Hawaii (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
208 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26683-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hawaii - Cihan Acar
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Cihan Acars brisantes Debüt über Heimatlosigkeit und Toleranz in unserer zerrissenen Gesellschaft ist 'ein rauschhafter Trip durch Heilbronn, der den Leser sofort in seinen Bann zieht.' Benedict Wells
Es sind die heißesten Tage im Jahr, Hundstage, die, so glauben manche, schweres Unheil bringen. Kemal Arslan läuft durch Heilbronn, ein Fußballstar, der nach einem Unfall seine Karriere beenden und von vorn anfangen muss. Unbeteiligt steht er auf einer türkischen Hochzeit herum, geht in ein Striplokal und ins Wettbüro, gerät mitten hinein in eine Straßenschlacht zwischen Rechten und Migranten, trifft seine Exfreundin Sina und besucht seine Eltern, die, wie die meisten Türken der Stadt, in Hawaii wohnen, einem Problembezirk mit heruntergekommenen Hochhäusern und rauem Straßenleben, der rein gar nichts mit dem Urlaubsparadies gemeinsam hat. Cihan Acar erzählt von zwei Tagen und drei Nächten eines jungen Mannes, in denen er alle Stadien von Illusion, Sehnsucht und Einsamkeit durchquert. Ein Buch über all die Heimatlosen, Nachtgestalten und Romantiker, die im Dazwischen leben.

Cihan Acar, geboren 1986, studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg und lebt in Heilbronn. Er schrieb Bücher über Hip-Hop und über den Istanbuler Fußballclub Galatasaray. Für seinen Debütroman Hawaii erhielt er 2020 den Literaturpreis der Doppelfeld Stiftung.

4


Die Hyänen sah ich wie immer zuerst. Etwas unscharf zwar, weil zwischen ihnen und mir noch ungefähr ein Kilometer Abstand war. Und weil die Luft so komisch flimmerte über dem heißen Asphalt. Aber ich wusste ja eh, wie sie aus der Nähe aussahen.

Jemand hatte sie vor langer Zeit an eine Betonwand gesprüht, ganz am Ende der Straße. Es sind drei Stück, mit gelben Augen und grauem Fell. Sie sehen so gut wie echt aus. Die linke schaut böse in Richtung der Wohnblocks. Die rechte schreit einem mit weit aufgerissenem Maul und spitzen Goldzähnen entgegen. Und die mittlere hat einen abgebissenen Ziegenkopf im Maul, aus dem Blut tropft.

Über dem Bild steht in roten Flammenbuchstaben: Welcome to Hell. Das Hell ist durchgestrichen, direkt daneben steht Hawaii. Warum das Viertel Hawaii heißt, weiß kein Mensch. Manche meinen, die Amis hätten den Namen eingeführt, also die Soldaten, die hier früher stationiert waren. Andere sagen, dass es ironisch gemeint ist, nach dem Motto: Was für eine miese Gegend, sind wir doch mal witzig und benennen sie nach einem Paradies. Aber so richtig weiß es keiner.

Wenn man von der Innenstadt kommt und am Viertel vorbeifährt, sieht man es gar nicht, weil es von Fabriken umgeben ist, die es wie eine Wand abschirmen. Und dahinter gibt es auch nicht wirklich viel zu sehen. Ein paar Wohnblocks, dazwischen enge Gassen, kleine Rasenflächen, Gartenstühle aus Plastik, mehrere kahves, eine Bäckerei, eine Moschee, eine Kirche. Eine kleine, abgeschlossene Welt im Quadrat, mitten im Industriegebiet.

Ich kannte viele Geschichten über das Viertel, schon bevor ich herzog. Mein Onkel hat die richtig wilden Zeiten des Hawaii noch miterlebt, in den Achtzigern und Neunzigern, als man vor lauter Spritzen und Gangs und Müll und Drogenleichen kaum durch die Straßen gehen konnte. So hat er mir das erzählt. Er wurde dann bei ein paar krummen Dingern erwischt und abgeschoben. Das Hawaii ist nicht mehr so gefährlich wie zu seinen Zeiten, aber ab und zu muss man schon aufpassen, dass man nicht an den Falschen gerät. Wenn man sich ein bisschen auskennt, weiß man, wem man lieber aus dem Weg gehen sollte. Und wer sich nicht auskennt, kommt gar nicht erst her. 

Meine Eltern wollten eigentlich auch nicht hierher. Davor lebten wir in einem der vielen Dörfer, die es um Heilbronn herum gibt. Im ganzen Ort gab es außer uns nur zwei andere türkische Familien, aber wir kamen gut zurecht. Dann meldete der Vermieter Eigenbedarf an und wir mussten raus. Auf die Schnelle fand mein Vater nur im Hawaii was Neues.

Als es so weit war, standen wir im Flur versammelt, mein Vater, meine Mutter und ich. Der Umzugswagen war fertig bepackt, die Wohnung leergeräumt, die vielen Bekannten und Nachbarn, die uns geholfen hatten, warteten vor dem Haus darauf, sich von uns zu verabschieden.

Mein Vater musterte meine Mutter und mich mit einem letzten Blick. Ich hielt ihm stand, aber bei meiner Mutter zitterte die Unterlippe. Also machte mein Vater ihr klar, dass es nicht in Frage kam, vor den Leuten zu weinen. Eine einzige Träne von ihr würde ihn für immer als Versager dastehen lassen. Dann riss er die Tür auf und ging voraus. Meine Mutter folgte ihm und blieb stark, dafür weinte ich los wie ein Schlosshund. Ich war ja noch klein.

Inzwischen lief ich mitten auf der Straße, ohne es richtig zu merken. Beides änderte sich, als mich von hinten ein Lkw-​Fahrer halb bewusstlos hupte. Nachdem ich zur Seite gesprungen war, bog der Laster nach rechts ab in den Innenhof vom türkischen Supermarkt. Ich ging nach links auf den Gehweg. Vor der griechischen Kirche war alles ruhig wie immer. An der großen Moschee gleich nebenan war wieder Rambazamba.

Die Leute standen Schlange fürs Freitagsgebet. Es waren so viele, dass drei Reihen von der breiten Eingangstür über die kurze Treppe bis hin zur Straße reichten. Die paar Autos, die langsam vorbeifuhren, mussten einen Bogen um die Wartenden machen. Zwischen ihnen hüpfte ein Mann in einer orangen Ordnerweste hin und her. Er gab Anweisungen in alle Richtungen und zeigte nebenbei den Autofahrern, wie sie am besten um die Leute herumkamen.

Ich kam näher und schaute, ob ich jemanden erkannte, aber nein. Fast nur alte Männer mit weißen Gebetsmützen und Audianer in grauen Latzhosen. Egal, wo du in Heilbronn stehst, du siehst immer das Kraftwerk, einen Weinberg oder jemanden in einer Audi-Latzhose. Der Spruch ist nicht von mir, den hab ich meinem Nachbarn Rainer geklaut, aber er stimmt.

Zwei Reihen hatte ich schon hinter mir, dann wurde ich vom Ordner gestoppt. »Die Reihe führt in den oberen Stock«, sagte er. »Dort ist alles voll. Stell dich hier an.« Mit einer schnellen Handbewegung sorgte er für eine Lücke in der mittleren Reihe und schob mich rein. Da stand ich also und machte von da an alle paar Sekunden einen halben Schritt nach vorne. 

Im engen Vorraum herrschte ein unglaubliches Gedränge und Geschiebe. Die Schuhregale an der Wand waren überfüllt. Also zog ich meine Schuhe aus und legte sie in den schmalen Spalt zwischen Teppich und Tür. Dann kam ich in den großen Hauptraum. Der grüne Teppichboden fühlte sich schön weich an, aber ich war irgendwie nervös. Im großen Saal, wo eigentlich nur die Alten beteten, war ich sonst nie, ich ging immer direkt in den zweiten oder dritten Stock, wie alle in meinem Alter.

Ganz vorne saß der Hoca und sprach in ein Mikrofon, das vor ihm aufgebaut war. Die ersten drei Reihen waren für die Ältesten reserviert. Dahinter kam der Rest, alle im Schneidersitz oder auf den Knien. Ich wählte auch den Schneidersitz. Das Hinknien ist auf Dauer zu anstrengend, das macht mein Fuß nicht mehr mit. Der Hoca erzählte gerade eine Reisegeschichte vom Propheten. Weil er mittendrin war, konnte ich nicht ganz folgen. Aber ich kriegte schon mit, welche Stellen wichtig waren, weil dann seine Stimme lauter wurde und sich fast überschlug, und wenn er die wichtige Stelle beendet hatte, legte er immer eine kurze Pause ein. Am Ende sagte er, dass heute der Nachwuchs die Chance bekommen sollte, das Gebet zu leiten. Ganz vorne stand ein Junge auf, den ich bis dahin nicht sehen konnte. Vielleicht vierzehn Jahre alt. Er hatte eine Gebetsmütze auf, wie die Alten. Der Hoca tätschelte ihm den Kopf.

»Bevor es losgeht«, sagte der Hoca ins Mikrofon, »hat noch jeder die Möglichkeit, der Moschee und der Gemeinde mit einer kleinen Spende zu helfen.«

Vier Männer gingen durch die Reihen. Jeder von ihnen mit einer durchsichtigen Tüte, die sie den Leuten mit beiden Händen hinhielten. Ich zog meinen Geldbeutel aus der Tasche. Er war ziemlich prall gefüllt, weil ich immer noch einige Münzen aus meiner Zeit in der Türkei drin hatte. Kaufen konnte ich mir nichts davon, aber dicke Geldbeutel sehen besser aus.

Im Scheinfach hielten nur noch ein paar letzte Zehner und Zwanziger die Stellung. Als einer der Spendensammler bei mir ankam, wollte ich einen Zwanziger herausziehen, und da passierte es. Dahinter steckten nämlich die falschen Scheine, die man mir im Stripschuppen in die Hand gedrückt hatte. Auf jedem von ihnen war eine nackte Frau und in Rosa der Schriftzug Eroticon zu sehen. Wie in Zeitlupe sanken die Dinger zu Boden. Ein Schein landete genau auf dem Fuß des Spendensammlers. Er zog ihn sofort weg. Ich schob alles schnell zusammen und schaute dabei nur auf den Boden, weil ich gar nicht wissen wollte, wie viele das gerade mitbekamen. Als ich die Scheine wieder im Geldbeutel versteckt hatte, warf ich den Zwanziger in die Tüte. Der Mann ging weiter, ohne mich anzusehen. Kurz darauf trat der Junge ans Mikrofon. Alle wurden leise. Er schloss die Augen und betete auf Arabisch los. Helle Stimme wie ein Engel, noch weit vom Stimmbruch entfernt. Ich war irgendwie stolz auf ihn, wie er da so sicher stand und alle auf sein Kommando hörten.

Wir stellten uns in Reihen auf und legten die Hände auf dem Bauch zusammen, die rechte auf der linken. Dann beugten wir uns nach vorne und stützten uns auf den Oberschenkeln ab. Danach wieder aufrichten, die Hände diesmal aber nicht auf dem Bauch zusammenlegen, sondern an den Seiten runterhängen lassen. Das sind die kleinen Fallen, die einen übel blamieren können, wenn man durcheinanderkommt. Als ich klein war, schleppte mich mein Vater jeden Sonntagmorgen in den Kinderkurs. Die ganzen arabischen Sachen, die uns damals beigebracht wurden, weiß ich nicht mehr, aber die Bewegungen beim Beten und ihre Reihenfolge kann ich noch einigermaßen.

Wir waren jetzt auf den Knien. Der Junge betete, wir warteten. Er machte eine Pause. Wir ließen uns nach vorne fallen, legten die Stirn und beide Hände auf den Boden. ...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte ABBAS • Außenseiter • Aydemir • Deutsch-Türke • Einsamkeit • Erwachsenwerden • Faschismus • fatma • Flaneur • Fußball • Generation • Grjasnowa • Hawaii-Viertel • Heilbronn • Heimat • Heimatlos • Khider • Kulturkampf • Migranten • Migration • #ohnefolie • ohnefolie • Olga • Problembezirk • Trennung • Türkei • Zweite
ISBN-10 3-446-26683-6 / 3446266836
ISBN-13 978-3-446-26683-4 / 9783446266834
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