen Augen auf, wenn auch nicht sehr lange. Ansonsten nichts als Dunkelheit. Sie öffnete die Augen und begegnete dem Blick eines älteren Herrn mit Schiebermütze, der ihr gegenübersaß. Er hatte seine Ausgabe der Times sinken lassen, um sie zu mustern. Sie atmete schwer und laut, der Mund stand ihr offen. Sie schloss ihn und schluckte.

Dann senkte sie den Blick, ohne sich auf den Text zwischen ihren gespreizten Fingern zu konzentrieren. Um sie herum ging das leise Treiben in der Bibliothek weiter. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, nahm sie die Hände weg.

Es war ein altes Foto, das aufgenommen worden sein musste, als sie ihn kannte, in seiner Glanzzeit. Stolz wie ein Pfau trug er seine Luftwaffenuniform und hielt das Käppi in den Händen, gewelltes Haar spross aus seinem Schädel.

Die Todesanzeige erwähnte seine herausragende Karriere und dass er in den 1960ern als Polizeipräsident einen schwierigen Kampf gegen Verbrecherbanden geführt habe. Zwischen den Kriegen sei er Luftwaffenpilot gewesen und habe es bis zum Oberst gebracht sowie eine wichtige Rolle bei der »Befriedung Libyens« und später im Abessinienkrieg gespielt. Offensichtlich war er in seiner Wohnung in der Via Nomentana in Rom friedlich eingeschlafen und hatte eine fünfundfünfzigjährige Ehefrau, drei Kinder und sieben Enkel hinterlassen.

Sie faltete die Zeitung zusammen, stand auf und behielt sie einen Moment in der Hand. Ugo war all die Jahre am Leben gewesen. Bis vor Kurzem hatte er an einem fernen Ort geatmet. Nun hatte seine Lunge den Dienst eingestellt, während ihre nach wie vor arbeitete und die warme Luft in dieser Bibliothek Nordlondons ein- und wieder ausatmete, ein und aus. Sie atmete, Ugo nicht mehr.

Neben dem Zeitungsregal lag ein Stapel alter Zeitschriften. Sie hob ihn an und schob die Ausgabe der Repubblica darunter. Dann wischte sie sich die Hände an ihrem Rock ab und ging.

Bis zu ihrem Treffen mit Joan fehlte noch eine halbe Stunde. Sie könnte einen kleinen Schaufensterbummel machen und überlegen, wofür sie die fünfhundert Pfund ausgeben wollte. Oder zur Post gehen und sie auf ihr Konto einzahlen, auch wenn keine von beiden Optionen etwas von der extravaganten Verwöhnaktion hatte, zu der Alans Notiz sie ermuntert hatte.

Als sie an der Queens Avenue auf einen...

Erscheint lt. Verlag 10.5.2021
Übersetzer Christiane Burkhardt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Fourth Shore
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Afrika 20. Jahrhundert • eBooks • Familie • Faschismus • Geheimnis • Große Gefühle • Historische Romane • Italien • Libyen • Rom • Roman • Romane • Schuld • Tripolis • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-23392-5 / 3641233925
ISBN-13 978-3-641-23392-1 / 9783641233921
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