Der Meteor / Dichterdämmerung (eBook)

Nobelpreisträgerstücke
eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
208 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60843-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Meteor / Dichterdämmerung -  Friedrich Dürrenmatt
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Der Meteor: »Der mit dem Nobelpreisträger ausgezeichnete Dramatiker Wolfgang Schwitter ist in der Klinik gestorben, aber vom Tode auferstanden und in das Maler-Atelier geflüchtet, das er vor vierzig Jahren bewohnt hat, um hier zu sterben. Schwitter will sterben, stirbt aber nicht, und nicht sterben wollen die Menschen, die ihn im Atelier besuchen, aber sie sterben oder werden zumindest ruiniert.«

Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Konolfingen bei Bern als Sohn eines Pfarrers geboren. Er studierte Philosophie in Bern und Zürich und lebte als Dramatiker, Erzähler, Essayist, Zeichner und Maler in Neuchâtel. Bekannt wurde er mit seinen Kriminalromanen und Erzählungen ?Der Richter und sein Henker?, ?Der Verdacht?, ?Die Panne? und ?Das Versprechen?, weltberühmt mit den Komödien ?Der Besuch der alten Dame? und ?Die Physiker?. Den Abschluss seines umfassenden Werks schuf er mit den ?Stoffen?, worin er Autobiografisches mit Essayistischem verband. Friedrich Dürrenmatt starb 1990 in Neuchâtel.

Zweiter Akt


Nyffenschwanders Atelier eine Stunde später. Auf dem Bett unter Kränzen Schwitter, endlich entschlafen. Um das Bett herum verschiedene schwarzgekleidete Herren, unter ihnen der Starkritiker Friedrich Georgen. Links im Lehnstuhl Carl Conrad Koppe, Schwitters Verleger, fünfundsechzig, glattrasiert, elegant. Im Hintergrund Nyffenschwander und Glauser. Auguste, anfänglich am Totenbett, wird von Neuankommenden nach hinten gedrängt. Im Raum geistern weiter einige Presseleute herum, die mit Blitzlicht fotografieren. Die Vorhänge vor den Nischen sind wieder gezogen, die Kerzen brennen aufs neue.

Einer der anwesenden Trauergäste läßt eine Kassette mit Trauermusik abspielen. Den Choral ›Morgenglanz der Ewigkeit‹. Bei Musikende beginnt Friedrich Georgen mit seiner Trauerrede.

(Die Trauergemeinde wird von der Sommerhitze gepeinigt. Einer nach dem andern entfernt sich während der Rede, sich vor dem toten Schwitter verneigend.)

FRIEDRICH GEORGEN

Freunde. Wolfgang Schwitter ist tot. Mit uns trauert die Nation, ja die Welt; ist sie doch um einen Mann ärmer, der sie reicher machte. Seine sterbliche Hülle liegt auf diesem Bett, liegt unter diesen Kränzen. Man wird sie übermorgen mit jenem festlichen Gepränge zu Grabe tragen, das einem Nobelpreisträger zukommt. Doch wir, seine Freunde, haben bescheidener zu trauern, gefaßter, stiller. Wir haben nicht billiges Lob zu spenden, nicht kritiklose Bewunderung, wir haben uns durch Wissen und Liebe leiten zu lassen. Nur so werden wir dem großen Toten gerecht. Er hat ausgelitten. Sein Sterben war erschütternd, daß wir uns in seinem alten Atelier befinden, deutet es an. Nicht sein Geist, seine Vitalität wehrte sich. Ihm, der die Tragik ablehnte, fiel ein tragisches Ende zu. In diesem düsteren Lichte haben wir ihn zu sehen, zum ersten Male vielleicht in harter Deutlichkeit, als den letzten Verzweifelten einer Zeit, die sich anschickt, die Verzweiflung zu überwinden. Es gab für ihn nichts als die nackte Realität. Doch gerade darum dürstete er nach Gerechtigkeit, sehnte er sich nach Brüderlichkeit. Umsonst. Nur wer an einen lichten Sinn der dunklen Dinge glaubt, erkennt die Ungerechtigkeit, die es in dieser Welt auch gibt, als etwas Unabwendbares, stellt den sinnlosen Kampf ein, versöhnt sich. Schwitter blieb unversöhnlich. Ihm fehlte der Glaube, und so fehlte ihm auch der Glaube an die Menschheit. Er war ein Moralist aus Nihilismus heraus. Er blieb Rebell, ein Rebell im luftleeren Raum. Sein Schaffen war der Ausdruck einer inneren Ausweglosigkeit, nicht ein Gleichnis der Wirklichkeit: Sein Theater, nicht die Realität ist grotesk. Hier liegt seine Grenze. Schwitter blieb in einer feierlich großartigen Weise subjektiv, seine Kunst heilte nicht, sie verletzte. Wir aber, die wir ihn lieben und seine Kunst bewundern, müssen sie nun überwinden, damit sie eine notwendige Stufe werde zur Bejahung einer Welt, die unser armer Freund verneinte und in deren Erhabenheit und Harmonie er eingegangen ist.

Koppe erhebt sich und drückt Georgen die Hand.

KOPPE

Friedrich Georgen, ich danke Ihnen.

Die wenigen Verbliebenen verneigen sich vor dem Totenbett, entfernen sich, unterdessen ständig Blitzlichter.

GEORGEN

Sie sind sein Verleger, Koppe. Mein Beileid. Verneigt sich.

KOPPE

Erscheint Ihre Rede im Morgenblatt?

GEORGEN

Noch heute abend.

KOPPE

Wird mächtig hinhauen. Er war ein Moralist aus Nihilismus heraus. Ein Rebell im luftleeren Raum. Sein Theater, nicht die Realität ist grotesk. Glänzend definiert und böse gesagt.

GEORGEN

Nicht böse gemeint, Koppe.

KOPPE

Bitterböse gemeint, Georgen. Legt ihm die Hand auf die Schulter. Ihre Unverschämtheit war grandios. Sie zerfetzten mir unseren guten Schwitter mit Andacht auf dem Totenbett. Imponierend. Literarisch ist der Mann erledigt, noch eine Dünndruckausgabe und er ist vergessen. Schade. Er war echter als Sie glauben, und dann noch eins, ganz unter uns: Ihr Tiefsinn in Ehren, Georgen, aber an sich war Ihre Rede Mumpitz. Schwitter war nie verzweifelt, man brauchte ihm nur ein Kotelett vor die Nase zu setzen und einen anständigen Tropfen, und er war glücklich. Gehen wir. Der Ort ist schauerlich. Ich muß Schwitters Familie zusammentrommeln, mir schwant, es habe sich was zugetragen.

Die beiden ab, auch die Presseleute. Auguste, Nyffenschwander und der Hauswart bleiben.

GLAUSER

Das wäre vorbei. Luft! Zieht die Vorhänge, öffnet die Fenster, draußen noch immer greller Tag. Löscht die Kerzen. Wieviel hat man Ihnen denn gegeben, Nyffenschwander, fürs Sterben?

NYFFENSCHWANDER

Zweihundert und der Verleger zwanzig.

GLAUSER

Schäbig. Leben Sie wohl, Frau Auguste. Bald ist Ihr Atelier wieder in Ordnung. In dieser Hitze holen sie die Leichen schnell. Verschwindet.

NYFFENSCHWANDER

Eine Frechheit. Da steigen endlich einmal Kritiker und Verleger zu mir herauf – um eine Leiche anzuglotzen – und ich besitze kein einziges Bild mehr. Da arbeitet man jahrelang – Auguste! Starrt das Totenbett an.

NYFFENSCHWANDER

Zieh dich aus! Ich male dich vor dem Totenbett. Leben und Tod. Ein atmender Leib und Totenkränze.

AUGUSTE

Nein.

NYFFENSCHWANDER

Auguste – Glotzt sie verwundert an.

AUGUSTE ruhig

Ich will nicht. Beginnt, ihre Sachen zusammenzupacken.

NYFFENSCHWANDER

Auguste, das ist das erste Mal, daß du dich weigerst, Modell zu stehen.

AUGUSTE

Schluß damit.

Schweigen.

NYFFENSCHWANDER

Aber das Leben, Auguste – ich will doch nur das Leben darstellen, das unerhörte, gewaltige, grandiose Leben –

AUGUSTE

Ich weiß.

NYFFENSCHWANDER angstvoll

Auguste, eine halbe Stunde polterte ich gegen die Türe, und du machtest nicht auf.

AUGUSTE

Ich weiß.

NYFFENSCHWANDER

Die Türe war verriegelt.

AUGUSTE

Ich weiß.

NYFFENSCHWANDER

Und als du endlich aufmachtest, war er tot.

AUGUSTE gleichgültig

Er starb in meinen Armen, und ich mußte mich anziehen. Ich schlief mit ihm, bevor er starb.

Schweigen.

NYFFENSCHWANDER

Aber –

Auguste betrachtet die Leiche.

AUGUSTE

Ich bin stolz, seine letzte Geliebte gewesen zu sein. Packt weiter.

NYFFENSCHWANDER

Das konntest du nicht tun, Auguste, das konntest du nicht tun.

AUGUSTE

Ich tat’s.

NYFFENSCHWANDER

Mit einem Sterbenden!

AUGUSTE

Er war ein Mann.

NYFFENSCHWANDER

Schämst du dich nicht?

AUGUSTE

Nein.

NYFFENSCHWANDER

Er ließ meine Bilder verbrennen; mein ganzes Werk.

AUGUSTE

Und?

NYFFENSCHWANDER schreit

Ich stellte doch nur das Leben dar!

AUGUSTE

Ich habe deine Malerei satt.

NYFFENSCHWANDER

Aber du glaubtest doch an mich, Auguste, ganz allein auf der Welt glaubtest du an mich, wir hielten zusammen, was auch Schweres kam –

AUGUSTE

Ich war für dich nichts als ein Modell. Hat zusammengepackt. Wir sind fertig miteinander.

NYFFENSCHWANDER

Das ist doch unmöglich.

AUGUSTE

Ich gehe.

NYFFENSCHWANDER

Unsere Kinder –

AUGUSTE

Ich nehme sie mit. Bleibt einen kurzen Augenblick vor dem Totenbett stehen.

NYFFENSCHWANDER

Das darf nicht sein, Auguste.

AUGUSTE

Leb wohl! Ab.

NYFFENSCHWANDER

Auguste! Läuft ihr nach, die Treppe hinunter. Komm zurück, Auguste! Ich verzeihe dir.

Im Bett richtet sich Schwitter auf. Feierliches Totenhemd. Kinnbinde. Um den Hals einen Totenkranz. Nimmt die Binde ab. Nyffenschwander kommt zurück.

NYFFENSCHWANDER

Das ist doch Wahnsinn, Auguste! Du kannst mich doch nicht verlassen! Wegen eines Toten!

SCHWITTER

Das Bett steht falsch. Betrachtet das Atelier.

NYFFENSCHWANDER

Sie – Sie – Glotzt Schwitter an.

SCHWITTER

Das Bett stand, wo jetzt der Tisch steht, und der Tisch stand, wo sich jetzt das Bett befindet. Streckt die Beine aus dem Bett. Darum kann ich nie sterben. Hebt den Kranz über den Kopf. Wieder Totenkränze. Sie rollen mir nach. Steigt aus dem Bett. An die Arbeit. Das Bett muß hinüber.

Nyffenschwander glotzt, unbeweglich.

SCHWITTER

Zuerst räumen wir den Stuhl und den Tisch beiseite.

NYFFENSCHWANDER verzweifelt

Sie schliefen mit meiner Frau.

SCHWITTER

Der belgische Minister schlief auch mit meiner dritten Frau.

NYFFENSCHWANDER

Was habe ich mit Ihrem ewigen belgischen Minister zu schaffen?

SCHWITTER

Sie gleichen ihm. Anfassen!

Trägt den Tisch...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Der Meteor/Dichterdämmerung
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte 20. Jahrhundert • Drama • Dürrenmatt • Existenz • Klassiker • Literatur • Nobelpreisträger • Persiflage • Schriftsteller • Schweiz • Sterben • Theater • Theaterstück • Tod
ISBN-10 3-257-60843-8 / 3257608438
ISBN-13 978-3-257-60843-4 / 9783257608434
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