Der Empfänger (eBook)

Roman

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
304 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11581-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Empfänger -  Ulla Lenze
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Ein deutscher Auswanderer in New York - im Spionagenetzwerk der deutschen Abwehr Ulla Lenze legt einen wirkmächtigen Roman über die Deutschen in Amerika während des Zweiten Weltkriegs vor. Die Geschichte über das Leben des rheinländischen Auswanderers Josef Klein, der in New York ins Visier der Weltmächte gerät, leuchtet die Spionagetätigkeiten des Naziregimes in den USA aus und erzählt von politischer Verstrickung fernab der Heimat. Vor dem Kriegseintritt der Amerikaner brodelt es in den Straßen New Yorks. Antisemitische und rassistische Gruppierungen eifern um die Sympathie der Massen, deutsche Nationalisten feiern Hitler als den Mann der Stunde. Der deutsche Auswanderer Josef Klein lebt davon relativ unberührt; seine Welt sind die multikulturellen Straßen Harlems und seine große Leidenschaft das Amateurfunken. So lernt er auch Lauren, eine junge Aktivistin, kennen, die eine große Sympathie für den stillen Deutschen hegt. Doch Josefs technische Fähigkeiten im Funkerbereich erregen die Aufmerksamkeit einflussreicher Männer, und noch ehe er das Geschehen richtig deuten kann, ist Josef bereits ein kleines Rädchen im Getriebe des Spionagenetzwerks der deutschen Abwehr. Josefs verhängnisvoller Weg führt ihn später zur Familie seines Bruders nach Neuss, die den Aufstieg und Fall der Nationalsozialisten aus der Innenperspektive erfahren hat, und letztendlich nach Südamerika, wo ihn Jahre später eine Postsendung aus Neuss erreicht. Deren Inhalt: eine Sternreportage über den Einsatz des deutschen Geheimdienstes in Amerika. Stimmen zum Buch »Ulla Lenze verknüpft meisterhaft Familiengeschichte und historischen Stoff, schreibt brillant, lakonisch, zugleich mitreißend über einen freundlichen Mann, der sich schuldig macht, weil er sich wegduckt.« WDR, Claudia Kuhland »Wie keine andere Autorin und kein anderer Autor unserer Generation kann Ulla Lenze in klugen Szenen und wunderbaren Details von der inneren Verfasstheit weit entfernter Orte und ihrer Bewohner erzählen, von sozialen und zwischenmenschlichen Dynamiken und wie beides zusammenhängt. In ?Der Empfänger? wendet sie ihr Können erstmals auf einen historischen Stoff an und das Ergebnis ist beeindruckend.« Inger-Maria Mahlke »Wie schafft sie es bloß, über Figuren, die sich selbst verlieren, so zu schreiben, dass man beim Lesen Halt findet?« Lucy Fricke »Ulla Lenze schreibt eine tolle, empfindungsintensive, pathosfreie Prosa. Echt und wahr und ehrlich.« David Wagner »Ich will (...) mal ein Buch nennen, von einer jungen Autorin, das mich erstaunt hat: ?Die endlose Stadt? von Ulla Lenze. Diesem Buch merke ich an, dass es Substanz hat.« Uwe Timm zu »Die endlose Stadt«

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln. Für ihre Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den »Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft« und 2020 den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld. Ihr Roman »Der Empfänger« (2020) wurde in elf Sprachen übersetzt. Im Frühjahr 2023 hatte sie die renommierte Max-Kade-Gastprofessur am Dartmouth College (USA) inne. Ulla Lenze lebt in Buckow in der Nähe von Berlin.

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln. Für ihre Romane wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den »Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft« und 2020 den Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld. Ihr Roman »Der Empfänger« (2020) wurde in elf Sprachen übersetzt. Im Frühjahr 2023 hatte sie die renommierte Max-Kade-Gastprofessur am Dartmouth College (USA) inne. Ulla Lenze lebt in Buckow in der Nähe von Berlin.

2

Neuss, Juni 1949


Das linke Auge bewegt sich nicht mit. Es ist ein Glasauge. Josef hat dieses Glasauge ein Vierteljahrhundert nicht gesehen und daher vergessen.

Sie umarmen sich kurz, nicht zu weich, mit feierlichem Nachdruck. Carl trägt trotz Hitze einen Anzug und darüber noch einen weißen Kaufmannskittel.

»Was bist du dünn geworden, mein Lieber!«, ruft Carl. »Und wir dachten, in Amerika lebt man in Saus und Braus?«

Josef lächelt und folgt dem Bruder in das Haus aus rotem Backstein, von dem er vor dem Krieg Fotos gesehen hat, schmal und hoch, aber die Steine verzogen. Es war billig, hatte Carl geschrieben, aber es war nicht arisiert, das lehnte Carl ab, »so etwas kann doch nicht gutgehen«.

Er stapft hinter dem Bruder das Treppenhaus hoch. Carl hat die graumelierten Haare über die beginnende Glatze nach hinten gekämmt, im Nacken rollen sie sich zu kleinen Löckchen. Vor der Wohnungstür bleibt er stehen.

»Wir haben so viel zu besprechen! So viel aufzuholen! Ich habe zu Edith gesagt, hoffentlich bleibt er ein bisschen länger.«

»Das heißt, dass ich nicht lange bleiben soll?«, fragt Josef augenzwinkernd und würde es gern zurücknehmen, als er Carls Blick bemerkt.

»Nein, ich meine es so, wie ich es gesagt habe«, antwortet Carl und hält ihm die Tür zur Wohnung auf. Drinnen riecht es nach Putzmittel und Kuchen.

»Edith hat gebacken. Sie ist gerade einkaufen, kommt jeden Moment zurück.«

Josef setzt seine Reisetasche auf einem Stuhl ab und bemerkt, dass Carls Blick seiner Hand folgt.

»Mehr hast du nicht?«

»Nur das hier.« Josef hebt, weil Carl weiter nichts sagt, die Tasche noch mal hoch und wagt diesmal nicht, sie zurückzustellen. Carl nimmt ihm die Tasche ab und trägt sie in den angrenzenden Raum, eine Art Salon: braune Samtvorhänge, dunkle Stilmöbel, Landschaftsbilder in Öl, die Tapete mit theatralischem Tropfenmuster.

»Das haben wir alles durch den Krieg gerettet«, hilft Carl nach, denn Josef schweigt, er kann sich zu keinem Lob durchringen. Er spürt einen Anflug von Schmerz und stemmt sich dagegen. »Komm«, sagt Carl leise. »Du schläfst in dem kleinen Zimmer dahinter.«

Das Zimmer ist zugestellt mit Sofa, Sessel und einem Sekretär. Auch hier kein Telefon. Er muss Dörsam anrufen.

»Edith macht dir aus dem Sofa ein Bett. Was meinst du, wirst du es hier aushalten können?«

»Aber natürlich. Wie gut hier alles in Schuss ist.«

»Das ist Ediths Werk! Eine tüchtige Hausfrau, so was findet man nicht leicht.«

Das Wort tüchtig tauchte in den Briefen stets auf, wenn es um Edith ging, ein anderes Wort hatte Carl für seine Frau nicht. Auf den Fotos sah er eine schöne dunkelhaarige Frau mit verwunderten Augen. Er hat den Verdacht, dass Edith ein Stück größer als Carl sein könnte, falls Carl sich wie damals schon bei Fotoaufnahmen auf die Zehenspitzen stellte.

»Hier, trink ein Glas Wasser.« Josef trinkt und schaut Carl an, der vor ihm auf- und abspaziert, nun von seinem Seifengroßhandel erzählt, das Geschäft nehme immer mehr Fahrt auf. Josef beschränkt sich auf assistierendes Nachfragen – »das neue Waschpulver ist besser, das sagen auch die Kunden?« »Ja, und das gebe ich an den Hersteller weiter. Paul ist jetzt dreizehn. Arbeitet nachmittags im Betrieb mit. Nächstes Jahr nehmen wir ihn von der Schule, dann kann er Vollzeit arbeiten.«

Carl hält kurz inne, rückt einen Bilderrahmen an der Wand gerade.

»Die Kinder wirst du gleich kennenlernen. Wollten heute am liebsten den Unterricht schwänzen, als sie gestern erfuhren, dass der Onkel aus Amerika im Land ist! Die Schokolade, die du ihnen geschickt hast, das werden sie dir nie vergessen!«

In den dreißig Paketen war mehr als Schokolade.

Paket 1: Kaffee, Schmalz, Pulvermilch, Butter, Eierpulver, Seife, Rasierseife, Tabak, Zigaretten, Nadeln und Zwirn, Aspirin, Saccharin, Maggi, Schokolade, Pfeffer, Muskatnuss, Nelken, Stopfwolle.

Paket 2: Haferflocken, Mehl, Zucker, Stärke, Reis, Gelatine, Verband, Aspirin, Backpulver, Schokolade, Zwirn, Klebeband, Nadeln, Wolle, Tabak, Kamm, Socken, Rasierklingen.

Paket 3: Linsen, Tabak, Schokolade, Schmalz, Zucker, Speck, Honig, Kaffee, Pfeffer, Gelatine.

Paket 4: Weizenmehl, Kaffee, Süßmilch, Honig, Pfannkuchenmehl, Seife, Tabak, Schokolade, Zigaretten, Salatöl.

Paket 5: Kaffee, Zucker, Süßmilch, Schmalz, Kakao, Schokolade, Rasierklingen, Schnürsenkel, Vanilleextrakt, Garn, Nadeln.

Usw.

Das Geld, das für seinen Anwalt gedacht war, 600 Dollar, ging in diese Pakete. Sein Fall war sowieso hoffnungslos. Dreißig Pakete von 1946 bis 1949; man konnte sie über eine Agentur in Auftrag geben.

Carl nimmt Platz im Ohrensessel und streichelt nachdenklich eine schon abgeschabte Stelle.

»Wir sind aus dem Gröbsten raus. Aber 47 war ein harter Winter. Volksküchen, Wärmehallen, die Nachbarn haben ihr Klavier im Ofen verfeuert. Im Sommer drauf dann Überschwemmungen und Hagelschauer, die Ernte komplett zerstört. In solchen Zeiten muss man die Zähne zusammenbeißen, verzichten, Opfer bringen, sparen. Oder nicht?«

Er schaut Josef fragend an. Die Pause schwingt wie eine Schaukel zwischen ihnen hin und her, müsste nun beladen werden mit Josefs Erklärungen, warum er aus dem reichen Amerika als armer Teufel zurückkehrt. Er ist nicht bei null, er ist im Minus. Er spürt erneut einen leichten Schmerz in der Brust.

Sie werden erlöst von den knarrenden Dielen. Beide blicken zur Tür, da steht eine Frau. »Na«, sagt Carl, »wir haben ja Zeit, wir können alles in Ruhe besprechen! Hier, lern erstmal Edith kennen.«

Sie ist mager. Zuerst ist der Eindruck mager, dann schön. Eine leicht madonnenhafte asketische Schönheit. Wäre sie ein bisschen besser genährt, könnte sie als Fotomodell arbeiten. Aber das darf er ihr nicht sagen, sehr sittsam und steif reicht sie ihm die Hand. Er drückt ihre Hand und lässt sie nicht los, wiegt sie ein bisschen; sollen sie denken, das sei amerikanisch. Er drückt noch einmal, und dann macht er etwas, das ihn selber erstaunt, er nimmt die Hand und führt sie zum Handkuss an den Mund.

»Oh, der Junge hat Manieren mitgebracht«, ruft Carl.

Edith errötet, und auch Josef spürt Röte im Gesicht.

»Habt ihr Hunger?«, fragt sie. »Ich habe Kirschkuchen gebacken. Oder lieber etwas anderes, Josef?« Er spürt, sie muss sich zum Sprechen zwingen und wendet sich bereits zur Tür, um ihr Gesicht zu verstecken.

»Kuchen klingt wunderbar«, sagt er zu ihrem schmalen Rücken.

»Er hat einen Akzent, hörst du, Edith? Du klingst wie ein Amerikaner«, lacht Carl.

»Kaffee ist in zehn Minuten fertig!«, ruft Edith aus der Küche.

Als Carl sich erhebt, drückt er kurz Josefs Schulter. Ein fester Druck, als wollte er sagen, jetzt ist alles in Ordnung. Du bist hier. Du bist hier, so war es früher, sie waren einfach da, und auf einmal ist es wieder wie früher, eine kurze knappe Sekunde lang. Dann steht er auf und folgt dem Bruder in die Küche.

Sein Blick geht immer wieder zu Edith. Sie trägt ein dünnes geblümtes Sommerkleid, das sich, wenn sie aufsteht, zwischen ihren Beinen verfängt. Sie hat in Wellen gelegtes Haar, eine altmodische Frisur, die er lange nicht mehr an einer Frau gesehen hat. Sie ist scheu und selbstbewusst zugleich, Letzteres immer dann, wenn sie auftischen und bedienen kann, beinah forsch tut sie das.

Sie essen einen recht sauren Kuchen mit sehr vielen Kirschen – »es fehlt uns an Butter und Zucker«, erklärt Edith –, die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, sind so still und offenbar verängstigt, dass er später, als er sich aufs Sofa legt, nicht sagen kann, wie sie aussehen. Er erinnert sich aber, dass der Junge die Augen nervös zusammenkniff, offenbar ein Tick, Carl hob einmal die Hand und flüsterte: »Hör auf damit!« Aber der Sohn hörte nicht auf.

Er döst kurz weg und wird wach von Carls Stimme: »Lass das, die Hitze kommt rein! Lass die Tür zu!« Dann hört er Ediths sanfte Stimme, und dann wieder Carl brüllen: »Dann soll sie auf die Straße, wenn sie die Sonne so mag!«

Carls Geschrei. Fünfundzwanzig Jahre hat er die Stimme des Bruders nicht mehr gehört. Und nun klingt er wie der Vater.

Als sie sich vor fünfundzwanzig Jahren trennten, war da noch die frische Wunde, man hatte nach dem Betriebsunfall das Auge schnell entfernt. Genaueres zu seinem Unfall war damals aus Carl nicht herauszubekommen; ein Schrei erst, dann sein anhaltendes Gebrüll, das berichteten...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2020
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 30er Jahre • Amateurfunk • Amerikadeutscher Bund • Amerikanische Patrioten • Aufmarsch Madison Square Garden • Christian Front • CIA • Costa Rica • Deutsche Abwehr • Drittes Reich • Ellis Island • fritz kuhn • Funker • Geheimdienst • Großonkel • Harlem • Hitler • Josef Klein • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Nazis • Neuss • New York • Spion • Spionage • Spionagering • Spymaster • Stern • Südamerika • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-608-11581-1 / 3608115811
ISBN-13 978-3-608-11581-9 / 9783608115819
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