Zusammen sind wir unbesiegbar (eBook)
160 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-05959-7 (ISBN)
Nichts kann ihrer Freundschaft etwas anhaben, davon sind Leviathan und Kapia felsenfest überzeugt. Dank Kapia, dreist und unerbittlich gegenüber Mensch und Tier, traut sich auch der schüchterne und ängstliche Leviathan plötzlich Abenteuer zu, die er bisher nur in seiner Phantasie erlebt hat. Gemeinsam machen sie das Dorf unsicher, jagen das goldene Schwein und verfolgen die todbringende Hahnenwitwe. Sie erobern Mädchenherzen und setzen sich in der Schule gegen Rivalen zur Wehr. Bis eines Tages die Ereignisse rund um einen harmlosen Kuss das dicke Band ihrer Freundschaft doch gefährden ... Mit frecher Feder erzählt Peter Balko in seinem Debütroman unterhaltsam und sehr warmherzig die Geschichte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn an der ungarisch-slowakischen Grenze.
Peter Balko, geboren 1988 in Lucenec/Lo?onc, der sich bereits als Drehbuchautor einen Namen gemacht hat, erhielt für sein Romandebüt zahlreiche Preise und ist einer der meistbeachteten slowakischen Autoren der Gegenwart.
2
Schwanenballade
»Das ist keine Erzählung!«, rief Kapia und warf mein Heft auf den Boden. Die Zigarette, die er zwischen den Lippen zusammengepresst hatte, drückte er auf einer Schnecke aus. Er sagte, die Natur würde sie aufnehmen und ihre Qualen in etwas Besseres verwandeln, etwa in Humus oder ein Veilchenstillleben. Ich glaubte ihm, war er doch mein Kamerad.
Wir waren acht Jahre alt und bewaffnet. Kapia hatte ein Messer, ich eine Šumbajka. Eine Šumbajka ist ein meterlanger Stock, biegsam und federnd, am besten von einer Linde, an dessen Ende man ein Stück Lehm oder hart gewordenen Schlamm aufsteckt. Kapia kannte sechs unanständige Wörter und zwei Filmtitel für Erwachsene, ich konnte die Namen aller Heiligen des Kalenders auswendig, auch rückwärts. Kapia tötete jeden Tag mindestens ein Tier, ich putzte mir jeden Abend die Zähne. Kapia spuckte, ich schrieb.
Wir waren die besten Freunde in Novohrad und wussten: Sollte uns einmal etwas trennen, könnte das nur der Dritte Weltkrieg sein. Unsere Bande haben wir unter dem alten Nussbaum am Ende des Stadtparks sogar mit Blut besiegelt. Die Sonne hustete die letzten Lichtreste aus, die Schatten verhärteten sich, und Kapia furzte vor Erregung. Die Bruderschaft war hergestellt, und es war höchste Zeit, nach Hause zur Dillsuppe zurückzukehren.
»Nichts auf der Welt ist stärker als Blut«, flüsterte Kapia und spuckte den Briefträger an, der auf einem auberginefarbenen Fahrrad an uns vorbeiflitzte. Seitdem müssen unsere Väter die Briefe auf dem Postamt abholen.
Ein fremdes Geschrei, das nicht in den Kontext meiner Gedankengänge passte, holte mich in die Realität zurück, und ehe ich mich umdrehen konnte, sah ich Kapia bereits die kurvenreiche Straße den See entlang davonsausen. Ich schnappte mir das Heft und die Šumbajka und rannte ihm blitzschnell hinterher. Glaubt mir, nur wenige Dinge auf der Welt sind schlimmer als der Zorn des alten Kilimandscharo, eines beinahe blinden Waldmenschen, der in einer verwitterten Hütte zwischen Unterholz und Sträuchern wohnt. Aus unerklärlichen Gründen wurde er vor Jahren zum Verwalter des hiesigen Sees ernannt. Kapia und ich dachten immer, er sei ein hundsgewöhnlicher Kommunist. Obwohl wir nicht genau wussten, was das heißt, wussten wir, dass wir recht hatten.
Wir versteckten uns auf unserem geheimen Baum, aus dem wir immer ein unterirdisches Versteck machen wollten. Doch wie baut man ein unterirdisches Versteck auf einem Baum?
In die Rinde ritzten wir unsere Initialen. Zur Sicherheit zeichneten wir an die umstehenden Bäume die merkwürdigsten Symbole, die uns im Falle eines Angriffs durch eine Berglanguste oder bei einem Gedächtnisverlust zum Ziel führen würden. Oft dachten wir darüber nach, woran wir uns nach einem Gedächtnisverlust erinnern würden. Um die Befürchtungen zu vertreiben, arbeiteten wir einen Fragenkatalog aus, nach dem wir eindeutig bestimmen konnten, ob es zum Verlust gekommen war oder nicht. Die richtigen Antworten verschlüsselten wir. Nein, wir schrieben sie nicht kopfüber. Nein, wir schrieben sie nicht auf Ungarisch. Ja, wir schrieben sie spiegelverkehrt.
Erste Frage: In welchem Film trafen sich erstmals Bruce Lee und Bolo Yeung?
Kapia nahm aus der Hosentasche die letzte Zigarette heraus, die er seinem Vater geklaut hatte. Sie war zerbrochen, aber er genoss sie auch so, wie ein erfahrener Raucher. Ich konnte nicht rauchen, einmal zog ich den Rauch in die Lungen und kam erst auf einer Wiese zwischen Kletten wieder zu mir. Kapia grölte wie ein Wahnsinniger. Er sagte, dass nur Weiber Rauch in die Lunge ziehen. Er wusste über viele Dinge viel. Schließlich hatte er auch so einiges erlebt. Am linken Fuß hatte er sechs Zehen, vermutlich deshalb, weil er in Ábelová geboren wurde. Die Mutter war Putzfrau an der Berufsschule und spielte in der Freizeit Waldhorn. Der Vater war Landvermesser, Rotschopf und Säufer. Immer wenn er trank, hatte er das Gefühl, sein Sohn sei Kriegsdeserteur und wolle ihn umbringen, also schloss er sich im Schrank ein und wartete dort bis zum Morgengrauen. Einmal kam er angeblich ganze sieben Tage nicht raus, Kapia brachte ihm auf Mutters Drängen jeden Tag Toast und Kamillentee. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie so ein Schrank aussieht, wenn jemand eine Woche lang darin lebt«, sagte er und zog an seiner Zigarette wie ein alter Seemann. Es fehlten nur noch ein Bakelitmeer, kein Ufer in Sichtweite und ein ausgestochenes Auge.
Warum ist meine Erzählung keine Erzählung?
Kapia löschte die Zigarette auf der Zunge aus, schaute in die sterbende Sonne und spuckte aus. »Du weißt doch, in jeder Erzählung muss ein Weib vorkommen, sonst ist es keine Erzählung. Entweder geht es um Weiber oder um gar nichts, das wissen alle. Merk dir das, wenn du Schriftsteller werden willst!«
Ich nickte. Er hatte völlig recht, in meiner Erzählung vom Nachbarn Hrčka, dem blaue Haare gewachsen sind, wurde mit keinem Wort ein Mädchen, eine Frau oder ein Weib erwähnt, wie Kapia sie alle nannte. Aber Opa meinte trotzdem, ich solle über Dinge schreiben, die ich kenne. Über Weiber wusste ich wenig: Sie haben Brüste, mit denen sie Kinder stillen, sie haben keinen Zipfel, und die meiste Zeit ihres Lebens tut ihnen der Kopf weh.
Zweite Frage: Wie heißt und woher stammt die Figur, die Jean-Claude Van Damme im Film Karate Tiger darstellte?
Es dunkelte, wir gingen beide nach Hause. Kapia tötete auf dem Heimweg einen überdimensionalen Maikäfer, ich notierte mir seinen Gesichtsausdruck kurz vor dessen Ableben. Wir waren ein gutes Team, sogar das beste, das ich kannte. Wenn wir uns auf der Straße trennten, blickte sich keiner von uns um. Jungs schauen doch immer nach vorne. Am Abend funkten wir uns an und vereinbarten, was wir am nächsten Tag in die Schule anziehen würden. So machen das Teammitglieder, es ist unausweichlich. Wie eine Geheimschrift. Deshalb hatten wir auch Spitznamen, Kapia hieß in Wirklichkeit Koloman, aber die Schüler der höheren Klassen nannten ihn Kapia, weil er im Gesicht immer so rot wie ein Paprika war. Ich war Leviathan. Ursprünglich wollte ich Kapitän Dabač sein, aber Kapia sagte mir, so ein Spitzname existiere bereits. Den Namen Leviathan fanden wir in der Vermessungszeitschrift von Kapias Vater, worin neben Landschaftsbildern und stummen Karten Fotos von nackten Frauen mit Achseln zwischen den Schenkeln eingelegt waren. Sie waren merkwürdig, vermutlich auch Kommunistinnen.
Über Nacht sank die Temperatur weit unter null. Eis und weiße Daunendecken, wohin das Auge reichte. Häuser, Hügel, Straßen, Schaukeln, ein trauriger Landstreicher, auch die knospenden Bäume auf dem Schulhof, die ich während des Heimatkundeunterrichts durch das Klassenzimmerfenster beobachtete, waren schneebedeckt. Kapia saß hinter mir und ritzte mit dem Zirkel Bibelzitate in die Schulbank. Die Welt versank, und ich hatte so einige Mühe, vom feuchten Körperduft meiner Banknachbarin Alica nicht wahnsinnig zu werden. Die anderen Mädchen in der Klasse rochen entweder nach morgendlichem Kakao oder nach billigem Kirschlippenstift. Alica war anders, ihr Duft verkündete der Welt, dass sie eine Frau war. Ein Weib.
Und die Welt schenkte ihr Gehör, ach, wie wunderbar sie ihr Gehör schenkte!
Als Einzige in der Klasse trug sie einen Rock. Einen weißen mit roten Punkten, knapp bis unter die Knie reichend, und manchmal, aber wirklich nur manchmal, wenn meine Augen Glück hatten, sahen sie die runden, backigen Äpfelchen. Sie erinnerten an weiche Maulwurfshügel, die in ihren unterirdischen Gängen die Geheimnisse des schmutzigen Erwachsenseins versteckten. Kapia pflegte zwar zu sagen, sie sei Jungfrau, aber ich wusste, dass sie im März geboren war. Nur ein Frühlingskind konnte so unendlich langes, gelocktes Haar haben, das sich ihr während des Diktats um die Handgelenke schmiegte, eine schmale und verblüffende Nase wie ein Komma in einem Kurzsatz, und Brüste, wirkliche Brüste, die nicht einmal Dritt- oder Viertklässlerinnen hatten und die sich ihr beim Vorbeugen ins Heft eingruben und die frische Tinte verschmierten. Die anderen Mädchen hatten winzige Vorsprünge, Zapfen, Würstchen, ungarische Abfahrtsstrecken oder Idiotenhügel, aber Alica hatte wunderschöne Berge.
Einmal habe ich sogar mit ihr gesprochen. In der Pause hat sie mich nach einem Papiertaschentuch gefragt, aber ich hatte nur ein Stofftaschentuch mit einem eingenähten Wappen der Burg Šomoška. Meine Mutter pflegte immer zu sagen, ein richtiger Mann müsse Anmut, einen guten Duft und ein eigenes Stofftaschentuch haben. Ich war damals so nervös, dass ich erbrechen musste. Manchmal passiert mir das, wenn ich stark unter Druck stehe. Seither haben wir nie mehr miteinander gesprochen....
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2020 |
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Übersetzer | Zorka Ciklaminy |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Vtedy v Losonci (Damals in Losonc) |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Buben • Debüt • Freundschaft • Huckleberry Finn • Jungen • Kinder • Slowakei • Tom Sawyer • Ungarn |
ISBN-10 | 3-552-05959-8 / 3552059598 |
ISBN-13 | 978-3-552-05959-7 / 9783552059597 |
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