Eine Deutschlandreise (eBook)

Literarische Zeitbilder 1926–1936 - mit 8 Originalseiten aus den Notizbüchern des Autors und 20 historischen Fotos

(Autor)

Oliver Lubrich (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020
Manesse Verlag
978-3-641-26902-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Deutschlandreise - Thomas Wolfe
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein US-Amerikaner mit deutschen Wurzeln blickt liebevoll-kritisch auf das Deutschland zwischen 1926 und 1936
Er schlenderte mit James Joyce durch Goethes Geburtshaus, schunkelte auf dem Münchner Oktoberfest und durchzechte mit seinem Lektor Heinrich Maria Ledig-Rowohlt Berliner Sommernächte. Kein Autor der amerikanischen Moderne drang tiefer in deutsche Kultur und Mentalität ein als Thomas Wolfe, und so sind seine Deutschlanderkundungen zwischen 1926 und 1936 auch Reisen zu sich selbst. Im liebevollen und zugleich kritischen Blick des großen Erzählers lässt sich jene entscheidende Epoche miterleben, als die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts die denkbar fatalste Wendung nahm.

Dieser Band enthält drei Stories («Dunkel im Walde, fremd wie die Zeit», «Oktoberfest», «Nun will ich Ihnen was sagen»), den Zeitschriftenartikel «Brooklyn, Europa und ich» sowie weitere faszinierende Fundstücke aus den Notizbüchern und Briefen des Autors in Erst- und Neuübersetzung, exklusiv zusammengestellt von Oliver Lubrich. Im Spannungsfeld zwischen Zeitdokumenten und erzählender Literatur entsteht ein beeindruckendes Panorama deutsch-amerikanischer Kulturgeschichte.

Mit 8 Originalseiten aus den Notizbüchern des Autors und 20 historischen Fotos

Schon als Sechsundzwanzigjähriger, bei seinem ersten Besuch, schwärmt Wolfe für die Heimat von Dürer, Goethe und Beethoven. Als er wiederkommt, steht er staunend vor den Schaufenstern deutscher Buchhandlungen, pilgert durch deutsche Museen und Bierkeller. Er besingt die Schönheit des Rheins, lässt sich bezaubern von den Altstadtidyllen Frankfurts und Nürnbergs, vom märchenhaften Schwarzwald, vor allem aber von der gastfreundlichen Aufnahme durch ein Kulturvolk, das sich seine Herzlichkeit und seinen liebenswerten Eigensinn bewahrt zu haben scheint. Keineswegs blind für bedenkliche Zeitsymptome, überwiegen doch die positiven Eindrücke bei Weitem. Nicht einmal eine blutige Wiesn-Schlägerei heilt den amerikanischen Dauergast von seiner akuten Germanophilie. Mitte der 1930er kehrt Wolfe als Weltberühmtheit in das Land seiner Vorväter zurück, wo man den Autor von «Schau heimwärts, Engel» euphorisch feiert. Er wird Zeuge des nationalsozialistischen Massenwahns und der Selbstinszenierungsorgie des «Dark Messiah» (wie er Hitler nennt) während der Olympischen Spiele 1936. Was Thomas Wolfe lange nicht wahrhaben wollte, wird ihm nun schlagartig klar: «Good old Germany», die Heimstatt von Humanität und unbedingtem Freiheitsstreben, gibt es nicht mehr. Und so endet die Liebe zu Deutschland, seiner zweiten Heimat, mit der schmerzlichen Abkehr und dem Abschied für immer.

«I have the deepest and most genuine affection for Germany, where I have spent some of the happiest and most fruitful months of my life.» Thomas Wolfe

Thomas Wolfe (1900-1938) wurde als letztes von acht Kindern in Asheville, North Carolina, geboren. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, schaffte es der hochbegabte Junge bis nach Harvard und wurde Dozent für amerikanische Literatur an der New York University. Kaum hatte sein Schaffen weltweit Anerkennung gefunden, als er im Alter von nur siebenunddreißig Jahren starb.

NOTIZBUCH-EINTRÄGE


Der rasierte Schädel eines Hunnen1 scheint oberhalb seines Nackens abgesägt und passgenau aufgesetzt worden zu sein, der gezahnten Speckfalten wegen.

Ratskeller*,2 Stuttgart: Ach Gott!*3 Der Nacken. Der Nacken.

Sing sunk gesank4 in einem neuen Land – Wer kann das so gut wie ich?

Stuttgart, Dienstagabend [7. Dezember 1926]:

Kaffee–Restaurant Königen Olga Bau.*5

Als ich den Rhein heute von Straßburg her überquerte – fügte ich ein weiteres Land hinzu – Abends in meiner Unterkunft warf ich mich in die Brust von wegen: «Ha, ihr Saubande, das könnt ihr mir nie mehr nehmen!» Das flache Land spult sich endlos weit ab in den verwischten halb dunklen Wäldern.

Der Hunnenkopf – klein kompakt über einem vollen länglichen Gesicht – sieht aus wie irgendwas zum Schlagen zum Zerschmettern zum Damitfahren.

Stuttgart:

Frau Warren’s Gewerbe* von Bernhard Shaw.6

In den hiesigen Buchhandlungen gibt es Ausgaben britischer und amerikanischer Schriftsteller – Galsworthys «Forsythe Saga», Shaw, Chesterton, Cooper, Mark Twain, Wilde.7

Heute! Heute!*

Das Grosse und Kleine Schauspielhaus.*

Stuttgarter Hügel – breit, mit hellen, perligen Hügellichtern zwinkernd des Abends – Die Stadt in der Ebene – Der Marktplatz, Rathaus und die [Bild einer Gabel]8 gegabelten vorkragenden hellfarbigen Spielzeughäuser.

Ein Tal, das zwischen den Hügeln dahinströmt wie ein Fluss.

Cannstatt – ein Vorort von Stuttgart.

Der Ausflug von Stuttgart aus: Friedrichshafen, Augsburg, Ulm – Auf dem ersten Teil der Reise die romantische Landschaft – die steilen Hügel dicht an dicht – das Arbeitspferd – langsam sich drehende Maschine – Die Felder gegen den dunklen Himmel – die Grasstreifen und gepflügte Erde – einförmiger als Frankreich, finde ich.

Der alte Deutsche bei mir im Waggon. Das geschlossene Abteil – Wir schliefen beide ein, von der Hitze betäubt – Der Schaffner mit der hochgeschlagenen Uniform.

München – Vororthaltestellen rauschen vorbei – Nahverkehrszug und Elektrische warten – Ähnlichkeit aller Großstädte überall im Industriezeitalter – der Bahnhof – der Prellbock.

Nach dem Passieren der Schranke warte ich außerhalb in zunehmender Ekstase. Während er mit dem Gepäckschein* zur Gepäckaufgabe* geht.

Der alte Mann mit dem Wägelchen – die sarkastischen Bemerkungen auf dem Weg durch die überfüllten Weinachts*straßen – Hotel «Vier Jahreszeit»*.

Später – das Hofbrau Haus* – Untere Mittelschicht9 – Das großartige Bier, dunkel dunkel dunkel – Das Lokal schmuddlig und erfüllt von der Kraft des Biers und Rauchs und der ungemein fröhlich-lebhaften Vitalität seiner zwölfhundert Stimmen.

[Zeichnung eines Maßkrugs] Der Hunnenchauffeur oder -pförtner mir gegenüber. Die rubinroten, bierfeuchten Lippen tropfend vor ausgerülpstem Bier. Die Hutkante [Zeichnung] – Die Kellnerinnen in ihren schwarzen Kleidern – zahnlose, böse fröhliche Gesichter – Schlüssel an der Hüfte – Sehniger und knochenhintriger Gang – blonder junger Mann in Alpentracht – Alter Mann zieht Brot durch die Bierpfütze, bevor er es isst – Hinreißender Landstreicher mit Bart, der sich eine lange Pfeife anzündet [Zeichnung einer geschwungenen langen Pfeife] – Verbeugt sich förmlich, aber blödsinnig vor den Leuten am Nachbartisch.

Betrunkene aufgekratzte Stimmen erheben sich draußen über den Lärm – Ecke nass von Pisse – Teniers10 – Morgen Sonntag, aber alles geöffnet, die letzten zwei vor Weihnachten. […]

Deutsche Museum* – Ungeheuer faszinierend – Die kleinen deutschen Jungen, die mit den Maschinen spielen durften – Leibnitz, Ohm, Röntgen – Wärme* – die Energie – das Bild von der Luftpumpe und ihre Vorführung in Magdeburg – Pferde konnten nicht auseinanderziehen.11

Aber ach, die Flugzeuge – ich begriff sie, weil sie zunächst von Verrückten ersonnen wurden – Menschen wie ich, bar jeder Wissenschaft.

Sonntagnacht [12. Dezember]

Der Zug noch Westen,12 Deutsches Theater*13: Eine Revue wie die meisten andern, französische und amerikanische – Kleine Tische auf dem Balkon, wo ich saß – Das kindliche Entzücken des Publikums über die amerikanische Tänzerin – Die fette blonde Komödiantin – Sie war lustig – alle aßen und tranken in der Pause.

Danach: Das Wiener Restaurant*14 – Wien*-Gulasch – Warum sind Zigaretten in Deutschland so teuer?

Heute Morgen Welt Reisen*15 – Zwei Briefe vom Juden16.

Glyptothek: Der feinste Apoll, den ich je gesehen habe17 [Zeichnung darunter].

Ein gut weiss wein: Deidesheimer Leinhöhle*

Karlplatz – Ein dunkeles bier.*

Dunkeles gibt es nicht – gibt es weiss bier.*

Die Bücher über Amerika und England in den Fenstern.

Die Studenten mit den Wangenverwundungen nach dem Theater im München Café* – Einer war da mit einer zolllangen Wangenwunde, die gerade erst heilte – Die Bewegung der Menschen auf den Straßen – Dieser Augenblick für immer vergangen und eingefangen.

Die teure, die unschätzbare Seite an Jungen ist ihr Eifer. Die Jungen in Frankreich und Deutschland, die mir nach New York schreiben werden.

Dienstag: Spät aufgestanden – Deutscher Kellner lachte, als er mich so dösen sah. Ging zum Amtliches bayerisches Reise­bureau*18 – Kein Telegramm – Ging in die großartige Frauenkirche [Zeichnung] – Wie zwei steife Schwänze19 sind die Türme.

Im dunklen und eingefrorenen Maximilianeum habe ich mir den Fuß ver*staucht.20 Jetzt tut er weh. Wie der dunkle Fluss strömte – Greifbar – Kaskade um eine Insel – die Holzteilchen darin eingekeilt.

[Zeichnung eines Kopfs mit Beschriftung] Hunnenkopf, Schwerthieb, die Nackenlinie.

Was tut die fernere Welt?

Heute Abend: Shaws Mensch und Übermensch – Dargeboten mit teutonischer Gründlichkeit – Das Zwischenspiel in der Hölle21 – Wie sehr es ihnen gefiel – Gott, was für ein Bühnenbild – und wie unerfreulich der Anblick mancher Leute war – Aber hübsche Frauen.

[Zeichnung] Hunnenhelm.

Das Rheingold* heute Abend hervorragende Aufführung – Ich war im fünften und obersten Rang, eingeklemmt zwischen frauleins*, die mir Löcher in die Nieren stießen. Aber umwerfend – Die gewaltige Größe der Riesen – Die Düsternis, die großen, die Düsternis durchblasenden Hörner – das flammend rote Ufer, wie der Schrecken des Bösen – der Degen22 in der gigantesken Düsternis. […]

Die Tausende deutscher Studenten, die schlagenden Verbindungen angehören – Der Säbel schneidet in ihre Gesichter – Wangenknochen, normalerweise – [Zeichnung] Nasenwunde.

Ein Mann mit gebrochener Nase. Ein Säbelhieb aber nicht so schlimm wie der Hieb, den die Jahre versetzen. [Zeichnung] […]

Die Tausende deutscher Studenten, die schlagenden Verbindungen angehören – Der Säbel schneidet in ihre Gesichter – Wangenknochen, normalerweise – Nasenwunde. – CORPSSTUDENTEN IN VOLLWICHS BEIM FESTCOMMERS.

Süddeutsche Zeitung Photo

Wenn dich einer dieser narbengesichtigen Jungen herausfordert, beantwortest du seine Herausforderung, indem du seinen Kopf mit einer Flasche oder sein Gesicht mit deiner Faust zerschmetterst – Sie sind Messer gewohnt, stolz auf die Narbe – Wollen doch mal sehen, wie ihnen Fingerköchelarbeit gefällt.

Die Kunst des Hassens – Sie ist so selten, so großartig als Kunst, dass sie nur von Menschen mit einem großen Herzen erfolgreich ausgeübt werden kann.

Unsere Freude über die Niederlage der Deutschen war zum Teil gerechtfertigt – Erfreulich ist es, den Mann, der sich in Erwartung eines Kampfes Kriegslust antrainiert, geschlagen zu sehen. […]

Für und Wider eines subventionierten Theaters – Das großartige Deutsche Schauspielhaus* – Wie ein Regierungsgebäude – massive Hallen und Treppenhäuser.

Platzl.*23 Das bayerische Vaudeville24 – Vielleicht das Interessanteste, was ich in...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Übersetzer Renate Haen, Irma Wehrli, Barbara von Treskow
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • eBooks • Goldene Zwanziger • Heimat • James Joyce • München • Nationalsozialismus • Neue Sachlichkeit • Oberammergau • Oktoberfest • Olympische Spiele • Passionsspiele • Reisen • Urlaub in Deutschland • Weimarer Republik
ISBN-10 3-641-26902-4 / 3641269024
ISBN-13 978-3-641-26902-9 / 9783641269029
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 11,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99