Zerstörung (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
230 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-4488-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zerstörung -  Cecile Wajsbrot
Systemvoraussetzungen
15,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Über das Erinnern, das Vergessen und die Sorge davor, aus Fehlern der Geschichte nicht gelernt zu haben. Sie hatte ihr Leben dem Lesen und Schreiben gewidmet. Doch plötzlich zerbricht alles um sie herum, eine Diktatur breitet sich aus, das Schreiben wird unmöglich. Ihre einzige Ausdrucksmöglichkeit findet die Erzählerin in einem rätselhaft bleibenden 'Soundblog'. Mysteriöse, beängstigende und philosophische Gedanken beschäftigen sie: Die neue Macht zerstört nach und nach auf heimtückische Weise jede Erinnerung und versucht, alle Spuren der Geschichte zu löschen. Wann und wie hat dieser Umbruch stattgefunden? Gab es Warnsignale? Ist sie selbst schuld daran, dass die Dinge geschehen? Wollte sie sich nicht aus der Vergangenheit befreien? Cécile Wajsbrot beschreibt in ihrem sprachmächtigen Roman auf beeindruckende und erschreckende Weise die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte. In einer innovativen ästhetischen Form beschäftigt sie sich mit der deutsch-französischen Erinnerungskultur.

Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt unter anderem für die Zeitschriften 'Autrement', 'Les nouvelles Littéraires' und 'Le Magazine littéraire'. 2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Prix de l'Académie de Berlin. Anne Weber, geb. 1964, ist eine deutsche Autorin und literarische Übersetzerin. Sie arbeitete bei verschiedenen französischen Verlagen und übersetzte nebenbei Texte deutscher Gegenwartsautoren und Sachbücher ins Französische. Ihr Roman 'Kirio' stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017.

Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt unter anderem für die Zeitschriften "Autrement", "Les nouvelles Littéraires" und "Le Magazine littéraire". 2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Prix de l'Académie de Berlin. Anne Weber, geb. 1964, ist eine deutsche Autorin und literarische Übersetzerin. Sie arbeitete bei verschiedenen französischen Verlagen und übersetzte nebenbei Texte deutscher Gegenwartsautoren und Sachbücher ins Französische. Ihr Roman "Kirio" stand auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2017.

 

 

 

I
Auf dem Leuchtturm


 

 

 

Zu einer wissenschaftlich auf die Sekunde genau berechneten Zeit würde der Mond zwischen Sonne und Erde hindurchwandern und sein schnell voranziehender Schatten würde die Sonne verdecken, verdunkeln. Statt einer Mondsichel wäre eine Sonnensichel und dann eine schwarze Scheibe zu sehen.

Ich wusste genau, was geschehen würde, ich kannte die wissenschaftliche Erklärung dafür, ich hätte den Ablauf der Ereignisse in allen Einzelheiten beschreiben können, ohne sie gesehen zu haben, aber all das stand in keinem Zusammenhang zu der tatsächlichen Erfahrung. Auch die Worte, die ich gerade verwendet habe, sind zu abstrakt gewesen. Es geht um Gefühle, um Augenblicke, die in keiner Hinsicht mit etwas von mir bis dahin Erlebtem vergleichbar sind.

So beginnt – ungefähr – Stifters Bericht über die Sonnenfinsternis, die er am 8. Juli 1842 am frühen Morgen eines stillen Tages in Wien erlebt hat.

 

 

 

1


Mein Leben habe ich – hatte ich – den mit Lesen oder Schreiben verbrachten Stunden des Rückzugs gewidmet. Ich habe geglaubt – ich glaubte –, die Welt sei nur auf diesen von mir nach und nach in einer Mischung von Ungeduld und Erwartung durchblätterten Seiten wirklich existent. Dieser besondere Zustand, diese Lebensweise nannte sich Literatur. Alles schien einfach. Und nun verlangen Sie von mir zu reden, das Wort zu ergreifen für die, die nicht reden. Eine mündliche Erzählung abzugeben, eine Art Bericht über eine allgemeine Atmosphäre, über Ereignisse, und das allein zu Hause in der Nacht sitzend – wie gerade im Moment –, ich soll gedankenlos hingesagte Wörter aufzeichnen, eine Rohfassung, ohne Revision, ohne Verbesserungen, ganz anders, als ich bisher gearbeitet habe – oder kann ich noch »wie ich arbeite« sagen? Ich gebe immer erst die vierte oder fünfte Fassung meiner Bücher aus der Hand, ich lese alles noch zigmal durch, berichtige, streiche hier, füge dort etwas hinzu, und nun soll ich alles lassen wie es ist, soll alles wegschicken ohne noch einmal einzugreifen?

Die Nacht und die Einsamkeit kenne ich gut. Es sind meine Schreibstunden, die völlige Dunkelheit bis zum frühen Morgen, Stunden, die einem ganz gehören, die man niemandem wegnimmt, in denen einen keiner anruft – Stunden, in denen einen niemand braucht. Die Stimme aber klingt seltsam in diesen Stunden. Ich merke das jetzt erst, da ich gewöhnlich meine Worte im Stillen suche. Stellen Sie sich eine Radiosendung vor, haben Sie gesagt, einen roten Faden – eine Erzählung – und dann Leute, die zugeschaltet werden. Andere Echos, andere Bilder, aber durch den Filter ihrer Person gesehen, haben Sie weiter gesagt, wir haben Sie ausgewählt, weil Sie die Wörter kennen, weil Sie mit ihnen vertraut sind. Aber die Wörter bedeuten etwas, habe ich gesagt, es sind keine leeren Hülsen, die man auf gut Glück an jemanden richtet. Sie enthalten Ideen, Gedanken. Das ist es ja genau, was wir wollen, haben Sie gesagt, worauf wir aus sind.

 

– Ich hatte alles vorbereitet und alles in Erwägung gezogen. Ein neues Leben fing an, voller Perspektiven. Ich wollte nichts mehr von dem tun, was ich vorher getan hatte. Das absolut Neue. Der Wechsel. Und dann sind sie plötzlich dagewesen.

– Ich wollte reisen, die Welt durchstreifen. Ich hatte gespart, um ein Jahr auf Straßen unterwegs sein zu können, auf Frachtschiffen die Ozeane zu überqueren. Anzuhalten kam nicht in Frage, vor allem nicht an irgendeinem Ort bleiben, Wurzeln schlagen. Es heißt, die Rückkehr sei schwierig nach einer solchen Reise, aber das zu überprüfen war keine Gelegenheit. Sie sind dagewesen, bevor ich abreisen konnte.

– Alle Zeichen stimmten überein. Ich wartete. Etwas sollte geschehen, sich radikal verändern in meinem Leben. Man hatte es mir vorausgesagt. Aber dann war alles aus.

 

Eine Art Sound Blog, haben Sie mir gesagt. Je nach Tagesgeschehen, aber wie Sie möchten. Wichtig sei, dass die Sache einen Zusammenhang habe, dass sie lange genug dauere, um ein Ganzes zu ergeben, das den Charakter eines Erlebnisberichtes hat – eines unter anderen, haben Sie hinzugefügt, zu meiner Beruhigung vielleicht, um mir zu verstehen zu geben, dass ich nicht alleine bin, dass nicht alles von mir abhängt.

 

– Wer sind Sie?

– Ich las. Ein Buch, in dem der Autor davon erzählt, wie er genau in dem Moment, als das Buch erschien, das er über seinen Vater geschrieben hatte, entdeckte, dass dieser als Spion für das Regime tätig war, das er verurteilt.

– Kennen Sie die Namen? Können Sie sie angeben?

– Den Namen des Autors? Péter Esterházy. Das Buch über seinen Vater heißt Harmonia Caelestis, und das, in dem er seine Entdeckung schildert, Verbesserte Ausgabe.

– Und dann?

– Mitten in der Lektüre habe ich ein Klopfen an der Tür gehört. Ich habe geöffnet. Gehen Sie schnell runter, hat jemand gesagt, den ich noch nie gesehen hatte. Das Feuer breitet sich aus. Verlassen Sie die Wohnung.

– Und dann?

– Wir waren auf der Straße, wir warteten vor unserem Haus, ohne eine Flamme zu sehen, denn der Brand war im Hinterhof ausgebrochen. Aber es kamen ständig neue Feuerwehrautos an. Es war eigenartig, all diese Zeichen eines Brands – die Sirene, die glänzenden Helme der Feuerwehrleute und der lange schwarze Schlauch, der abgerollt wurde – alles war da, bis auf das Feuer selbst. Noch nicht einmal eine Rauchwolke. Es hat einige Stunden gedauert – eine kurze und unendliche Zeit, ohne jedes Maß. Ich dachte an das Buch, das ich zurückgelassen hatte, ich fragte mich, ob ich es wiederfinden würde, ob ich meinen Computer wiederfinden würde, meine archivierten Nachrichten, diejenigen, die mir wichtig waren, die weniger wichtigen, die aber Teil meines Lebens waren … Ich dachte daran, was ein Leben ausmacht.

– Und dann?

– Stille kehrte ein. Es hieß, wir könnten wieder in unsere Wohnungen zurück. Aber da oben war nichts mehr wie zuvor. Das Wasser, das verspritzt worden war zum Löschen der unsichtbaren Flammen, hatte alles zerstört. Den Boden, die Bücher, das Leben …

– Wer sind Sie?

– Ich habe verschwinden wollen.

– Wer sind Sie?

– Die Summe meiner Gedanken – oder vielmehr meiner Träume.

– Wer sind Sie?

– Die Inkonsistenz in Person.

– Wer sind Sie?

– Verzeihung, ich wollte sagen, die Inkonsequenz.

 

Die Nacht umgibt mich, wie von Ihnen gewünscht, ich habe keine Bezugspunkte mehr, weder im Raum noch in der Zeit. Dabei bin ich zu Hause, aber die Stimme, die ich höre, klingt seltsam. Als ob ein anderer durch mich spräche. Als wäre ich zu Hause, ohne zu wissen, wer ich bin, und folglich spreche ich, ohne zu wissen, was ich sagen werde. Lassen Sie von diesem Experiment nie etwas anklingen (das war Ihr Wort, glaube ich), reden Sie mit niemandem darüber. Wir wollen den natürlichen Lauf Ihrer Gedanken und nicht das Ergebnis eines Austauschs mit anderen. Wir wollen das Geheimnis – zur Sicherheit. Und um dieses Experiment nicht zu verfälschen – ja, ich bin sicher, dass Sie das Wort »Experiment« verwendet haben, und ich habe Ihnen nicht gesagt, dass es mir missfiel, dass es mir das Gefühl gab, an einer Sache teilzunehmen, deren Zweck ich nicht nur nicht kannte, sondern die sich mir auch völlig entziehen würde, anders gesagt, was Sie daraus machen würden, hätte vielleicht nichts zu tun mit dem Wenigen, das ich mir selbst darunter vorstellen könnte. Stellen Sie sich nicht zu viele Fragen, haben Sie noch gesagt, als hätten Sie diesen Einwand vorhergesehen. Legen Sie los, das wird schon.

Ich habe Ihnen ein paar Tage später eine Art Stichprobe geschickt, einen Anfang, aber Sie haben mir gesagt, das sei zu durchdacht, ich solle nicht versuchen zu analysieren, sondern mich gehenlassen, spontan die jüngsten Ereignisse beschreiben, wie sie abgelaufen sind oder vielmehr, wie ich sie beobachtet und empfunden habe, ohne zu versuchen, den Konsequenzen oder Ursachen nachzuspüren. Eine autobiographische Dokumentation gewissermaßen, haben Sie gesagt. Ein Logbuch in Tönen. Autobiographien waren mir schon immer zuwider, habe ich gesagt. Vergessen Sie das Wort, das haben wir nicht gemeint. Eine Dokumentation, eine Erzählung. Das fängt schlecht an, habe ich gedacht. Mit einem Missverständnis. Und in mein Schweigen hinein haben Sie hinzugefügt: Machen Sie sich keine Sorgen, Sie schaffen das schon.

Wann hat diese Geschichte begonnen? Ein unsichtbarer, allmählicher Anfang, ein Schatten, der sich ausbreitet – bis zu dem Tag, an dem eine Veränderung offenkundig wird. Dieser Tag wird gewöhnlich als der Anfang angesehen, als der erste Tag einer neuen Ära – während sich doch alles schon seit langem anbahnte.

Vielleicht erinnern Sie sich...

Erscheint lt. Verlag 2.3.2020
Übersetzer Anne Weber
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte deutsch-französische Erinnerungskultur • Diktatur • Erinnern • Erzählende Literatur • Französischsprachige Literatur • Gegenwartsliteratur • Geschichte • Schreiben • Übersetzung • Vergangenheit • Vergessen
ISBN-10 3-8353-4488-9 / 3835344889
ISBN-13 978-3-8353-4488-4 / 9783835344884
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99