Ozelot und Friesennerz (eBook)
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2279-7 (ISBN)
Susanne Matthiessen, Jahrgang 1963, ist gebürtige Sylterin. Als Journalistin verarbeitet sie gesellschaftspolitische Entwicklungen zu Programmideen für Radio, Fernsehen und Internet. 15 Jahre lang war sie Kolumnenschreiberin für die Sylter Rundschau. Ihr Debüt Ozelot und Friesennerz. Roman einer Sylter Kindheit wurde auf Anhieb ein Bestseller. Susanne Matthiessen lebt gern in Berlin, lebt aber nur am Meer richtig auf.
Susanne Matthiessen, Jahrgang 1963, ist gebürtige Sylterin. Als Journalistin verarbeitet sie gesellschaftspolitische Entwicklungen zu Programmideen für Radio, Fernsehen und Internet. Sie hat unter anderem als Redaktionsleiterin der TV-Magazine "Dunja Hayali" (ZDF), "Gabi Bauer" (ARD) und "Sabine Christiansen" (ARD) gearbeitet und hatte Programmverantwortung bei Inforadio Berlin, der Deutschen Presse-Agentur audio & video, Radio Schleswig-Holstein und BB Radio Brandenburg. Sie ist seit 25 Jahren Dozentin an der Akademie für Publizistik in Hamburg und war 15 Jahre lang Kolumnenschreiberin für die "Sylter Rundschau". Susanne Matthiessen lebt gern in Berlin, lebt aber nur am Meer richtig auf.
Kapitel 1
DIE SACHE MIT DEM SEELÖWENPELZ
Damals hat man ja noch wochenlang Urlaub gemacht im Sommer. Niemand kam nur für ein paar Tage nach Sylt. Vier Wochen Ferien am Stück waren normal. »Haus voll?«, riefen sich die Sylter über die Straße hinweg zu. Bis unters Dach hatte man vermietet. In jedem Schlafzimmer gab’s ein Waschbecken, und der ganze Strand war voll mit diesem seidenweichen weißen Muschelsand, der so fein durch die Finger rieselt und den man heute nur noch in den Dünen findet, weil er unten am Strand vom Meer weggeholt und nach Amrum getragen wurde, sodass man jetzt über die gesamte Fläche nur noch diesen grobkörnigen, eher braunen Sand hat, der vom Meeresgrund geholt und jedes Jahr vorgespült wird, damit Sylt nicht untergeht. Und dass damals die Polizei kommen musste, um mich zu meinen Eltern zurückzubringen, ist heute eher eine lustige Anekdote, die meine Mutter immer wieder gern erzählt. Sylt in den Sechzigern und Siebzigern, ja, das war eine wilde Zeit. Meine Güte. Ist das alles wirklich passiert? Ich war ein Baby. Und dass es damals so aus dem Ruder lief, wird auch damit zu tun gehabt haben, dass die Pellmanns wochenlang im Ehebett meiner Eltern schliefen.
Sie waren über Jahre unsere Sommergäste und wohnten oben im ersten Stock. Herr Pellmann war immer dunkelbraun gebrannt und hatte am ganzen Körper eine Menge schwarzer Haare und dazu schneeweiße Zähne. Er fühlte sich einfach toll an. Bei ihm schlief man auf beheiztem Fell. Seine Frau trug eine Brille, hatte eine ziemlich fest sitzende Frisur und war auch insgesamt wenig beweglich. Sie soll in einer Bibliothek gearbeitet haben. Sie war nett und hat immer viel gelacht. Im Gegensatz zu ihr ging aber von ihrem Mann, Herrn Pellmann, eine unglaubliche Hitze aus, die man schon spürte, wenn er nur die Arme ausgebreitet hatte und lachend auf mich zukam.
Ich fand es schön, zwischen den beiden zu schlafen. Jedenfalls schöner als bei meinen Eltern. Die übernachteten unten im Wohnzimmer auf der kleinen Couch mit dem grünen Cordbezug. Genauer gesagt, meine Mutter schlief da drauf. Mein Vater lag davor auf einer Matratze am Boden. Für mich gab’s noch den Sessel. Aber da schlief ich eher selten, weil ich einfach zu unruhig war, wie meine Mutter immer sagte. Sie beschwerte sich, dass sie meinetwegen nicht ausreichend Schlaf bekam. Das tat sie allerdings niemals laut. Und nie mit Worten. Das tat sie telepathisch.
Man brauchte ein funktionierendes inneres Antennensystem, um meine Mutter zu verstehen. Es sind lautlose Klopfzeichen. Wer mit ihr zu tun hat, lernt über die Jahre, auf diese Zeichen zu achten. Als Kind hat man sich am besten still verhalten und aufmerksam registriert, in welchem Zustand sich meine Mutter befand. Sie war immer im Stress. Mal mehr. Mal weniger. Aber niemals entspannt. Das begann schon mit dem frühen Aufstehen, um für unsere Sommergäste rechtzeitig das Frühstück auf den Tisch zu bekommen, bevor sie dann ins Geschäft ging und mit ihrem Hauptjob weitermachte.
Wie alle Sylter damals vermieteten wir jedes Bett in unserem Dünenhaus, Dr.-Ross-Str. 34 A. Es war ein sehr kleines Backsteinhaus, quadratisch, eine Querstraße vom Strand entfernt. Es gab dort sechs Betten in vier Zimmern und eine sehr fies knarrende Holztreppe vom Erdgeschoss in die obere Etage. Wir hatten ein Elternschlafzimmer mit dem Ehebett meiner Eltern, ein Dreibettzimmer und das Einzelzimmer. Im Wohnzimmer, das direkt in die kleine Küche überging, hausten in der Saison meine Eltern. Die Anziehsachen hingen auf einem rollbaren Ständer, den mein Vater aus der Firma mitgebracht hatte, und sonst gab’s da eigentlich nichts. Ich kannte keine Familie in Westerland, in der es anders war. Wir lebten hautnah zusammen mit diesen vielen fremden Menschen, die die Insel im Sommer überfluteten. Es war eng. Es war laut. Wir teilten uns ein einziges Bad.
Im Dreibettzimmer logierte Herr Berg aus Berlin zusammen mit seiner Familie. Herr Berg war Vertreter für Sekt und hatte sehr viele Kunden in den Westerländer Hotels, Gaststätten und Bars. Seine Tochter nannte er Liebchen. Wie die meisten Kurgäste damals wurde Herr Berg von der Fremdenverkehrszentrale am Bahnhof an uns vermittelt. Fünfzehn Mark pro Person und Nacht mit Frühstück. Als Herr Berg zusammen mit seiner Familie sein Zimmer bezog, wechselte die Temperatur im Haus. Von da an wurde gefeiert und getrunken. Schon wieder eine neue Verpflichtung für meine Eltern. Kaum kamen sie spät aus ihrem Geschäft, schon begann für sie die Nachtschicht am Abendbrottisch mit der Familie Berg – egal wie müde. Und auch das war in allen Häusern in der Nachbarschaft gleich. Gute Gastgeber gingen nicht ins Bett. Und man hat einfach auch gern gefeiert.
Ein bisschen später servierte dann meine Mutter schon wieder das Frühstück in unserer schönen verglasten Holzveranda im Bäderstil. Eine Waschmaschine hatten wir nicht. Wäsche gekocht wurde auf dem Herd in einem riesigen Kochtopf. Und das blieb alles an ihr hängen. Meine Mutter war vierundzwanzig. Sie war dünn und weiß. Sie sah aus wie ein Kind. Wenn neue Gäste kamen, musste sie sich anhören: »Wir haben hier gemietet, wo sind denn deine Eltern?« Darüber hat sie sich irgendwann nicht mal mehr geärgert. Musste ja weitergehen. Jeden Tag ein Stückchen aufwärts.
Für mich stand ein Hochstuhl am Tisch der Pellmanns. Dort fühlte ich mich endlich gesehen und wahrgenommen. Für die Zeit ihres Urlaubs hatten sie und meine Eltern ein Agreement getroffen. Die Pellmanns wollten mal ausprobieren, wie es sich anfühlt, Mutter und Vater zu sein. Und meine Eltern gaben Rabatt. Auf diese Weise war beiden geholfen. Meine Eltern waren mich los, und die Pellmanns hatten ein Baby. Eine klassische Sylter Win-win-Situation. Als mich die Pellmanns »adoptierten«, war ich ein halbes Jahr alt.
Zu meiner Geburt erlebte Sylt 1963 den eisigsten Winter seit Kriegsende. Das Thermometer war auf zweiundzwanzig Grad minus gefallen, und das Wattenmeer war zugefroren, als ich auf die Welt kam. Meterhoch türmten sich die Eisschollen vor der Westerländer Promenade. Neben dem Hindenburgdamm verlief zum ersten und einzigen Mal die »Eis-Avus«. Nie wieder danach konnte man das Wattenmeer mit dem Auto befahren. Die Autobahn war nur einen einzigen Winter lang in Betrieb. In Niebüll ging es rechts um die Ecke und dann immer geradeaus Richtung Insel. Eine Mark zwanzig nahm der Bauer am Deich für die Zufahrt auf die Rennstrecke.
Mein Vater war vierundzwanzig. Während meiner Geburt drehte er Pirouetten mit seinem Opel Rekord auf dem Eis vor Nösse. Auf dem Autodach lag bäuchlings sein Freund Loni und versuchte sich mit Händen und Füßen an den seitlichen Zierleisten festzuklammern, während mein Vater heftig aufs Gaspedal trat, dann bei voller Fahrt die Handbremse anzog und das Steuer rumriss. Loni segelte angeblich fünfzehn Meter weit und schlug derartig heftig aufs Eis auf, dass alle sicher waren, der ist tot.
In der Notaufnahme der Nordseeklinik dann Entwarnung. Der Tote hatte nur Knochenbrüche und seine Sprache verloren (vorübergehend). Aus meinem Vater entwich die Panik, jetzt musste er nur noch große Kraft aufbringen, diesen peinlichen Impuls zu unterdrücken, jedes Mal laut loszulachen, wenn er sich wieder und wieder Lonis Flugkurve in Erinnerung rief. Dann kam Schwester Gisela auf ihn zu: »Herr Matthiessen, herzlichen Glückwunsch. Sie haben eine Tochter.« So in etwa kam ich auf die Welt.
Kein Wunschkind. Auch nicht geplant. Es war aber auch kein Versehen. Es war eher eine Verkettung unglücklicher Umstände, dass es mich überhaupt gibt. Niemand wollte das. Am wenigsten meine Mutter. Dass ich auf die Welt kam, daran ist allein mein Großvater schuld. Der war in seinem Pelzgeschäft in der Westerländer Friedrichstraße ganz unpassend am Gas erstickt. Es heißt, er hatte sich Milch warm machen wollen. Der Gaskocher stand in einem kleinen Kabuff hinter dem Laden.
Ich erinnere mich an diese beklemmend kleine Abseite ohne Fenster. Dort stand eine Chaiselongue mit einem abgenutzten Bezug aus verschossener grüner Seide. Eine Kleiderstange mit fertigen, maßgeschneiderten Mänteln aus Nesselstoff, die auf die Anprobe warteten, darüber hingen zwei Fellbunde mit tabakbraunen Nerzen. Ein kleiner Tisch, ein Kamm, ein Rasierspiegel.
Es heißt, mein Großvater habe sich in der Mittagspause nur kurz hinlegen wollen, während dann die Milch auf dem improvisierten Gasherd überkochte. Mein Opa schlief, der Milchschaum löschte die Flamme, Gas trat aus. Opa tot. Ein bedauernswerter Unfall und ein nicht gerade pompöses Ende für einen großen Modeschöpfer, für einen Mann mit dieser großen Karriere. Er hatte den Luxus zu seinem Lebenszweck gemacht und damit ein Vermögen angehäuft. Mit seinem Tod endete dann auch in meiner Familie etwas verspätet das Zeitalter der Superdiven mit den verschwenderisch gearbeiteten übergroßen Pelzgarderoben. Der Laden hing voll damit. Aber es gab Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger keine Kundinnen mehr dafür. Vor allem nicht auf Sylt. Die Insel suchte noch ihren eigenen Neuanfang irgendwo zwischen Keilhose, Friesennerz und Freikörperkultur.
Mein Großvater war nicht alt, als er starb. Er lag da »wie...
Erscheint lt. Verlag | 15.6.2020 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 70er Jahre • Arndt von Bohlen und Halbach • Axel Springer • Babyboomer • Barcelona • Brigitte Bardot • Bücher für die Coronavirus Zeit • Bücher für die Coronazeit • Bücher für die Covid19 Zeit • Bundesrepublik • Champagner • das Lesen geht weiter • Dekadenz • Deutsche Inseln • Erbe • Erinnerung • Familie • Familiengeschichte Deutschland • Familienroman • Familiensaga • Ferien • Fisch Fiete • Freddy Quinn • Freiheit • für Social Distancing • gegen Langeweile • Generation • Generationenroman • Gosch • Gunter Sachs • Hamptons • Heimat • Immobilienboom • Insel • Inselroman • Kampen • Kindheit • Kindheit auf Sylt • Kriegsgeneration • Kürschner • Küste • Lesen in der Coronakrise • Lesen in der Covid19-Krise • Lesen in Karantäne • Lesen in Quarantäne • Lesen während Shutdown • lieber Buch als Coronavirus • Lieber Buch als Covid19 • lieber Bücher als Corona • Long Island • Meer • Mit Buch in Karantäne • mit Buch in Quarantäne • Mutter Tochter Geschichte • Nordsee • Nordseeküste • Nostalgie • Oswald Kolle • Pelz Matthiessen • Prominenz • Resilienz • Roman • Rudolf Augstein • Sansibar • Siebzigerjahre • Soraya • Strand • Sylt • Sylt Roman • Tourismus • Urlaub • Vater Tochter Geschichte • Westerland • Willy Brandt • Wirtschaftswunder |
ISBN-10 | 3-8437-2279-X / 384372279X |
ISBN-13 | 978-3-8437-2279-7 / 9783843722797 |
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