Giovannis Zimmer (eBook)

Baldwins berühmtester Roman - neu übersetzt
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2020 | 2. Auflage
208 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43720-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Giovannis Zimmer -  James Baldwin
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Keine Liebe ist jemals unschuldig Im Paris der 50er-Jahre lernt David, amerikanischer Expat, in einer Bar den reizend überheblichen, löwenhaften Giovanni kennen. Die beiden beginnen eine Affäre - und Verlangen und auch Scham brechen in David los wie ein Sturm. Dann kehrt plötzlich seine Verlobte zurück und David bringt nicht den Mut auf, sich zu outen. Im Glauben, sich selbst retten zu können, stürzt er Giovanni in ein Unglück, das tödlich endet.

James Baldwin, 1924 geboren, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er starb 1987 in Südfrankreich.

James Baldwin, 1924 geboren, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er starb 1987 in Südfrankreich.

EINS


Ich stehe am Fenster dieses prächtigen Hauses in Südfrankreich, als die Nacht anbricht, die Nacht, die mich zum schrecklichsten Morgen meines Lebens führen wird. Ich habe ein Glas in der Hand, eine Flasche in Reichweite. Ich betrachte mein Spiegelbild im dämmrigen Glanz der Fensterscheibe. Es ist groß oder eher lang wie ein Pfeil, und meine blonden Haare glänzen. Ein Gesicht wie meins hat man schon oft gesehen. Meine Vorfahren haben einen Kontinent erobert, sind vorgerückt über todesschwere Ebenen, bis sie an einen Ozean kamen, der, von Europa abgewandt, einer dunkleren Vergangenheit gegenüberlag.

Morgen früh bin ich vielleicht betrunken, aber das wird nichts nützen. Den Zug nach Paris werde ich trotzdem nehmen. Der Zug wird derselbe sein, die Menschen, um Bequemlichkeit bemüht und sogar Würde auf den harten Holzbänken der dritten Klasse, werden dieselben sein, und ich werde derselbe sein. Wir werden durch dieselbe vielfältige Landschaft nach Norden rollen, weg von den Olivenbäumen, dem Meer und der ganzen Pracht des südlichen Sturmhimmels, hinein in den Nebel und Regen von Paris. Irgendjemand wird sein Sandwich mit mir teilen wollen, irgendjemand wird mir einen Schluck Wein anbieten, irgendjemand wird mich nach einem Streichholz fragen. Menschen werden in den Gängen auf und ab gehen, aus dem Fenster sehen, zu uns hereinsehen. An jedem Bahnhof werden Rekruten in ihren ausgebeulten braunen Uniformen und farbigen Mützen die Abteiltür aufschieben und complet? fragen. Wir werden alle nicken, wie Verschwörer, und uns leise anlächeln, wenn sie weitergehen. Zwei oder drei von ihnen werden vor unserem Abteil stehen bleiben, sich mit ihren derben Stimmen etwas zubrüllen und ihre scheußlichen Militärzigaretten rauchen. Mir gegenüber wird eine junge Frau sitzen, die sich fragt, wieso ich nicht mit ihr flirte, und beim Anblick der Rekruten nervös wird. Alles wird sein wie immer, nur ich bin dann stiller.

Auch die Landschaft ist still heute Abend, die Landschaft, in die mein Spiegelbild eindringt. Dieses Haus steht am Rande eines kleinen Badeorts – der noch leer ist, die Saison hat noch nicht begonnen. Es steht auf einer Anhöhe, man kann auf die Lichter der Stadt hinunterblicken und das Donnern des Meeres hören. Meine Freundin Hella und ich haben es vor ein paar Monaten von Paris aus gemietet, nachdem wir Fotos gesehen hatten. Seit einer Woche ist sie weg. Sie ist jetzt auf hoher See, auf dem Weg zurück nach Amerika.

Ich sehe sie vor mir, sehr elegant, straff und schillernd, von Licht umfangen im Salon des Ozeandampfers; sie trinkt ein bisschen zu hastig, lacht und beobachtet die Männer. So habe ich sie kennengelernt in einer Bar in Saint-Germain-des-Prés, trinkend und beobachtend, und das mochte ich an ihr, ich dachte, mit ihr könnte man sich gut amüsieren. So fing es an, mehr bedeutete es mir nicht; jetzt bin ich mir trotz allem nicht mehr sicher, ob es mir je mehr bedeutet hat. Ich glaube auch nicht, dass es ihr jemals mehr bedeutet hat – zumindest nicht vor ihrer Reise nach Spanien, wo sie sich, so ganz sich selbst überlassen, vielleicht gefragt hat, ob Trinken und Männer Beobachten wirklich das ist, was sie im Leben will. Aber da war es schon zu spät. Da war ich schon bei Giovanni. Bevor sie nach Spanien aufbrach, hatte ich um ihre Hand angehalten; sie hatte gelacht, und ich hatte gelacht, aber dadurch wurde es für mich erst recht ernst, und ich blieb hartnäckig. Sie sagte, sie müsse wegfahren und darüber nachdenken. Hier, an ihrem letzten Abend, als ich sie das letzte Mal sah, sagte ich ihr, während sie ihren Koffer packte, ich habe sie einmal geliebt, und das redete ich mir selber ein. Aber ob das so war? Bestimmt hatte ich an unsere Nächte gedacht, an die eigenartige Unschuld und Zuversicht, die nie wiederkommen werden, die diese Nächte so köstlich gemacht hatten, so losgelöst von Vergangenem, Zukünftigem und allem, was noch kommen mag, und so losgelöst von meinem Leben, da ich für sie doch nur flüchtig verantwortlich war. Es waren Nächte unter fremdem Himmel, ohne neugierige Blicke, ohne Androhung von Strafen – Letzteres war unser Verhängnis, denn wenn man sie einmal hat, ist nichts unerträglicher als Freiheit. Wohl deshalb habe ich um ihre Hand angehalten: um mich irgendwo zu verankern. Vielleicht hat sie deshalb in Spanien beschlossen, mich zu heiraten. Doch leider können sich die Menschen ihren Ankerplatz, ihre Liebhaber und ihre Freunde ebenso wenig aussuchen wie ihre Eltern. Das Leben gibt sie und nimmt sie, und die Schwierigkeit liegt darin, zum Leben Ja zu sagen.

Als ich Hella sagte, ich hätte sie geliebt, dachte ich an die Zeit, da mir noch nichts Schreckliches, Unwiderrufliches geschehen war, als eine Liebschaft nichts weiter war als eine Liebschaft. Jetzt, nach dieser Nacht, nach morgen früh, egal, in wie vielen Betten ich mich bis zu meinem Sterbebett noch wiederfinde, werde ich nie wieder zu solch jungenhaften, genüsslichen Liebschaften imstande sein – die bei näherem Hinsehen ohnehin nur eine Art höherer oder zumindest selbstgefälligerer Masturbation sind. Die Menschen sind zu vielschichtig, um so abgetan zu werden, und ich bin zu vielschichtig, um vertrauenswürdig zu sein. Sonst wäre ich heute Abend nicht allein in diesem Haus. Hella wäre nicht auf hoher See. Und Giovanni würde nicht irgendwann zwischen heute Nacht und morgen früh unter der Guillotine enden.

Heute bereue ich, so müßig das ist, eine spezielle Lüge von den vielen, die ich erzählt habe, erzählt, gelebt und geglaubt habe. Die Lüge – die ich Giovanni erzählt, doch nie habe glauben machen können –, ich hätte noch nie zuvor mit einem Mann geschlafen. Denn das hatte ich schon. Und ich hatte beschlossen, es nie wieder zu tun. Das Schauspiel, das ich mir jetzt selber biete, hat etwas Absurdes: so weit, so emsig weggerannt zu sein, sogar bis auf die andere Seite des Ozeans, nur um erneut von der Bulldogge in meinem eigenen Garten gestellt zu werden – jetzt, da der Garten kleiner ist und die Bulldogge größer.

An den jungen Mann, Joey, habe ich lange nicht mehr gedacht, doch heute Abend sehe ich ihn deutlich vor mir. Es ist etliche Jahre her. Ich war noch ein Teenager, er war etwa in meinem Alter, ein Jahr Unterschied vielleicht. Und er war sehr sympathisch, sehr lebhaft, dunkel und immer zum Lachen aufgelegt. Eine Zeit lang war er mein bester Freund. Später bezeugte der Gedanke, dass so jemand mein bester Freund gewesen sein konnte, einen entsetzlichen Makel in mir. Also vergaß ich ihn. Aber heute Abend sehe ich ihn genau vor mir.

Es war Sommer, wir hatten keine Schule. Seine Eltern waren übers Wochenende weggefahren, und ich verbrachte die Zeit in seinem Haus in der Nähe von Coney Island, in Brooklyn. Wir wohnten damals auch in Brooklyn, aber in einer besseren Gegend als Joey. Ich glaube, wir hatten den Tag am Strand verbracht, waren ein bisschen geschwommen und hatten den halb nackten Mädchen hinterhergeblickt, lachend und pfeifend. Hätte eines dieser Mädchen auch nur ansatzweise auf unser Pfeifen reagiert, ich bin mir sicher, das Meer wäre nicht tief genug gewesen, um unsere Scham und unseren Schrecken zu ertränken. Aber die Mädchen haben es bestimmt gespürt, vielleicht wegen der Art, wie wir ihnen hinterherpfiffen, und beachteten uns nicht. Als die Sonne unterging, liefen wir über den Holzsteg zu Joey nach Hause, mit den nassen Badehosen unter den Kleidern.

Ich glaube, es fing beim Duschen an. Ich weiß, dass ich etwas fühlte – als wir in dem dampfigen engen Raum herumalberten und uns gegenseitig mit nassen Handtüchern peitschten –, das ich noch nie gefühlt hatte und das ihn geheimnisvoll, ziellos mit einschloss. Ich erinnere mich, dass ich mich gar nicht anziehen wollte: Das schrieb ich der Hitze zu. Dennoch zogen wir uns halbwegs an, aßen etwas Kaltes aus dem Kühlschrank und tranken viel Bier. Dann sind wir wohl ins Kino gegangen, ein anderer Grund, weshalb wir rausgingen, fällt mir nicht ein, und ich erinnere mich, wie wir durch die dunklen, tropisch heißen Straßen von Brooklyn gingen, während die Hitze aus dem Asphalt quoll und mit solcher Wucht von den Häuserwänden abprallte, dass sie einen hätte erschlagen können, und wie alle Erwachsenen dieser Welt, so schien es, schrill und strubbelig auf den Eingangsstufen saßen und alle Kinder dieser Welt auf dem Gehweg oder im Rinnstein hockten oder an den Feuertreppen hingen; und mein Arm lag um Joeys Schultern. Ich war stolz, glaube ich, weil sein Kopf mir gerade bis zum Ohr reichte. Beim Gehen riss Joey schmutzige Witze, und wir lachten. Merkwürdig, mich nach so langer Zeit daran zu erinnern, wie gut ich mich an dem Abend fühlte, wie gern ich Joey hatte.

Auf dem Rückweg war es still; wir waren auch still. Still und müde zogen wir uns in Joeys Zimmer aus und gingen ins Bett. Ich schlief ein – und schlief, glaube ich, eine ganze Weile. Als ich aufwachte, brannte Licht, und Joey untersuchte mit verbissener Sorgfalt das Kopfkissen.

»Was ist los?«

»Ich glaube, mich hat eine Wanze gebissen.«

»Igitt, du hast Wanzen?«

»Ich glaube, eine hat mich gebissen.«

»Bist du schon mal von einer Wanze gebissen worden?«

»Nein.«

»Na, dann schlaf weiter. Du hast geträumt.«

Mit offenem Mund und sehr großen dunklen Augen sah er mich an. Es war, als hätte er in mir soeben einen Fachmann für Bettwanzen gefunden. Lachend packte ich ihn am Kopf, wie ich es schon Gott weiß wie oft gemacht hatte, wenn ich ihn neckte oder er mich geärgert hatte. Doch als ich ihn diesmal berührte, passierte etwas in ihm und in mir; eine solche Berührung hatten wir beide noch nie erlebt. Er wehrte sich nicht wie sonst, sondern blieb dort...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2020
Nachwort Sasha Marianna Salzmann
Übersetzer Miriam Mandelkow
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Achille Mbembe • Afroamerikanische Literatur • Angst • bücher 2021 • Colson Whitehead • Coming out • Coming-out • Community • Diskriminierung • Frankreich • Fremdenfeindlichkeit • Gesellschaftskritik • Historischer Roman • Homophobie • Homosexualität • Homosexuell • homosexuelle Paare • homosexuelle Partnerschaft • I Am Not Your Negro • Identitätspolitik • Intersektionalität • Klassiker • LGBTQ+ • Liebe • Liebesdrama • Liebesroman • Mord • Olivia Wenzel • Paris • People of Color • people of colour • Political Correctness • Rassismus • Romane 2021 • Romanze • Sehnsucht • Selbstbetrug • Soziale Gerechtigkeit • Spiegel Bestseller Autor • Spiegel-Bestseller-Autor • Todesstrafe • Toni Morrison • Underground Railroad • US-amerikanische Literatur • Weltliteratur
ISBN-10 3-423-43720-0 / 3423437200
ISBN-13 978-3-423-43720-2 / 9783423437202
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