Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen / Stranitzky und der Nation (eBook)
160 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60850-2 (ISBN)
Im Unternehmen Wega wird die Auseinandersetzung zwischen West und Ost auf unserem Planeten ausgeweitet auf einen neuen möglichen Kriegsschauplatz: die Venus. Sie ist zur Strafkolonie der Erde geworden.
In Stranitzky und der Nationalheld rückt das Staatsoberhaupt Baldur von Moeve infolge Erkrankung an Aussatz auf die Seite der Geächteten und Geschändeten. Einer von diesen, der an beiden Beinen amputierte Kriegsverletzte und ehemalige Fußballchampion Stranitzky, hält nun seine Stunde für gekommen. Die bisherigen Opfer der Politik werden regieren denn zum Regieren braucht es ja schließlich keine Beine, wohl aber einen Kopf.
Das Nächtliche Gespräch ist nicht nur ganz allgemein ein Kurs für Zeitgenossen, sondern im besonderen eine Anleitung für Dürrenmatt-Leser, vielleicht sogar d i e Anleitung.«'
Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ?Der Richter und sein Henker?, ?Der Verdacht?, ?Die Panne? und ?Das Versprechen?, weltberühmt mit den Komödien ?Der Besuch der alten Dame? und ?Die Physiker?. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ?Stoffen?, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.
Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ›Der Richter und sein Henker‹, ›Der Verdacht‹, ›Die Panne‹ und ›Das Versprechen‹, weltberühmt mit den Komödien ›Der Besuch der alten Dame‹ und ›Die Physiker‹. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ›Stoffen‹, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.
Eine Fensterscheibe klirrt.
DER MANN ruhig und laut
Kommen Sie bitte herein.
Stille.
DER MANN
Kommen Sie herein. Es hat keinen Sinn, auf dem Fenstersims sitzen zu bleiben in dieser unangenehmen Höhe, wenn Sie schon heraufgeklettert sind. Ich kann Sie ja sehen. Der Himmel da draußen hinter Ihrem Rücken ist immer noch heller in seiner Dunkelheit als die Finsternis dieses Zimmers.
Ein Gegenstand fällt auf den Boden.
DER MANN
Sie haben die Taschenlampe fallen lassen.
DER ANDERE
Verflixt.
DER MANN
Es hat keinen Sinn, nach ihr auf dem Boden zu suchen. Ich mache Licht.
Ein Schalter knackt.
DER ANDERE
Vielen Dank, Herr.
DER MANN
So. Da sind Sie. Die Situation ist gleich sympathischer, wenn man sich sieht. Sie sind ja ein älterer Mann!
DER ANDERE
Haben Sie einen jungen erwartet?
DER MANN
Allerdings. Ich habe dergleichen erwartet. Nehmen Sie auch die Taschenlampe wieder zu sich. Sie liegt rechts vom Stuhl.
DER ANDERE
Verzeihung.
Eine Vase zersplittert.
DER ANDERE
Verflixt nochmal. Jetzt habe ich eine chinesische Vase umgeworfen.
DER MANN
Den griechischen Weinkrug.
DER ANDERE
Kaputt. Es tut mir leid.
DER MANN
Macht nichts. Ich werde kaum noch Gelegenheit haben, ihn zu vermissen.
DER ANDERE
Es ist schließlich nicht mein Metier, Fassaden zu klettern und einzubrechen. Was jetzt von einem verlangt wird, soll doch der Teufel – meine Ungeschicklichkeit tut mir wirklich leid, Herr!
DER MANN
Das kann vorkommen.
DER ANDERE
Ich glaubte –
DER MANN
Sie waren der Meinung, ich schliefe im andern Zimmer. Ich verstehe. Sie konnten wirklich nicht wissen, daß ich um diese Zeit noch im Finstern an meinem Schreibtisch sitze.
DER ANDERE
Normale Menschen liegen um diese Zeit im Bett.
DER MANN
Wenn normale Zeiten sind.
DER ANDERE
Ihre Frau?
DER MANN
Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Frau ist gestorben.
DER ANDERE
Haben Sie Kinder?
DER MANN
Mein Sohn ist in irgendeinem Konzentrationslager.
DER ANDERE
Die Tochter?
DER MANN
Ich habe keine Tochter.
DER ANDERE
Sie schreiben Bücher? Ihr Zimmer ist voll davon.
DER MANN
Ich bin Schriftsteller.
DER ANDERE
Liest jemand die Bücher, die Sie schreiben?
DER MANN
Man liest sie überall, wo sie verboten sind.
DER ANDERE
Und wo sie nicht verboten sind?
DER MANN
Haßt man sie.
DER ANDERE
Beschäftigen Sie einen Sekretär oder eine Sekretärin?
DER MANN
In Ihren Kreisen müssen über das Einkommen der Schriftsteller die wildesten Gerüchte zirkulieren.
DER ANDERE
So befindet sich demnach zur Zeit außer Ihnen niemand in der Wohnung?
DER MANN
Ich bin allein.
DER ANDERE
Das ist gut. Wir brauchen absolute Ruhe. Das müssen Sie begreifen.
DER MANN
Sicher.
DER ANDERE
Es ist klug von Ihnen, mir keine Schwierigkeiten zu machen.
DER MANN
Sie sind gekommen, mich zu töten?
DER ANDERE
Ich habe diesen Auftrag.
DER MANN
Sie morden auf Bestellung?
DER ANDERE
Mein Beruf.
DER MANN
Ich habe es immer dunkel geahnt, daß es heute in diesem Staat auch Berufsmörder geben muß.
DER ANDERE
Das war immer so, Herr. Ich bin der Henker dieses Staats. Seit fünfzig Jahren.
Stille.
DER MANN
Ach so. Du bist der Henker.
DER ANDERE
Haben Sie jemand anders erwartet?
DER MANN
Nein. Eigentlich nicht.
DER ANDERE
Sie tragen Ihr Schicksal mit Fassung.
DER MANN
Du drückst dich reichlich gewählt aus.
DER ANDERE
Ich habe es heute vor allem mit gebildeten Leuten zu tun.
DER MANN
Es tut nur gut, wenn die Bildung wieder etwas Gefährliches wird. Willst du dich nicht setzen?
DER ANDERE
Ich setze mich ein wenig auf die Schreibtischkante, wenn es Sie nicht geniert.
DER MANN
Tu nur wie zu Hause. Darf ich dir einen Schnaps offerieren?
DER ANDERE
Danke, aber erst für nachher. Vorher trinke ich nicht. Damit die Hand sicher bleibt.
DER MANN
Das sehe ich ein. Nur mußt du dich dann selbst servieren. Ich habe ihn extra für dich gekauft.
DER ANDERE
Sie wußten, daß Sie zum Tode verurteilt worden sind?
DER MANN
In diesem Staate ist alles zum Tode verurteilt, und es bleibt einem nichts anderes mehr übrig, als durchs Fenster in den unermeßlichen Himmel zu starren und zu warten.
DER ANDERE
Auf den Tod?
DER MANN
Auf den Mörder. Auf wen sonst? Man kann in diesem verfluchten Staat alles berechnen, denn nur das Primitive ist wirklich übersichtlich. Die Dinge nehmen einen so logischen Verlauf, als wäre man in eine Hackmaschine geraten. Der Ministerpräsident hat mich angegriffen, man weiß, was dies bedeutet, die Reden Seiner Exzellenz pflegen unästhetische Folgen zu haben. Meine Freunde beschlossen zu leben und zogen sich zurück, da sich jeder zum Tode verurteilt, der mich besucht. Der Staat schloß mich in das Gefängnis seiner Ächtung ein. Aber einmal mußte er die Mauern meiner Einsamkeit aufbrechen. Einmal mußte er einen Menschen zu mir schicken, wenn auch nur, um mir den Tod zu geben. Auf diesen Menschen habe ich gewartet. Auf einen, der so denkt, wie meine wahren Mörder denken. Diesem Menschen wollte ich noch einmal – zum letztenmal – sagen, wofür ich ein ganzes Leben lang gekämpft habe. Ich wollte ihm zeigen, was die Freiheit ist, ich wollte ihm beweisen, daß ein freier Mann nicht zittert. Und nun bist du gekommen.
DER ANDERE
Der Henker.
DER MANN
Mit dem zu reden es keinen Sinn hat.
DER ANDERE
Sie verachten mich?
DER MANN
Wer hätte dich je achten können, verächtlichster unter den Menschen.
DER ANDERE
Einen Mörder hätten Sie geachtet?
DER MANN
Ich hätte ihn wie einen Bruder geliebt, und ich hätte mit ihm wie mit einem Bruder gekämpft. Mein Geist hätte ihn besiegt in der Triumphstunde meines Todes. Aber nun ist ein Beamter zu mir durch das Fenster gestiegen, der tötet und einmal fürs Töten eine Pension beziehen wird, um satt wie eine Spinne auf seinem Sofa einzuschlafen. Willkommen, Henker!
DER ANDERE
Bitte schön.
DER MANN
Du wirst verlegen. Das ist verständlich, ein Henker kann nicht gut antworten: Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.
DER ANDERE
Sie fürchten sich nicht?
DER MANN
Nein. Wie denkst du, die Exekution auszuführen?
DER ANDERE
Lautlos.
DER MANN
Ich verstehe. Es muß Rücksicht auf die Familien genommen werden, die noch in diesem Hause wohnen.
DER ANDERE
Ich habe ein Messer bei mir.
DER MANN
Also gewissermaßen chirurgisch. Werde ich zu leiden haben?
DER ANDERE
Es geht schnell. In Sekunden ist es vorbei.
DER MANN
Du hast schon viele auf diese Weise getötet?
DER ANDERE
Ja. Schon viele.
DER MANN
Es freut mich, daß der Staat wenigstens einen Fachmann schickt und keinen Anfänger. Habe ich noch etwas Bestimmtes zu tun?
DER ANDERE
Wenn Sie sich entschließen könnten, den Kragen zu öffnen.
DER MANN
Darf ich mir vorher noch eine Zigarette anzünden?
DER ANDERE
Klar. Das ist Ehrensache. Das bewillige ich jedem. Es eilt auch gar nicht so mit dem andern.
DER MANN
Eine Camel. Rauchst du auch eine?
DER ANDERE
Erst nachher.
DER MANN
Natürlich. Du machst alles erst nachher. Wegen der Hand. Dann lege ich sie zum Schnaps.
DER ANDERE
Sie sind gütig.
DER MANN
Zu einem Hund ist man immer gütig.
DER ANDERE
Da haben Sie Feuer.
DER MANN
Ich danke dir. So. Und nun ist auch der Kragen offen.
DER ANDERE
Sie tun mir wirklich leid, Herr.
DER MANN
Ich finde es auch etwas bedauerlich.
DER ANDERE
Dabei dürfen Sie von Glück sagen, daß dies alles so ganz privat in dieser Nacht zu geschehen hat.
DER MANN
Ich fühle mich auch ungemein bevorzugt.
DER ANDERE
Sie sind eben ein Schriftsteller.
DER MANN
Nun?
DER ANDERE
Da werden Sie für die Freiheit sein.
DER MANN
Nur.
DER ANDERE
Dafür sind sie jetzt alle, die ich töten muß.
DER MANN
Was versteht ein Henker schon von der...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2020 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Lyrik / Dramatik ► Dramatik / Theater |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Auseinandersetzung • Außenseiter • Dürrenmatt • Erkrankung • Geächteter • Hörspiel • Kabarett • Klassiker • Kleinkunst • Krieg • Literatur • Macht • Politik • Schweiz • Strafkolonie • Venus |
ISBN-10 | 3-257-60850-0 / 3257608500 |
ISBN-13 | 978-3-257-60850-2 / 9783257608502 |
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