Auch der Esel hat eine Seele. (eBook)

Frühe Texte und Kolumnen 1963-1971

(Autor)

Beat Mazenauer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1., Originalausgabe
351 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76506-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Auch der Esel hat eine Seele. - Peter Bichsel
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Die erste der in vier Jahrzehnten zu einer Institution sui generis gewordenen P.S.-Kolumnen Peter Bichsels erschien 1975 im Zürcher Tages-Anzeiger. Doch bereits in den 1960er Jahren schrieb der Autor eine Fülle journalistischer Beiträge und Kolumnen zu Fragen der Zeit, die seine frühen Erfolge als literarischer Erzähler begleiteten. Beat Mazenauer hat sie in diesem Band versammelt - und einige erzählerische Erkundungen aus dieser Zeit dazugestellt.

Peter Bichsel hat über die Jahre seine eigene Dialektik des Erkennens entwickelt. Sie gibt dem Widersprüchlichen Raum, und in der fortlaufenden Bewegung der Gedanken behält sie stets auch deren Scheitern im Auge. Bichsel, der fragt und infragestellt, ist, sagt Beat Mazenauer, ein Meister des Verzögerns »endgültiger« Antworten.



<p>Peter Bichsel wurde am 24. März 1935 in Luzern geboren und wuchs als Sohn eines Handwerkers ab 1941 in Olten auf. Am Lehrerseminar in Solothurn ließ er sich zum Primarlehrer ausbilden. 1956 heiratete er die Schauspielerin Therese Spörri (? 2005). Er ist Vater einer Tochter und eines Sohnes. Bis 1968 (und ein letztes Mal 1973) arbeitete er als Primarlehrer. 1964 wurde er mit seinen Kurzgeschichten in <em>Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen</em> auf einen Schlag bekannt; die Gruppe 47 nahm ihn begeistert auf und verlieh ihm 1965 ihren Literaturpreis. Zwischen 1974 und 1981 war er als persönlicher Berater für Bundesrat Willi Ritschard tätig, mit dem er befreundet war. Mit dem Schriftsteller Max Frisch war er bis zu dessen Tod 1991 eng befreundet. Er ist seit 1985 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Bichsel lebt in Bellach bei Solothurn.</p>

Vorwort – das letzte


Eine meiner ersten Lesungen nach dem Erscheinen der Milchmanngeschichten war im Realgymnasium in Basel. Walter Widmer, der Vater des Schriftstellers Urs Widmer, veranstaltete sie, und er hatte mit seinen leidenschaftlichen Einführungen ein großes und großartiges Publikum herangezogen, das sich im Literaturbetrieb einen Namen gemacht hatte; Autoren rissen sich darum, dort lesen zu dürfen. Selbstverständlich war ich stolz darauf. An seine Einführung erinnere ich mich nicht mehr, ich war zu aufgeregt. Aber er lobte mich – unter anderem auch damit, daß er sagte: »Er hat noch nie ein Vorwort oder Nachwort geschrieben«, und er schimpfte über die gängige Unkultur der Vor- und Nachwörter. Ich nahm mir damals vor, nie eines zu schreiben.

Inzwischen sind es unzählige geworden. Alle unwillig geschrieben, alle so etwas wie ein Verrat an meinem väterlichen Freund Walter Widmer. An ein solches Vor- oder Nachwort erinnere ich mich mit Schrecken und Scham. Ein Verleger fragte mich an, ob ich bereit wäre ein Nachwort für einen seiner Autoren zu schreiben – es eilte und ich kannte diesen Autor, hatte alles von ihm gelesen und war davon begeistert. Sein neues Buch brauchte ich vorerst nicht zu lesen, und ich schrieb ein begeistertes Nachwort, glücklicherweise ohne ein Werk von ihm zu erwähnen, vielmehr von seiner Art zu leben und seiner Art zu schreiben. Erst als mir der Verleger das Buch mit einem Brief und einem Brief des Autors zusandte, schreckte ich zusammen. Ich hatte, weiß der Teufel weshalb, über einen ganz anderen Autor geschrieben, aber ich wurde nun gelobt dafür, daß ich diesen einen und falschen – auch ihn kannte ich, und sein Name im Text war der richtige – so exakt getroffen und sein Schreiben so einfühlsam beschrieben hätte. Ich hatte mit seinem Namen einen wirklich ganz anderen beschrieben. Der Schrecken sitzt mir heute noch in den Knochen, aber auch die tröstliche Einsicht, daß Vor- und Nachwörter austauschbar sind.

Das gilt auch für dieses Vorwort. Schreibe ich über mich oder über einen anderen?

Sollte ich über mich schreiben, dann über einen alten ehemaligen Schriftsteller, der das Schreiben mehr oder weniger hinter sich gelassen hat; schreibe ich aber über den anderen, dann über einen, der sich nach und nach herantastet an das Schreiben, auch wenn er das schon als kleines Kind getan hat. Die Entdeckung der Buchstaben war das größte Abenteuer seines Lebens, und sein Schreiben hatte mit nichts anderem zu tun als mit der Begeisterung für diese Buchstaben, damit zum Beispiel, daß man mit den Buchstaben a, h, s und u ein richtiges Haus, oder gar mehr, nämlich das Haus aller Häuser bauen kann. Und selbstverständlich wurde er auch zum Leser. Erst mal zum Leser der wenigen Bücher, die er zu Hause fand: Die Bibel. Kochs Großes Malerhandbuch, siebzehn Bände von Meyers Konversationslexikon, schön von vorn bis hinten gelesen; erster Band von A bis Aslang, zweiter Band von Asmanit bis Biostatik, so stand es auf den Rücken der Bände, bis zum letzten Band von Turkos bis Zz. Und er entdeckte erst viel später, daß dies nur mit dem Alphabet zu tun hat. Er hielt diese Wörter lange Zeit für so etwas wie die geheimen geografischen Eckpfeiler des Wissens, die Magie der Buchstaben. Hätten seine Eltern viele Bücher gehabt und »richtige« Bücher, er wäre wohl nie zum Leser geworden.

Dann sammelte ich im ganzen Quartier alte Zeitungen und Heftchen ein, und las alles unter dem Strich, also das, was man damals Feuilleton nannte, entdeckte die Stadtbibliothek, las nur noch Gesamtwerke, und zwar so wie meine Kollegen ihren Karl May – Band 1, Band 2, Band 3… Und dann, etwas später, entdeckte ich durch Zufall die Dadaisten, die Konkreten, Heißenbüttel, und mein Schreiben – Gedichte – bekam eine Grammatik und Struktur – »Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen«: für mich konkrete Dichtung, für meine Leser und Kritiker etwas ganz anderes – aber ich war jetzt ein Schriftsteller geworden, wie auch immer, aber eigentlich durch ein Mißverständnis. Es klärte sich drei Jahre später glücklicherweise auf bei meinem zweiten Buch »Die Jahreszeiten«, das nur noch wenigen, mir zum Beispiel, gefallen wollte und den Kritikern schon gar nicht.

Die Texte in diesem Buch habe ich recht flüchtig durchgelesen, weil ich mich irgendwie vor ihnen fürchte. Ich fürchte mich vor Biographie, vor der Biographie eines alten Mannes. Trotzdem bin ich Beat Mazenauer sehr dankbar für sein liebevolles Suchen und Sammeln, ohne ihn wären sie verloren. Als gedrucktes Buch, das Sie, liebe Leserin, jetzt in den Händen halten, werde ich die Texte sicher auch gründlich lesen.

1963/64 war ich im Literarischen Colloquium in Berlin als kleiner Provinzler in der großen Stadt, über alles staunend, auch über diese Dichterschule, über unsere Lehrer, Höllerer, Peter Weiss, Rühmkorf, Hans Werner Richter, Günter Grass. Ich habe dort das Dazugehören gelernt und auch, daß Schreiben durchaus etwas Gemeinsames sein kann. In Sigtuna/Schweden las ich vor der Gruppe 47, und kurz darauf erschien mein kleines Buch »Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen«. Ein Jahr darauf las ich bei der Tagung der Gruppe 47 in Berlin. Ich gehörte jetzt zu meiner eigenen Überraschung dazu. Ich kriegte den Preis, und das kam so:

Am Samstagabend wurde recht viel getrunken, und ich hielt da tapfer mit. Da kam Hans Werner Richter zu mir und sagte: »Das ist gescheit von dir, daß du nicht liest, es hatte noch nie einer zweimal hintereinander Erfolg.« Und die beiden Wörter »gescheit« und »Erfolg« weckten meinen Trotz, damit wollte ich nichts zu tun haben und ich sagte: »Doch, ich lese morgen.« Nun versuchten mich alle davon abzuhalten, als erster Reich-Ranicki. Ihm sagte ich: »Doch – wunderbare Texte. Ich habe nur die Noten zu Hause vergessen.« »Was für Noten?« »Ich werde singen.« Ranicki ging zu meinem Verleger Otto F. Walter. Und nun versuchten mich alle abzuhalten und machten mich zu Recht auf meine Betrunkenheit aufmerksam. Und ich wußte, ich werde mit meinen Texten aus den »Jahreszeiten« durchfallen, und ich freute mich diebisch darauf. Ich fiel nicht durch, und gesungen habe ich selbstverständlich auch nicht.

Aber gleich nach meiner Lesung mußte ich gehen, ich war Lehrer und mußte am Montag in der Schule sein. Jetzt wollten mich alle zurückhalten und sagten: »Du kriegst den Preis, du mußt bleiben.« Ich ging. Und als ich nach einer umständlichen Reise in Solothurn ankam, stand am Bahnhof meine Frau Therese mit einem Telegramm: »Gratuliere zum Preis der Gruppe 47 – Hans Werner Richter.«

Und das gehört nun wirklich nicht in ein Vorwort und der Schluß der Geschichte auch nicht: Wir gingen nach Hause und ich telefonierte nach Berlin. Der Portier in der Loge am Wannsee nahm ab, und ich fragte nach Hans Werner Richter. »Ich kann ihn nicht ans Telefon holen, der Herr Regierende Bürgermeister ist im Saal.« »Hält er eine Rede?« »Nein, die Herren unterhalten sich.« Ich erklärte ihm von meinem Preis, und er gratulierte mir herzlich, ließ sich aber nicht bewegen in den Saal mit Regierendem Bürgermeister – Willy Brandt – zu gehen. »Sagen sie mal, ich kenne mich nicht aus in deutschen Gebräuchen, aber müssen die Deutschen auch aufs Klo, wenn der Regierende Bürgermeister usw. Das Klo ist doch gleich neben ihrer Loge. Sollte also einer trotz Bürgermeister« – ach Quatsch, was soll das. Aber es ist nun mal erzählt. Und damit habe ich den Faden verloren.

Wo sind wir stehengeblieben?

Ich fürchte mich vor Biographie, vor der Buchhaltung des Lebens. Ich erinnere mich nicht gern an mich. Ja, ich werde diese Texte lesen – sozusagen gleichzeitig mit meinen Leserinnen und Lesern –, und sie werden mich erinnern – nicht eigentlich an mich, vielmehr an die vielen, die mein Schreiben begleitet haben. Jörg Steiner, der erste richtige Schriftsteller, den ich persönlich getroffen habe und der mir, als ich mich von ihm verabschiedete, um in dieses Colloquium nach Berlin zu gehen, noch nachrief: »Vergiß nicht, schreiben kannst du, laß dich zu nichts überreden.« An Hugo Leber und Bruno Schärer, die mich 1968 für ein Jahr an die »Weltwoche« holten. Vielleicht wäre ich ohne sie nie zum Kolumnenschreiber geworden. Ich war ihr Lehrling. Ja, Texte eines Lehrlings, Einübungen und dazugehören. Und die Texte Woche für Woche in der Druckerei kontrollieren, in Blei lesen:...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1964-1970 • 60er Jahre • 85. Geburtstag Peter Bichsel • Am Rand notiert • Berliner Colloquium • Feuilleton • Friedrich Dürrenmatt • Gottfried Keller • Großer Schillerpreis 2012 • Gruppe 47 • Kolumnen • Kultur • Literarische Essays • Max Frisch • Politisches Weltgeschehen • Prager Frühling • Rezensionen • Schweiz • Schweizer Autor • Schweizer Literatur • Solothurner Literaturpreis 2011 • Sonntags Journal • ST 5004 • ST5004 • suhrkamp taschenbuch 5004 • unveröffentlichte Texte • Vietnamkrieg • Walter Höllerer • Weltwoche • Werkbeitrag der Stiftung Pro Helvetia 2005 • Zürcher Woche
ISBN-10 3-518-76506-X / 351876506X
ISBN-13 978-3-518-76506-7 / 9783518765067
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