Die Midaq-Gasse (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
360 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30576-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Midaq-Gasse -  Nagib Machfus
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Einst glänzte die Midaq-Gasse wie ein Stern in der Geschichte des mächtigen Kairo. Inzwischen sind die Arabesken am berühmten Kirscha-Kaffeehaus bröcklig und morsch geworden. Onkel Kamil, der Bonbonverkäufer, der alte Dichter, den keiner mehr hören will, seit es das Radio gibt, der stolze Chef der Handelsfirma, ja sogar der düstere Zita, der aus Menschen Krüppel macht, damit sie besser betteln können - sie alle spüren die neue Zeit, deren Rhythmus die Stadt erobert. Jeder sucht seinen eigenen Weg in die Zukunft. Umm Hamida, Chronistin aller Nachrichten und wandelndes Lexikon aller Missetaten, hat täglich mehr zu erzählen über die Geheimnisse dieser Gasse, denn eine Welt ist in Unordnung geraten. In diesem Roman wird eine Altstadtgasse von Kairo zum Mikrokosmos einer Welt im Umbruch.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche "Vater des ägyptischen Romans". Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.

1 


Viele Zeugnisse sprechen dafür, dass die Midaq-Gasse zu den Kostbarkeiten vergangener Jahrhunderte gehört und einstmals in der Geschichte des mächtigen Kairo wie ein strahlender Stern geglänzt hat. Welches Kairo meine ich? Das Kairo der Fatimiden, der Mamluken oder das der Sultane? Allein Gott und die Archäologen wissen das. Auf jeden Fall ist diese Gasse ein geschichtliches Denkmal, und zwar ein wertvolles. Wie auch nicht, wo doch die mit Steinplatten belegte Straße direkt zur Sanadiqija-Straße hinunterführt, diesem historischen Winkel mit dem berühmten Kirscha-Kaffeehaus, mit seinen Wänden voller Arabesken aus längst vergangener Zeit, bröckelig und morsch nun, und mit dem starken Duft uralter Heilkräuter, die mittlerweile zu wohlduftenden Parfümen geworden sind.

Obwohl die Gasse fast gänzlich ausgeschlossen vom Getriebe der Welt lebte, war sie doch vom Lärm ihres eigenen Lebens erfüllt, einem Leben, das in tiefstem Innern unlösbar im Ganzen, vollen Sein verwurzelt war und erst noch die Geheimnisse der alten, vergangenen Welt in sich barg und bewahrte.

Die Sonne kündigte den nahenden Abend an, und die Midaq-Gasse hüllte sich in den bräunlichen Schleier der Dämmerung. Wie in einer Falle gefangen, war das Abendlicht von drei Wänden umschlossen, was die Brauntöne noch stärker hervortreten ließ. Die Gasse führte von der Sanadiqija-Straße herauf und stieg unregelmäßig an. Auf der einen Seite gab es einen Laden, ein Kaffeehaus und eine Bäckerei, auf der anderen einen zweiten Laden und eine Handelsfirma. Wie ihr vergangener Ruhm endete die Gasse jäh an zwei nebeneinanderliegenden dreistöckigen Häusern.

Das lärmende Leben des Tages verstummte, die sanften Töne des Abends breiteten sich aus. Ein Wispern hier, ein Murmeln dort:

O Allah, Helfer in der Not … Du Ernährer, du Wohltäter … O Allah, möge alles gut enden … Allein bei Ihm liegt alles … Guten Abend, Leute. Kommt nur, kommt, nun ist die Zeit, sich zu unterhalten … Steh auf, Onkel Kamil, und schließe den Laden … Wechsle das Wasser in den Pfeifen, Sanqar! … Lösch das Feuer im Ofen, Djada! … Dieses Haschisch presst mir das Herz zusammen … Wenn wir schon fünf Jahre lang nächtliche Finsternis und Luftangriffe erdulden müssen, dann liegt das nur an unserer eigenen Schlechtigkeit …

Nur die Läden von Onkel Kamil, dem Bonbonverkäufer rechts am Anfang der Gasse, und der Frisiersalon von al-Hilu auf der linken Seite blieben noch ein wenig nach Sonnenuntergang geöffnet. Onkel Kamil hatte die Gewohnheit – genauer gesagt, er hielt es für sein Recht –, einen Stuhl auf die Schwelle seines Ladens hinauszustellen und mit dem Fliegenwedel im Schoß zu schlummern. Nur das laute Rufen eines Kunden oder ein Scherz von Abbas al-Hilu, dem Friseur, konnten ihn wecken. Er war eine einzige gewaltige Fleischmasse, der Djilbab spannte sich auf seinen Schenkeln, sodass sie aussahen wie Wasserschläuche. Hinten bauschte sich das Gewand wie eine Kuppel, deren Mittelpunkt auf dem Stuhl lag, während der Rest frei in der Luft hing. Er hatte einen Bauch wie eine Tonne und weiche, ausladende Brüste. Von einem Hals war kaum etwas zu sehen, denn dicht zwischen den Schultern saß ein rundes, aufgeblähtes Gesicht, in dem sich das Blut staute. In all dem Fett waren Gesichtszüge kaum noch zu erkennen, es zeichnete sich keine feste Linie ab, und fast sah es so aus, als habe er weder Nase noch Augen. Gekrönt war das alles von einem kleinen, kahlen Schädel, der ebenso rosig war wie die übrige Haut. Ständig keuchte und prustete er, als nähme er unentwegt an einem Wettlauf teil. Kaum hatte er ein paar Bonbons verkauft, da überfiel ihn schon wieder der Schlaf. Wie oft hatten ihn die anderen gewarnt, die Herzverfettung könne eines Tages zu seinem plötzlichen Ende führen. Er stimmte ihnen immer zu. Aber wie sollte ihm der Tod schaden, wenn doch sein ganzes Leben ein ununterbrochener Schlaf war?

Der Salon von al-Hilu war zwar ein kleiner Laden, galt aber in der Gasse als sehr elegant, gab es doch außer den vielen Geräten auch einen Spiegel und einen Sessel. Der Besitzer all dessen war von mittlerem Wuchs, neigte zur Fülle und hatte eine blasse Hautfarbe. Die Augen standen ein wenig hervor, und die ordentlich gekämmten Haare hatten trotz der Bräune der Haut einen Stich ins Gelbliche. Er trug einen Anzug, darüber eine Schürze – stand ihm das vielleicht nicht ebenso zu wie den Großen seines Fachs?

Onkel Kamil und Abbas al-Hilu waren in ihren Läden noch anzutreffen, wenn die dem Salon benachbarte Handelsfirma schon ihre Pforten schloss und die Angestellten nach Hause gingen. Der Letzte, der ging, war der Chef, Herr Salim Alwan. Stolzen Schritts ging er in seinem Kaftan auf die Kutsche zu, die ihn am Anfang der Gasse erwartete. Würdevoll stieg er ein und füllte mit seinem stattlichen Körper den Sitzplatz voll aus. Ein Tscherkessen-Schnurrbart wippte ihm forsch voraus. Der Kutscher trat mit dem Fuß auf die Glocke, sodass sie kräftig läutete. Der einspännige Wagen fuhr die Rurija-Straße hinunter und weiter in Richtung der Hilmija-Straße.

Die Fensterläden der beiden Häuser am Ende der Straße wurden zum Schutz gegen die Nachtkälte geschlossen, Lampenschein drang durch ihre Ritzen. Die Midaq-Gasse wäre in völligem Dunkel versunken, wenn da nicht Kirschas Kaffeehaus gewesen wäre. Die Schnüre der elektrischen Lampen waren voll von Fliegen. Der Raum war quadratisch und ein wenig verkommen. Aber noch waren ja die Arabesken an den Wänden. Nur noch ihr Alter und mehrere Sofas längs der Wände erinnerten an die großen Zeiten. Am Eingang war gerade ein Arbeiter dabei, einen alten Lautsprecher an der Wand anzubringen. Einige wenige Leute saßen herum, rauchten Wasserpfeifen und tranken Tee.

Nahe der Eingangstür saß ein etwa fünfzigjähriger Mann, die Beine auf dem Polster gekreuzt. So wie die Effendis trug er einen Djilbab mit Kragen und Krawatte. Auf seiner Nase saß eine goldgerahmte, teuer aussehende Brille. Die Holzpantoffeln hatte er abgestreift, sie lagen zu seinen Füßen. Reglos wie ein Denkmal und schweigend wie ein Toter hockte er da und schaute weder nach links noch nach rechts, als sei er ganz allein auf der Welt.

Draußen näherte sich dem Kaffeehaus ein greiser Mann, dem die Zeit keine einzige heile Stelle am Körper gelassen hatte. An seiner linken Seite ging ein Junge und führte ihn. Unter dem rechten Arm trug er eine Rebab und ein Buch. Beim Eintreten grüßte der Alte die Anwesenden und ging auf die Polsterbank in der Mitte des Raums zu. Mithilfe des Jungen stieg er hinauf. Der setzte sich neben ihn und legte die Rebab und das Buch zwischen sich und den Alten. Der Mann musterte die Gesichter der Besucher, als wolle er den Eindruck prüfen, den sein Erscheinen bei ihnen hervorgerufen hatte. Dann richtete er die trüben, entzündeten Augen unruhig auf den Bedienungsgehilfen Sanqar. Als ihm klar wurde, dass der Junge ihn absichtlich übersah, brach er sein Schweigen und sagte grob: »Kaffee, Sanqar!«

Der Bursche guckte kurz hinüber, drehte ihm dann nach kurzem Zögern wortlos den Rücken zu und überhörte die Bestellung. Dem Alten war klar, dass der Junge ihn auch weiterhin übersehen würde, er hatte auch nichts anderes erwartet. Aber der Himmel schien ihm zu Hilfe zu kommen, denn genau in diesem Moment war ein Mann hereingekommen, der den Alten gehört und die abweisende Haltung des Burschen beobachtet hatte. Gebieterisch befahl er: »Bring den Kaffee für den Dichter, Junge!«

Dankbar blickte der Alte ihn an und sagte mit trauriger Stimme: »Gott möge es Ihnen danken, Doktor Buschi.«

Der Doktor grüßte zu ihm hinüber und setzte sich nicht weit von ihm hin. Auch er hatte einen Djilbab an, trug auf dem Kopf ein Käppchen und an den Füßen Holzpantoffeln. Er war Zahnarzt, hatte aber seine Kunst dem Leben abgenommen, ohne je eine medizinische oder sonstige Schule besucht zu haben. Angefangen hatte er als Gehilfe bei einem Zahnarzt im Djamalija-Viertel. Gescheit wie er war, hatte er sich so manchen Kunstgriff abgeguckt und es zu etwas gebracht. Er war vor allem wegen seiner nützlichen Verordnungen berühmt geworden, auch wenn er das Ziehen eines Zahns noch immer als die beste Behandlung ansah. Sicherlich war es recht schmerzhaft, wenn er in seiner ambulanten Praxis einen Backenzahn zog. Aber dafür war es auch billig: einen Qirsch für die Armen und zwei für die Reichen – die der Midaq-Gasse natürlich. Und wenn tatsächlich einmal Blut floss, was gar nicht so selten war, dann sah er es als gottgegeben an und meinte, Allah werde es auch wieder stillen. Dem Meister Kirscha hatte er sogar ein goldenes Gebiss eingesetzt, für ganze zwei Pfund. In der Gasse und den benachbarten Vierteln wurde er »Doktor« genannt, und vielleicht war er der erste Arzt, der seinen Titel von den Patienten empfangen hatte.

Sanqar brachte dem Dichter Kaffee, so wie der Doktor es befohlen hatte. Der alte Mann nahm das Glas und pustete, um den Kaffee abzukühlen. Dann begann er, in kleinen Schlucken zu trinken. Als er fertig war und das Glas beiseitestellte, fiel ihm ein, wie schlecht der Bursche ihn behandelt hatte. Böse blickte er zu ihm hinüber und murmelte wütend: »Schlecht erzogen …« Dann nahm er die Rebab, probierte auf den Saiten herum und vermied ganz bewusst, die scheelen Blicke zur Kenntnis zu nehmen, mit denen Sanqar ihn bedachte. Ganz so, wie man es im Kaffeehaus Kirscha seit zwanzig Jahren oder mehr gewohnt war, begann er mit einem Vorspiel. Sein ausgemergelter Körper begann sich dem Rhythmus...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2020
Übersetzer Doris Kilias
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ägypten • Arabien • Großstadt • Kairo • Kirscha Kaffeehaus
ISBN-10 3-293-30576-8 / 3293305768
ISBN-13 978-3-293-30576-2 / 9783293305762
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