Die stumme Magd
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-124-6 (ISBN)
Annette Spratte lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in einem kleinen Dorf im Westerwald. Die Liebe zu Büchern begleitet sie in ihrem Leben schon länger als die Liebe zu Pferden, und Bücher waren es auch, die ihr den Weg zum Glauben gewiesen haben, als sie noch sehr weit von Gott entfernt war. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Wenn sie gerade nicht am Computer sitzt, kann man sie im Garten oder im Pferdestall antreffen.
1. Ankunft Daniel trat aus dem Stall und ließ seinen Blick durch den Innenhof schweifen. Nebelschwaden hingen über den Gebäuden und machten sowohl die Reithalle linker Hand wie auch den gegenüberliegenden Stalltrakt nahezu unsichtbar. »Bastian? Willie?«, rief Daniel, bekam aber keine Antwort. Wo steckten die Burschen nur? Am Anbindebalken neben der majestätischen Kastanie, die mitten im Hof stand, sah er einen einsamen Besen, aber sonst wirkte alles gespenstisch verlassen. Er ging an der Mauer entlang zu dem weiten Torbogen, der groß genug war, um mit einer Kutsche in den Innenhof zu fahren. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Schemenhaft konnte er schräg gegenüber die Torpfosten des Dienstboteneingangs erkennen, aber das große Herrenhaus war nicht zu sehen, so dicht lag der Nebel auf dem Land. Auch die Weiden, die sich links hinter den Ställen bis weit in das seichte Tal unterhalb von Brigham Hall erstreckten, waren darin eingehüllt. Vielleicht hatte er alles nur geträumt? Vielleicht träumte er noch in diesem Moment und würde gleich in seiner alten Kammer auf Ribston Hall erwachen … »Unfug«, murmelte er vor sich hin und ging mit entschiedenen Schritten hinüber zum Haupthaus. Mit jedem Schritt tauchten mehr Details aus dem Nebel auf: die kleine Pforte, der Kräutergarten und schließlich auch die Mauern des Hauses mit der niedrigen Tür, die zum Dienstbotentrakt führte. Daniel musste sich unter dem Türrahmen hindurchducken, obwohl er gar nicht so groß war mit seinen 1,70 m. Rechts von der Tür führte eine Treppe zu den Schlafräumen der Hausangestellten. In der Nische darunter streifte er seine Stiefel ab und nahm sich ein Paar Filzpantoffeln. Der Haufen Stiefel, der bereits dort lag, verriet ihm, wo seine Stallburschen hin verschwunden waren. Er wandte sich nach links, der Küchentür zu. Kaum ein Wort fiel um den großen Tisch, aber in dem Raum war es dennoch alles andere als leise. Das Klappern von Löffeln in Tellern und das geräuschvolle Kauen ließen ahnen, dass der Eintopf, den die Köchin zubereitet hatte, äußerst schmackhaft war. Daniel spürte die Blicke aller Anwesenden auf sich, als er die Küche betrat. Die drei Stallburschen zogen die Köpfe ein und löffelten hastig weiter. »Ach, hier seid ihr«, stellte Daniel trocken fest und funkelte sie mit wütendem Blick an. So wütend war er gar nicht, aber ihm war bewusst, dass er seine Autorität erst einmal etablieren musste. Die beiden jüngeren sahen ihn schuldbewusst an, aber der ältere Bursche, Bastian, schien gänzlich unbeeindruckt. »Essenszeit«, informierte er Daniel mit einem lässigen Schulterzucken. Unter den amüsierten Blicken der gesamten Dienerschaft trat Daniel an den Tisch heran, setzte seine Fäuste langsam rechts und links von Bastians Teller auf den Tisch, lehnte sich nach vorn und sagte dann leise: »Da wir noch nicht darüber gesprochen haben, lasse ich dir das für heute durchgehen. Aber morgen, meine Herren«, sein Blick verweilte einen Moment bei jedem Einzelnen von den dreien, bevor er genauso leise fortfuhr, »ist Essenszeit, wenn eure Arbeit erledigt ist und ich sage, dass ihr gehen dürft.« Mit einem zufriedenen Nicken beobachtete er, wie Bastian schluckte. Der Bursche hatte offensichtlich den drohenden Unterton in Daniels Stimme registriert. Nachdem er diese Situation zu seiner Zufriedenheit geklärt hatte, sah Daniel sich um. Die meisten Namen und Gesichter in der Runde waren ihm noch fremd. Bevor er sich jedoch verloren vorkommen konnte, sprang eine der Mägde auf und winkte ihn heran. Sie war eine üppige junge Frau mit dunklen Haaren, die ihm jetzt ihr strahlendstes Lächeln schenkte. »Setz dich nur hierher, werter Stallmeister, es ist genug Platz. Du hast sicher auch Hunger, nachdem du heute das Frühstück verpasst hast«, lud sie ihn ein. »Frühstück?«, fragte Daniel erstaunt und erntete ebenso erstaunte Blicke aus den Gesichtern um den Tisch. »Ja natürlich gibt es Frühstück«, konstatierte die Köchin entrüstet, als wäre es eine persönliche Beleidigung anzunehmen, es könnte keines geben. »Drei Mahlzeiten am Tag, das ist in diesem Hause üblich. Wer hart arbeitet, muss auch gut essen, sagt der Herr immer.« Diese Neuigkeit war Musik in Daniels Ohren. Bei seinem früheren Herrn hatte er nur eine Mahlzeit am Tag bekommen und hatte oft Hunger gehabt. »Das lasse ich mir gern gefallen«, sagte er und setzte sich an den Tisch. Die Magd, Fanny mit Namen, wedelte mit der Hand in eine Ecke des Raumes. Dort neben der Feuerstelle saß ein Mädchen auf einem Hocker. Sie sprang sofort auf, griff einen Teller aus dem Regal und schöpfte Eintopf hinein. Mit niedergeschlagenen Lidern stellte sie den Teller zusammen mit einem Löffel vor Daniel auf den Tisch. Er bedankte sich und folgte ihr mit dem Blick, während sie sich wieder auf den Hocker setzte. Sie sah mager aus und ihre Kleider waren deutlich dreckiger und zerschlissener als die der anderen Mägde. Daniel wunderte sich, dass sie ausgeschlossen wurde, wagte aber nicht, nach dem Grund zu fragen. Während des Essens lernte er die Dienerschaft kennen, was er hauptsächlich Fanny zu verdanken hatte. Sie schnatterte fröhlich drauflos und stellte ihm jeden in der Runde mit einer lustigen Anekdote vor. »Die drei Bengel, die ständig nach Mist riechen, kennst du ja schon«, sagte sie mit einem frechen Blick auf die Stallburschen. Bastian hob entrüstet den Kopf. »Ich bin kein Bengel!«, rief er und verstand gar nicht, warum alle am Tisch in lautes Gelächter ausbrachen. »Das Dickerchen hier ist Bissi«, fuhr Fanny fort und legte einem etwa zwölfjährigen, rundlichen Jungen eine Hand auf die Schulter. »Er hat auch einen richtigen Namen, aber den habe ich vergessen. Er fragt bei allem, was essbar ist, ob er davon ›ein bissi‹ haben darf. Lass niemals dein Essen irgendwo unbeaufsichtigt herumstehen, sonst ist es weg.« Der Junge grinste von einem Ohr bis zum anderen, offenbar nicht um seinen Ruf besorgt. »Ich will mal Koch werden«, verkündete er mit vollem Mund und erntete einen strafenden Blick von der Köchin. »Da hast du noch viel zu lernen«, bemerkte sie nur spitz und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen. »Mit Ellie solltest du dich gut stellen«, sagte Fanny mit einem Nicken in Richtung Köchin. »Sie ist die heimliche Herrin auf diesem Anwesen ...« »So ein Unsinn!«, rief Ellie empört, aber Fanny ließ sich nicht beirren. »… und die gute Seele des Hauses. Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir so gut versorgt werden.« Damit war Ellie versöhnt und protestierte nicht weiter. Fannys Blick wanderte zu einem unscheinbaren Mädchen, das sehr konzentriert in ihren Teller starrte. »Das da ist Lizzie. Sie soll eine Hausmagd sein, aber sie kann gar nichts. Gib ihr bloß nichts Zerbrechliches in die Hand, sie wird es garantiert herunterwerfen. Es ist mir ein Rätsel, warum der Herr sie eingestellt hat, aber vielleicht hat sie ja irgendwelche Qualitäten, von denen ich nichts weiß.« Das hellblonde Mädchen errötete bis unter die Haarwurzeln. »Fanny!«, sagte Ellie streng. Der bissige Tonfall ebenso wie die respektlosen Worte selbst schienen ihr gegen den Strich zu gehen. Daniel sagte zu all dem nichts, zog aber ebenfalls die Augenbrauen hoch. Nur ein Mann am Tisch schüttelte sich vor Lachen. »Das ist Russell, der Lakai. Er hält sich für unglaublich wichtig, dabei er tut er den ganzen Tag nichts anderes als herumstehen und alle anderen von der Arbeit abhalten«, setzte Fanny ihre Vorstellungsrunde fort. Das Lachen des Mannes wich einem empörten Schnauben. »Was weißt denn du schon, du alberne Küchenmagd. Gemüse schnippeln und Hühner rupfen, von mehr verstehst du nichts«, schoss er zurück. »Das ist schon mal mehr, als du vorzuweisen hast! Du machst nur Türen auf und zu«, erwiderte sie mit einem spöttischen Lächeln. Daniel konnte sich ein Glucksen nicht verkneifen und auch die anderen am Tisch kicherten amüsiert. »Ich bin Harry, der Gärtner«, sagte ein kleiner, drahtiger, braun gebrannter Mann mit einem freundlichen Nicken in Richtung Daniel und nahm Fanny damit den Wind aus den Segeln. »Und wenn der Herr mal nicht reitet, dann bin ich auch der Kutscher.« Damit waren alle am Tisch vorgestellt. Daniels Blick wanderte zu dem Mädchen in der Ecke. »Und was ist mit ihr?«, fragte er. Das Mädchen sah ihn nicht an, sondern hielt ihren Blick auf den Boden gesenkt. Sie war zierlich, kaum größer als 1,50 m, mit rotbraunen Locken, die an mehreren Stellen ihrer Haube entkommen waren. Ihr blasses Gesicht war übersät mit Sommersprossen. Ein unangenehmes Schweigen breitete sich am Tisch aus. »Tu einfach so, als wäre sie gar nicht da«, sagte Fanny schließlich knapp und stand auf, um den Tisch abzuräumen. Wie auf Kommando erhoben sich alle und gingen mit ein paar gemurmelten Worten wieder an die Arbeit. Daniel folgte verwundert ihrem Beispiel. Das Mädchen tat ihm leid, wie sie da so zusammengekauert auf dem Schemel hockte. »Du bist zu weichherzig«, hörte er in Gedanken die Stimme seines Vaters und schob mit einem unbewussten Nicken alle Gedanken an das Mädchen beiseite. Sie ging ihn nichts an. Er hatte genug eigene Sorgen, wie zum Beispiel einen jugendlichen Burschen, der seine Autorität infrage stellte. »Hast du das Heu immer noch nicht verteilt?«, herrschte Daniel Willie an, der zusammenzuckte, als hätte man ihn mit einer Nadel gepikst. Er schnappte sich die Griffe der Schubkarre und hastete so eilig über das nasse Kopfsteinpflaster des Innenhofs, dass er ausrutschte, die Karre umkippte und sich ihre Ladung auf dem Boden ausbreitete. Der Junge erstarrte auf der Stelle, die Augen bei seinem Blick über die Schulter rund wie Untertassen. Mit einem Stöhnen setzte Daniel die schweren Wassereimer ab und verschränkte die Arme. »Nun steh schon auf und sammle es wieder ein!«, rief er und beobachtete mit stillem Amüsement, wie der Junge auf allen vieren das Heu mit den Fingern vom feuchten Boden kratzte und zurück in die Schubkarre legte. Dann schaffte er es ohne weitere Unfälle bis zum Stall. Daniel wandte sich mit einem Kopfschütteln ab. Willie war erst zehn und nur eine Woche vor Daniel selbst auf dem Gut angekommen. Er war furchtsam, verwirrt und hatte Heimweh, Gefühle, die Daniel nur zu gut kannte. Er selbst hatte seine erste Arbeitsstelle mit neun angetreten und die ersten Monate waren die Hölle gewesen. Jeden Abend hatte er sich in seiner einsamen Ecke auf dem Heuboden in den Schlaf geheult, weil er seine Mutter elendig vermisst hatte. Doch es ging nicht anders; er war das jüngste von acht Kindern und zu Hause gab es nicht genug zu essen. Sein Vater hatte versucht, für ihn eine Arbeit in der Nähe zu finden – vergeblich. Nie würde er vergessen, wie seine Mutter sich von ihm verabschiedet hatte. »Gott segne dich, mein Süßer, mein Herz, mein lieber Junge ...« Hätte er damals die Schubkarre so umgeworfen wie Willie jetzt, hätte er von seinem Herrn Dresche bekommen. Daniel würde das nicht tun. Es war unnötig, dem Jungen noch mehr Angst zu machen, als er sowieso schon hatte. Wenn er mal frech würde, wäre das etwas anderes. Daniel schleppte die Wassereimer in den Stall und stellte sie in die Ständer. Die Pferde waren unruhig und stampften ungeduldig mit den Hufen. Im Gegensatz zu den Zuchtstuten wurden die Reitpferde im Stall gehalten, damit sie direkt zur Hand waren, wenn man sie brauchte. Der Baronet war aber in den letzten Tagen nicht ausgeritten, also mussten die Pferde dringend bewegt werden. Daniel redete leise mit ihnen und sie stellten die Ohren auf und bliesen ihm ihren warmen Atem ins Gesicht. Morgen würde er sie auf die Weide lassen und hoffen, dass sie sich nicht die Beine brachen bei ihren Freudensprüngen. Bastian würde ihm helfen müssen. Die kleinen Burschen würden ja nur wie Fähnchen an den Führstricken baumeln und am Ende noch zertrampelt werden. Das musste nicht sein. Bastian hingegen war ein großer Bursche; er würde mit den unruhigen Seelen schon fertigwerden. »Alles erledigt für heute?« Daniel fuhr herum. Baronet Brigham sah auf ihn herab. Der Mann hatte die nervenaufreibende Angewohnheit, sich an die Leute heranzuschleichen. Er war unnatürlich groß, sehr dünn, und seine auffallend hohe Stimme passte so gar nicht zu seiner hochgewachsenen Gestalt. Gepaart mit seinem durchdringenden Blick, dem schütteren Haar und der meist dunklen Kleidung war seine ganze Erscheinung einschüchternd. »Ja, Sir, alles erledigt.« Aus dem Augenwinkel sah Daniel, wie Willie im Regen mit der leeren Schubkarre wieder in den Hof kam. Beim Anblick seines Herrn verließ ihn jedoch der Mut, was Daniel ihm nicht verübeln konnte. Für einen Zehnjährigen war dieser Mann ein wandelnder Albtraum. »Gut. Wenn Sie sich frisch gemacht haben, kommen Sie in mein Arbeitszimmer. Ich möchte die Bücher mit Ihnen durchgehen.« »Selbstverständlich, Sir«, antwortete Daniel. Auch wenn Baronet Brigham kein Problem damit hatte, sich draußen die Hände schmutzig zu machen, war er im Haus ausgesprochen penibel. Daniel hatte in der ersten Woche nur einmal mit Dreck an den Stiefeln das Haus betreten. Ein zweites Mal würde ihm das nicht passieren. Nachdem sein Herr aus der Haut gefahren war und ihn lautstark angeschrien hatte, wusste Daniel, warum die Bediensteten einen solch misstrauischen Respekt vor ihm hatten. Er hatte sich in dem Moment ernsthaft gefragt, ob es wirklich so klug gewesen war, bei dem Baronet anzuheuern. Doch so schnell der Wutanfall über ihn hereingebrochen war, so schnell war er auch wieder verraucht und Baronet Brigham hatte ihn völlig normal behandelt. Das hatte Daniel sehr beruhigt und ihn in seiner Entscheidung bestätigt. Das Arbeitszimmer des Baronets betrat Daniel mit einer gehörigen Portion Nervosität. Sein Mangel an Bildung war ihm schmerzhaft bewusst; er hatte nie die Schule besucht. Das Lesen und Schreiben hatte er sich mithilfe der Bibel seiner Mutter selbst beigebracht, aber sein Verständnis von Zahlen und Rechenvorgängen ging über den Alltagsgebrauch nicht hinaus. Der Baronet wusste das, hatte er Daniel doch vor der Anstellung nach seiner Ausbildung gefragt. Dennoch schien er bereit zu sein, Daniels Wissenslücken zu füllen. Warum er das tun wollte, war Daniel ein Rätsel. »Kommen Sie«, befahl der Mann und wandte sich wieder dem großen Buch zu, in dem er gelesen hatte. Er stand an einem Stehpult am Fenster des geräumigen Zimmers, eine gespitzte Feder und Tinte zur Hand. Zusätzlich zu dem Stehpult gab es noch einen Schreibtisch, zwei Sessel vor dem Kamin und hohe Regale an den Wänden. Drei große Fenster erhellten den Raum bei Tageslicht, doch jetzt war es draußen bereits dunkel, die Vorhänge waren zugezogen und mehrere Kerzen brannten. Daniel stellte sich neben seinen Herrn und ließ seinen Blick über die Spalten von Wörtern und Zahlen gleiten. Herr, hilf mir, mich nicht vollkommen zu blamieren, betete er im Stillen. Zu seiner großen Überraschung verlangte der Baronet nichts weiter von ihm, als alles genau zu beobachten. Dann machte er sich daran, die Tagesgeschäfte in das Buch einzutragen: die Ausgaben der Köchin auf dem Markt, welche Pächter ihre Pacht gezahlt oder abgeleistet hatten, was man für den Verkauf eines Schweins eingenommen hatte, wie viele Erntehelfer für wie viele Tage angeheuert worden waren. Dann bilanzierte er die Konten und klappte das Buch geräuschvoll zu. Er stellte es in ein Regal, in dem bereits viele ähnliche Bücher standen. »Ich halte Sie für einen klugen Mann, Mr Huntington«, sagte Brigham knapp, während er sich Daniel wieder zuwandte. »Sie werden beobachten und lernen, jeden Abend. Wenn Sie Fragen haben, fragen Sie.« Daniel nickte langsam. Mit einer wegwerfenden Handbewegung des Baronets wurde er entlassen. Daniel bewohnte eine kleine, aber gemütliche Kammer oberhalb der Ställe für die Reitpferde. Sie enthielt nicht mehr als ein Bett, einen kleinen Tisch mit einem Stuhl, einen Ofen und ein kleines Regal, in dem er seine Bibel und sein Schreibmaterial aufbewahrte. Die Stallburschen teilten sich eine Kammer über dem Kutschenhaus im anderen Flügel des Stallgebäudes. Über dieses Arrangement war Daniel sehr glücklich, denn die Burschen den ganzen Tag auf Trab zu halten und dafür zu sorgen, dass sie ihre Arbeit verrichteten, war ziemlich ermüdend. Jedes Mal, wenn er abends seine Tür hinter sich schloss, spürte er eine tiefe Erleichterung. Heute schlief er allerdings nicht sofort ein, sobald er unter seine Decke gekrochen war. Ihm gingen zu viele Dinge durch den Kopf, die ganzen neuen Eindrücke und Erwartungen, die an ihn gestellt wurden. Er wünschte sich sehnlichst, dass sein neuer Herr mit ihm zufrieden sein und ihm eine dauerhafte Anstellung geben würde. Was den Umgang mit den Pferden anging, machte er sich wenig Sorgen. Er wusste, dass er ein Händchen für die Tiere hatte wie kaum ein anderer. Aber der Rest? Die Zucht, die Organisation des Stalles, die Führung der Angestellten? Das waren alles Dinge, um die sich sonst andere gekümmert hatten, und er war sich nicht sicher, ob ihm das nicht über den Kopf wachsen würde. Wie lange seine Probezeit dauern sollte, hatte der Baronet nicht gesagt und Daniel hatte sich nicht getraut zu fragen. Er konnte sowieso nicht mehr tun, als sein Bestes zu geben. Nachdem er sich eine Weile hin und her gewälzt hatte, setzte er sich auf. Es hatte keinen Sinn, er musste noch etwas essen. Hoffentlich würde er in der Küche fündig werden. Auf Ribston Hall hätte er nicht daran denken brauchen, aber er hatte die Hoffnung, dass solche Angelegenheiten hier weniger streng gehandhabt wurden. Schnell schlüpfte er in seine Hose und Stiefel, zündete die Öllampe an und stieg die schmalen Stufen hinunter in den Stall. Er überquerte den Innenhof und folgte dem Pfad zum Dienstboteneingang in die Küche. Im Flur traf er auf Harry, den Gärtner. »Na, so spät noch unterwegs, Herr Stallmeister?«, fragte der ältere Mann gutmütig. »Mein Magen gibt keine Ruhe«, erklärte Daniel und lächelte etwas schräg. »Jaja, die jungen Kerle«, grinste Harry und zwinkerte ihm zu. »Ich gehe öfter abends noch ins Dorf. Du kannst gern mitkommen, wenn du willst«, lud er Daniel ein. »Ins Dorf?« »Ja, nach Flamborough. Ist zwar ein ordentlicher Marsch da rüber, aber es lohnt sich. Wenn du wissen willst, was in der Welt passiert, gibt es keinen besseren Ort als das Seabirds. Und der Gin ist auch passabel.« »Soso«, sagte Daniel ausweichend. An seiner früheren Arbeitsstelle hatten die Knechte dem Gin auch gern zugesprochen und nicht wenige Schlägereien waren daraus entstanden. Daniel machte lieber einen Bogen um die einschlägigen Wirtshäuser, auch weil seine Mutter ihn immer wieder dazu angehalten hatte, um Gottes willen die Finger vom Alkohol zu lassen. Harry bemerkte seine Zurückhaltung sofort. »Keine Sorge, ich lass mich nicht volllaufen wie so manch anderer. Ich trinke ein Gläschen und höre mir an, was die Leute zu erzählen haben. Es kommen immer wieder Seeleute dort hin, die von ihren Reisen berichten, vom Krieg mit Spanien und was eben sonst so passiert. Wie gesagt, kannst gern einmal mitkommen.« Damit tippte er sich an seine Kappe und kletterte die steile Treppe hinauf, während Daniel ihm eine gute Nacht wünschte und in die Küche ging. Es war gut, dass er die Lampe mitgenommen hatte, denn das Feuer war verglommen und der Raum lag im Dunkeln. In Gedanken noch bei seinem Gespräch mit Harry hielt er die Lampe hoch, um sich nach etwas Essbarem umzusehen. Er hätte sie fast fallen gelassen, als plötzlich hinter dem Tisch eine Gestalt auftauchte. Das Licht wurde eine Sekunde lang von zwei weit aufgerissenen Augen reflektiert, die dann aber zusammengekniffen wurden. Zerzauste Locken ragten in alle Richtungen und Daniel wischte sich erleichtert über die Stirn. Es war nur die kleine Magd. Er stieß eine Mischung aus Seufzer und betretenem Gelächter aus. Er wäre fast vor dem Mädchen davongelaufen! »Du liebe Güte, was tust du hier mitten in der Nacht? Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt.« Er trat an den Tisch und stellte die Lampe ab. Das Mädchen saß auf der Bank am Tisch und hielt eine Decke um sich geklammert. Immer wieder blinzelte sie, sah über die Schulter und biss sich auf die Lippe, sagte aber nichts. »Gibt es noch Essen? Ich bin sehr hungrig«, fuhr Daniel fort und schaute sich noch einmal um. Das Mädchen warf einen kurzen Blick auf den großen Schrank in der Ecke, bewegte sich sonst aber nicht. Als Daniel den Schrank öffnete, fand er darin reichlich Vorräte. Er nahm sich etwas Brot und Käse sowie einige Scheiben Schinken. Als er zum Tisch zurückkam, bemerkte er, dass das Mädchen unter der Decke nichts als ein Unterkleid trug, während ihre Kleider in einem Stapel auf dem Boden neben der Bank lagen, auf der sie saß. Das wunderte ihn. »Schläfst du hier auf der Bank?«, fragte er ungläubig. »Noch so spät auf, Mr Huntington?«, durchschnitt die Stimme des Baronets die Küche. Der Mann trat aus dem Schatten der Tür gegenüber des Dienstbotenausgangs. Daniel zuckte zusammen. »Ich hatte noch Hunger«, verteidigte er sich unsicher. War es doch verboten, sich selbst von dem Essen zu nehmen? Das Mädchen kauerte sich unter ihrer Decke zusammen, als wollte sie sich in Luft auflösen. »Wie ich sehe, haben Sie dieses Problem gelöst«, erwiderte Brigham mit einem Blick auf das Brot. Sein Ton kam einem Rauswurf gleich. Hastig schnappte Daniel seine Lampe und das Essen und nickte seinem Herrn zu. »Sir«, murmelte er und machte, dass er wegkam. Obwohl er zu gern gewusst hätte, warum sein Herr nachts durchs Haus schlich. Vielleicht hatte er auch noch Hunger verspürt? Daniel bezweifelte es aus irgendeinem Grund. Eher schien es ihm, als hätte der Baronet die Magd bewacht. Das war verrückt. Warum sie wohl kein eigenes Bett hatte? Das Haus war doch groß genug! Wurde sie für irgendetwas bestraft? Daniel kehrte in seine Kammer zurück und starrte nachdenklich die Wand an, während er sein Nachtmahl kaute. Es ergab keinen Sinn. Das Mädchen hatte die ganze Zeit über die Schulter geschaut, als ob sie jemanden erwarten würde. Warum sprach sie eigentlich nicht? Offensichtlich hatte sie ja alles verstanden, was er zu ihr gesagt hatte, also konnte sie nicht taub sein. Warum hatte sie solche Angst vor dem Baronet? Daniel seufzte unwillig. In diese Richtung wollte er lieber nicht weiterdenken. Es war ihm durchaus bewusst, dass die Herren, egal welchen Standes, der Ansicht waren, dass sie mit ihren Mägden machen konnten, was sie wollten. Selbst die Lakaien und Butler waren berüchtigt dafür, jedem Rock nachzustellen. Einen Butler gab es hier seltsamerweise nicht. Vielleicht übernahm Russell einige der Aufgaben. Oder der Baronet war zu eigen, um einen Butler in seiner Nähe zu dulden. Daniel stopfte sich den Rest Käse und Brot in den Mund, machte die Lampe aus und legte sich wieder hin. »Wie heißt sie eigentlich?«, fragte er sich noch, bevor er endlich in den Schlaf sank. Daniel brauchte mehrere Wochen, bevor er sich ein Herz fasste und dem Baronet eine Frage über die Bücher stellte. Er hatte alles genau beobachtet und verstand das allgemeine Prinzip der Buchführung. Es gab einen Bestand; Dinge, die verbraucht oder verkauft wurden, zog man ab, Dinge, die dazukamen, addierte man. Aber die schnellen Berechnungen des Baronets kamen einem Mysterium gleich. Mit schamroten Wangen gestand er seine Hilflosigkeit, wofür er ein amüsiertes Lächeln erntete. »Wie gut, dass Sie endlich Ihren Stolz hinuntergeschluckt haben, Mr Huntington«, sagte Brigham. »Ich hatte schon befürchtet, Sie würden daran ersticken.« Er zog einen Rechenschieber aus einer Schublade und begann, Daniel die Grundlagen der Mathematik zu erklären. Dann zog er eines der älteren Bücher aus dem Regal und drückte es ihm in die Arme. »Üben Sie hiermit«, riet er ihm und schickte ihn zurück in sein Quartier. Von da an verbrachte Daniel jeden Abend mit Rechenübungen in seiner Kammer über den Ställen. Anfangs kam es ihm vor, als würde er es niemals verstehen. Doch er erinnerte sich daran, dass er beim Entziffern der Buchstaben das Gleiche gedacht hatte. Er war stoisch drangeblieben und dann, wie ein Blitzschlag, waren ihm die Zusammenhänge klar geworden und er konnte lesen. Von den Zahlen erwartete er das jetzt auch. Abgesehen davon, dass er rechnen lernte, fand er auch viel darüber heraus, wie das Gut geführt wurde, und wendete das erworbene Wissen in seiner täglichen Arbeit an. Beispielsweise war gutes Heu wertvoll und unabdingbar für die Gesundheit der Pferde. Daniels früherer Herr hatte keinen großen Wert auf die Heuqualität gelegt und die Pferde hatten ständig gehustet, besonders im Winter, wenn sie aufgestallt waren. Noch nie zuvor hatte Daniel gehört, dass man Pferde im Winter draußen hielt, aber Brigham schwor darauf. Er behauptete, Pferde müssten sich an der frischen Luft bewegen und bräuchten nicht warm eingepackt zu werden, wenn es kalt wurde. Genug Weiden hatte er ja. Ole Pete sagte dasselbe und Daniel konnte sehen, dass die Pferde alle gesund und stark waren, ohne auch nur die Spur eines Hustens. Während seiner Trainingsrunden mit ihnen hatte Daniel sich über die vielen Heuschober gewundert, die oft besser in Schuss waren als die Hütten mancher Pächter. Durch die Bücher lernte er, dass der Baronet wesentlich mehr Heu produzierte, als er selbst für sein Vieh brauchte, und den Überschuss im Winter verkaufte. Das daraus resultierende Einkommen war beträchtlich und Daniel entwickelte einen großen Respekt für seinen Herrn, denn dieses Geld trug dazu bei, dass jeder auf dem Anwesen genug zu essen hatte. Brigham Hall, den 12. November 1710 Liebe Mutter, heute wurde ich von einem Bündel Briefe überrascht, alle von Deiner lieben Hand geschrieben. Sie wurden anscheinend gesammelt und an meine neue Arbeitsstelle weitergeleitet; von wem, werde ich wohl nie erfahren. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, sie zu lesen, aber das werde ich tun – einen nach dem anderen. Sie werden mir meine Abende versüßen. Dies ist nur ein schneller Gruß, um Dich wissen zu lassen, dass es mir gut geht und ich die Briefe erhalten habe. Dein Dich liebender Sohn Daniel
1. AnkunftDaniel trat aus dem Stall und ließ seinen Blick durch den Innenhof schweifen. Nebelschwaden hingen über den Gebäuden und machten sowohl die Reithalle linker Hand wie auch den gegenüberliegenden Stalltrakt nahezu unsichtbar.»Bastian? Willie?«, rief Daniel, bekam aber keine Antwort. Wo steckten die Burschen nur?Am Anbindebalken neben der majestätischen Kastanie, die mitten im Hof stand, sah er einen einsamen Besen, aber sonst wirkte alles gespenstisch verlassen. Er ging an der Mauer entlang zu dem weiten Torbogen, der groß genug war, um mit einer Kutsche in den Innenhof zu fahren. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Schemenhaft konnte er schräg gegenüber die Torpfosten des Dienstboteneingangs erkennen, aber das große Herrenhaus war nicht zu sehen, so dicht lag der Nebel auf dem Land. Auch die Weiden, die sich links hinter den Ställen bis weit in das seichte Tal unterhalb von Brigham Hall erstreckten, waren darin eingehüllt.Vielleicht hatte er alles nur geträumt? Vielleicht träumte er noch in diesem Moment und würde gleich in seiner alten Kammer auf Ribston Hall erwachen ...»Unfug«, murmelte er vor sich hin und ging mit entschiedenen Schritten hinüber zum Haupthaus. Mit jedem Schritt tauchten mehr Details aus dem Nebel auf: die kleine Pforte, der Kräutergarten und schließlich auch die Mauern des Hauses mit der niedrigen Tür, die zum Dienstbotentrakt führte.Daniel musste sich unter dem Türrahmen hindurchducken, obwohl er gar nicht so groß war mit seinen 1,70 m. Rechts von der Tür führte eine Treppe zu den Schlafräumen der Hausangestellten. In der Nische darunter streifte er seine Stiefel ab und nahm sich ein Paar Filzpantoffeln. Der Haufen Stiefel, der bereits dort lag, verriet ihm, wo seine Stallburschen hin verschwunden waren. Er wandte sich nach links, der Küchentür zu.Kaum ein Wort fiel um den großen Tisch, aber in dem Raum war es dennoch alles andere als leise. Das Klappern von Löffeln in Tellern und das geräuschvolle Kauen ließen ahnen, dass der Eintopf, den die Köchin zubereitet hatte, äußerst schmackhaft war.Daniel spürte die Blicke aller Anwesenden auf sich, als er die Küche betrat. Die drei Stallburschen zogen die Köpfe ein und löffelten hastig weiter.»Ach, hier seid ihr«, stellte Daniel trocken fest und funkelte sie mit wütendem Blick an. So wütend war er gar nicht, aber ihm war bewusst, dass er seine Autorität erst einmal etablieren musste. Die beiden jüngeren sahen ihn schuldbewusst an, aber der ältere Bursche, Bastian, schien gänzlich unbeeindruckt.»Essenszeit«, informierte er Daniel mit einem lässigen Schulterzucken. Unter den amüsierten Blicken der gesamten Dienerschaft trat Daniel an den Tisch heran, setzte seine Fäuste langsam rechts und links von Bastians Teller auf den Tisch, lehnte sich nach vorn und sagte dann leise: »Da wir noch nicht darüber gesprochen haben, lasse ich dir das für heute durchgehen. Aber morgen, meine Herren«, sein Blick verweilte einen Moment bei jedem Einzelnen von den dreien, bevor er genauso leise fortfuhr, »ist Essenszeit, wenn eure Arbeit erledigt ist und ich sage, dass ihr gehen dürft.« Mit einem zufriedenen Nicken beobachtete er, wie Bastian schluckte. Der Bursche hatte offensichtlich den drohenden Unterton in Daniels Stimme registriert.Nachdem er diese Situation zu seiner Zufriedenheit geklärt hatte, sah Daniel sich um. Die meisten Namen und Gesichter in der Runde waren ihm noch fremd. Bevor er sich jedoch verloren vorkommen konnte, sprang eine der Mägde auf und winkte ihn heran. Sie war eine üppige junge Frau mit dunklen Haaren, die ihm jetzt ihr strahlendstes Lächeln schenkte.»Setz dich nur hierher, werter Stallmeister, es ist genug Platz. Du hast sicher auch Hunger, nachdem du heute das Frühstück verpasst hast«, lud sie ihn ein.»Frühstück?«, fragte Daniel erstaunt und erntete ebenso erstaunte Blicke aus den Gesichtern um den Tisch.»Ja natürlich gibt es Frühstück«, konstatierte die Köchin entrüstet, als wäre es eine persönliche Belei
Erscheinungsdatum | 31.01.2020 |
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Sprache | deutsch |
Maße | 135 x 205 mm |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Anwesen • Baronet • Bridlington • England • Gestüt • Glaube • historisch • Liebe • Magd • Mord • Mutter-Sohn-Beziehung • Pferde • Pferdezucht • Roman • Stallmeister • Ständegesellschaft • Standesunterschiede • Verbrechen • Yorkshire |
ISBN-10 | 3-96362-124-9 / 3963621249 |
ISBN-13 | 978-3-96362-124-6 / 9783963621246 |
Zustand | Neuware |
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