Die stumme Magd (eBook)
317 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-932-7 (ISBN)
Annette Spratte lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in einem kleinen Dorf im Westerwald. Die Liebe zu Büchern begleitet sie in ihrem Leben schon länger als die Liebe zu Pferden, und Bücher waren es auch, die ihr den Weg zum Glauben gewiesen haben, als sie noch sehr weit von Gott entfernt war. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Wenn sie gerade nicht am Computer sitzt, kann man sie im Garten oder im Pferdestall antreffen.
1. Ankunft
Daniel trat aus dem Stall und ließ seinen Blick durch den Innenhof schweifen. Nebelschwaden hingen über den Gebäuden und machten sowohl die Reithalle linker Hand wie auch den gegenüberliegenden Stalltrakt nahezu unsichtbar.
»Bastian? Willie?«, rief Daniel, bekam aber keine Antwort. Wo steckten die Burschen nur?
Am Anbindebalken neben der majestätischen Kastanie, die mitten im Hof stand, sah er einen einsamen Besen, aber sonst wirkte alles gespenstisch verlassen. Er ging an der Mauer entlang zu dem weiten Torbogen, der groß genug war, um mit einer Kutsche in den Innenhof zu fahren. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Schemenhaft konnte er schräg gegenüber die Torpfosten des Dienstboteneingangs erkennen, aber das große Herrenhaus war nicht zu sehen, so dicht lag der Nebel auf dem Land. Auch die Weiden, die sich links hinter den Ställen bis weit in das seichte Tal unterhalb von Brigham Hall erstreckten, waren darin eingehüllt.
Vielleicht hatte er alles nur geträumt? Vielleicht träumte er noch in diesem Moment und würde gleich in seiner alten Kammer auf Ribston Hall erwachen …
»Unfug«, murmelte er vor sich hin und ging mit entschiedenen Schritten hinüber zum Haupthaus. Mit jedem Schritt tauchten mehr Details aus dem Nebel auf: die kleine Pforte, der Kräutergarten und schließlich auch die Mauern des Hauses mit der niedrigen Tür, die zum Dienstbotentrakt führte.
Daniel musste sich unter dem Türrahmen hindurchducken, obwohl er gar nicht so groß war mit seinen 1,70 m. Rechts von der Tür führte eine Treppe zu den Schlafräumen der Hausangestellten. In der Nische darunter streifte er seine Stiefel ab und nahm sich ein Paar Filzpantoffeln. Der Haufen Stiefel, der bereits dort lag, verriet ihm, wo seine Stallburschen hin verschwunden waren. Er wandte sich nach links, der Küchentür zu.
Kaum ein Wort fiel um den großen Tisch, aber in dem Raum war es dennoch alles andere als leise. Das Klappern von Löffeln in Tellern und das geräuschvolle Kauen ließen ahnen, dass der Eintopf, den die Köchin zubereitet hatte, äußerst schmackhaft war.
Daniel spürte die Blicke aller Anwesenden auf sich, als er die Küche betrat. Die drei Stallburschen zogen die Köpfe ein und löffelten hastig weiter.
»Ach, hier seid ihr«, stellte Daniel trocken fest und funkelte sie mit wütendem Blick an. So wütend war er gar nicht, aber ihm war bewusst, dass er seine Autorität erst einmal etablieren musste. Die beiden jüngeren sahen ihn schuldbewusst an, aber der ältere Bursche, Bastian, schien gänzlich unbeeindruckt.
»Essenszeit«, informierte er Daniel mit einem lässigen Schulterzucken. Unter den amüsierten Blicken der gesamten Dienerschaft trat Daniel an den Tisch heran, setzte seine Fäuste langsam rechts und links von Bastians Teller auf den Tisch, lehnte sich nach vorn und sagte dann leise: »Da wir noch nicht darüber gesprochen haben, lasse ich dir das für heute durchgehen. Aber morgen, meine Herren«, sein Blick verweilte einen Moment bei jedem Einzelnen von den dreien, bevor er genauso leise fortfuhr, »ist Essenszeit, wenn eure Arbeit erledigt ist und ich sage, dass ihr gehen dürft.« Mit einem zufriedenen Nicken beobachtete er, wie Bastian schluckte. Der Bursche hatte offensichtlich den drohenden Unterton in Daniels Stimme registriert.
Nachdem er diese Situation zu seiner Zufriedenheit geklärt hatte, sah Daniel sich um. Die meisten Namen und Gesichter in der Runde waren ihm noch fremd. Bevor er sich jedoch verloren vorkommen konnte, sprang eine der Mägde auf und winkte ihn heran. Sie war eine üppige junge Frau mit dunklen Haaren, die ihm jetzt ihr strahlendstes Lächeln schenkte.
»Setz dich nur hierher, werter Stallmeister, es ist genug Platz. Du hast sicher auch Hunger, nachdem du heute das Frühstück verpasst hast«, lud sie ihn ein.
»Frühstück?«, fragte Daniel erstaunt und erntete ebenso erstaunte Blicke aus den Gesichtern um den Tisch.
»Ja natürlich gibt es Frühstück«, konstatierte die Köchin entrüstet, als wäre es eine persönliche Beleidigung anzunehmen, es könnte keines geben. »Drei Mahlzeiten am Tag, das ist in diesem Hause üblich. Wer hart arbeitet, muss auch gut essen, sagt der Herr immer.«
Diese Neuigkeit war Musik in Daniels Ohren. Bei seinem früheren Herrn hatte er nur eine Mahlzeit am Tag bekommen und hatte oft Hunger gehabt.
»Das lasse ich mir gern gefallen«, sagte er und setzte sich an den Tisch.
Die Magd, Fanny mit Namen, wedelte mit der Hand in eine Ecke des Raumes. Dort neben der Feuerstelle saß ein Mädchen auf einem Hocker. Sie sprang sofort auf, griff einen Teller aus dem Regal und schöpfte Eintopf hinein. Mit niedergeschlagenen Lidern stellte sie den Teller zusammen mit einem Löffel vor Daniel auf den Tisch. Er bedankte sich und folgte ihr mit dem Blick, während sie sich wieder auf den Hocker setzte. Sie sah mager aus und ihre Kleider waren deutlich dreckiger und zerschlissener als die der anderen Mägde. Daniel wunderte sich, dass sie ausgeschlossen wurde, wagte aber nicht, nach dem Grund zu fragen.
Während des Essens lernte er die Dienerschaft kennen, was er hauptsächlich Fanny zu verdanken hatte. Sie schnatterte fröhlich drauflos und stellte ihm jeden in der Runde mit einer lustigen Anekdote vor.
»Die drei Bengel, die ständig nach Mist riechen, kennst du ja schon«, sagte sie mit einem frechen Blick auf die Stallburschen.
Bastian hob entrüstet den Kopf. »Ich bin kein Bengel!«, rief er und verstand gar nicht, warum alle am Tisch in lautes Gelächter ausbrachen.
»Das Dickerchen hier ist Bissi«, fuhr Fanny fort und legte einem etwa zwölfjährigen, rundlichen Jungen eine Hand auf die Schulter. »Er hat auch einen richtigen Namen, aber den habe ich vergessen. Er fragt bei allem, was essbar ist, ob er davon ›ein bissi‹ haben darf. Lass niemals dein Essen irgendwo unbeaufsichtigt herumstehen, sonst ist es weg.«
Der Junge grinste von einem Ohr bis zum anderen, offenbar nicht um seinen Ruf besorgt. »Ich will mal Koch werden«, verkündete er mit vollem Mund und erntete einen strafenden Blick von der Köchin.
»Da hast du noch viel zu lernen«, bemerkte sie nur spitz und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen.
»Mit Ellie solltest du dich gut stellen«, sagte Fanny mit einem Nicken in Richtung Köchin. »Sie ist die heimliche Herrin auf diesem Anwesen ...«
»So ein Unsinn!«, rief Ellie empört, aber Fanny ließ sich nicht beirren.
»… und die gute Seele des Hauses. Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir so gut versorgt werden.« Damit war Ellie versöhnt und protestierte nicht weiter.
Fannys Blick wanderte zu einem unscheinbaren Mädchen, das sehr konzentriert in ihren Teller starrte. »Das da ist Lizzie. Sie soll eine Hausmagd sein, aber sie kann gar nichts. Gib ihr bloß nichts Zerbrechliches in die Hand, sie wird es garantiert herunterwerfen. Es ist mir ein Rätsel, warum der Herr sie eingestellt hat, aber vielleicht hat sie ja irgendwelche Qualitäten, von denen ich nichts weiß.« Das hellblonde Mädchen errötete bis unter die Haarwurzeln.
»Fanny!«, sagte Ellie streng. Der bissige Tonfall ebenso wie die respektlosen Worte selbst schienen ihr gegen den Strich zu gehen.
Daniel sagte zu all dem nichts, zog aber ebenfalls die Augenbrauen hoch.
Nur ein Mann am Tisch schüttelte sich vor Lachen.
»Das ist Russell, der Lakai. Er hält sich für unglaublich wichtig, dabei er tut er den ganzen Tag nichts anderes als herumstehen und alle anderen von der Arbeit abhalten«, setzte Fanny ihre Vorstellungsrunde fort.
Das Lachen des Mannes wich einem empörten Schnauben. »Was weißt denn du schon, du alberne Küchenmagd. Gemüse schnippeln und Hühner rupfen, von mehr verstehst du nichts«, schoss er zurück.
»Das ist schon mal mehr, als du vorzuweisen hast! Du machst nur Türen auf und zu«, erwiderte sie mit einem spöttischen Lächeln.
Daniel konnte sich ein Glucksen nicht verkneifen und auch die anderen am Tisch kicherten amüsiert.
»Ich bin Harry, der Gärtner«, sagte ein kleiner, drahtiger, braun gebrannter Mann mit einem freundlichen Nicken in Richtung Daniel und nahm Fanny damit den Wind aus den Segeln. »Und wenn der Herr mal nicht reitet, dann bin ich auch der Kutscher.«
Damit waren alle am Tisch vorgestellt. Daniels Blick wanderte zu dem Mädchen in der Ecke.
»Und was ist mit ihr?«, fragte er.
Das Mädchen sah ihn nicht an, sondern hielt ihren Blick auf den Boden gesenkt. Sie war zierlich, kaum größer als 1,50 m, mit rotbraunen Locken, die an mehreren Stellen ihrer Haube entkommen waren. Ihr blasses Gesicht war übersät mit Sommersprossen. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich am Tisch aus.
»Tu einfach so, als wäre sie gar nicht da«, sagte Fanny schließlich knapp und stand auf, um den Tisch abzuräumen. Wie auf Kommando erhoben sich alle und gingen mit ein paar gemurmelten Worten wieder an die Arbeit. Daniel folgte verwundert ihrem Beispiel. Das Mädchen tat ihm leid, wie sie da so zusammengekauert auf dem Schemel hockte.
»Du bist zu weichherzig«, hörte er in Gedanken die Stimme seines Vaters und schob mit einem unbewussten Nicken alle Gedanken an das Mädchen beiseite. Sie ging ihn nichts an. Er hatte genug eigene Sorgen, wie zum Beispiel einen jugendlichen Burschen, der seine Autorität infrage stellte.
* * *
»Hast du das Heu immer noch...
Erscheint lt. Verlag | 28.1.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Anwesen • Baronet • Bridlington • England • Gestüt • Glaube • historisch • Liebe • Magd • Mord • Mutter-Sohn-Beziehung • Pferde • Pferdezucht • Roman • Stallmeister • Ständegesellschaft • Standesunterschiede • Verbrechen • Yorkshire |
ISBN-10 | 3-96362-932-0 / 3963629320 |
ISBN-13 | 978-3-96362-932-7 / 9783963629327 |
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Größe: 371 KB
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