Bald sind wir aber Gesang (eBook)

Eine Auswahl aus seinen Werken und Briefen
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2020 | 1. Auflage
256 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-74231-6 (ISBN)
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Navid Kermani lässt uns am ganzen Hölderlin teilnehmen, nicht nur am großen Lyriker, sondern auch am Romanautor, Dramatiker, Philosophen, Übersetzer und Autor bewegender Briefe. Es sind nicht immer die bekannten, aber es sind entscheidende Texte, die in dieser so umsichtigen wie entschlossenen Auswahl versammelt sind.
Friedrich Hölderlin entzieht sich allen Kategorisierungen, erst recht seit sein Werk durch die kritischen Ausgaben aus dem handschriftlichen Nachlass von gefälligen Glättungen befreit wurde. Navid Kermani, dessen Name seit seinen fulminanten Frankfurter Poetikvorlesungen von 2011 mit Hölderlin verbunden wird, legt hier erstmals eine Auswahl auf der Höhe der modernen Editionen vor, die über die berühmten Gedichte hinausgeht und den Dichter, Roman- und Dramenautor, Literaturtheoretiker, Briefeschreiber, Liebhaber, Propheten, Mystiker und Wahnsinnigen in der ganzen Breite seines Schaffens erschließt. Berühmte Gedichte Hölderlins stehen so neben unbekannteren, aber nicht weniger grandiosen Texten, die fremdartig und zugleich unmittelbar zu uns sprechen. Ganz in den Nöten der irdischen Existenz befangen, schuf Friedrich Hölderlin in kaum mehr als zehn Jahren, zwischen 1795 und 1806, das eine Werk in deutscher Sprache, das in einer Reihe mit den großen Offenbarungen der Welt steht.

Navid Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für seine Romane, Reportagen und wissenschaftlichen Werke erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-Preis, den Kleist-Preis sowie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Seine Sachbücher erscheinen bei C.H.Beck. Seine Frankfurter Poetikvorlesungen erschienen 2012 im Carl Hanser Verlag: !Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe!. <br> <br> Friedrich Hölderlin, geboren am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar, studierte Theologie in Tübingen, wo er mit Hegel und Schelling befreundet war, hörte in Jena Vorlesungen bei Fichte, lernte Schiller, Goethe und Novalis kennen und begegnete als Hauslehrer seiner großen Liebe Susette Gontard. Seit 1806 galt er als wahnsinnig und verbrachte die zweite Hälfte seines Lebens in einer Tübinger Turmstube, wo er weiter dichtete und am 7. Juni 1843 starb.

Brod und Wein.

An
Heinze.

[Erste Fassung]

1.

Rings um ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse,

Und, mit Fakeln geschmükt, rauschen die Wagen hinweg.

Satt gehn heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen,

Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt

Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,

Und von Werken der Hand ruht der geschäfftige Markt.

Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vieleicht, daß

Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann

Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen,

Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet.

Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Gloken,

Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.

Jezt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,

Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond

Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht
kommt,

Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,

Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den
Menschen

Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.

2.

Wunderbar ist die Gunst der Hocherhabnen und niemand

Weiß von wannen und was einem geschiehet von ihr.

So bewegt sie die Welt und die hoffende Seele der Menschen,

Selbst kein Weiser versteht, was sie bereitet, denn so

Will es der oberste Gott, der sehr dich liebet, und darum

Ist noch lieber, wie sie, dir der besonnene Tag.

Aber zuweilen liebt auch klares Auge den Schatten

Und versuchet zu Lust, eh’ es die Noth ist, den Schlaf,

Oder es blikt auch gern ein treuer Mann in die Nacht hin,

Ja, es ziemet sich ihr Kränze zu weihn und Gesang,

Weil den Irrenden sie geheiliget ist und den Todten,

Selber aber besteht, ewig, in freiestem Geist.

Aber sie muß uns auch, daß in der zaudernden Weile,

Daß im Finstern für uns einiges Haltbare sei,

Uns die Vergessenheit und das Heiligtrunkene gönnen,

Gönnen das strömende Wort, das, wie die Liebenden, sei,

Schlummerlos und vollern Pokal und kühneres Leben,

Heilig Gedächtniß auch, wachend zu bleiben bei Nacht.

3.

Auch verbergen umsonst das Herz im Busen, umsonst nur

Halten den Muth noch wir, Meister und Knaben, denn wer

Möcht’ es hindern und wer möcht’ uns die Freude verbieten?

Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,

Aufzubrechen. So komm! daß wir das Offene schauen,

Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.

Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe

Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maas,

Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden,

Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann.

Drum! und spotten des Spotts mag gern frohlokkender
Wahnsinn

Wenn er in heiliger Nacht plötzlich die Sänger ergreift.

Drum an den Isthmos komm! dorthin, wo das offene Meer
rauscht

Am Parnaß und der Schnee delphische Felsen umglänzt,

Dort ins Land des Olymps, dort auf die Höhe Cithärons,

Unter die Fichten dort, unter die Trauben, von wo

Thebe drunten und Ismenos rauscht, im Lande des Kadmos,

Dorther kommt und zurük deutet der kommende Gott.

4.

Seeliges Griechenland! du Haus der Himmlischen alle,

Also ist wahr, was einst wir in der Jugend gehört?

Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge

Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!

Aber die Thronen, wo? die Tempel, und wo die Gefäße,

Wo mit Nectar gefüllt, Göttern zu Lust der Gesang?

Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche?

Delphi schlummert und wo tönet das große Geschik?

Wo ist das schnelle? wo brichts, allgegenwärtigen Glüks voll

Donnernd aus heiterer Luft über die Augen herein?

Vater Aether! so riefs und flog von Zunge zu Zunge

Tausendfach, es ertrug keiner das Leben allein;

Ausgetheilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden,

Wirds ein Jubel, es wächst schlafend des Wortes Gewalt

Vater! heiter! und hallt, so weit es gehet, das uralt

Zeichen, von Eltern geerbt, treffend und schaffend hinab.

Denn so kehren die Himmlischen ein, tiefschütternd gelangt so

Aus den Schatten herab unter die Menschen ihr Tag.

5.

Unempfunden kommen sie erst, es streben entgegen

Ihnen die Kinder, zu hell kommet, zu blendend das Glük,

Und es scheut sie der Mensch, kaum weiß zu sagen ein Halbgott

Wer mit Nahmen sie sind, die mit den Gaaben ihm nahn.

Aber der Muth von ihnen ist groß, es füllen das Herz ihm

Ihre Freuden und kaum weiß er zu brauchen das Gut,

Schafft, verschwendet und fast ward ihm Unheiliges heilig,

Das er mit seegnender Hand thörig und gütig berührt.

Möglichst dulden die Himmlischen diß; dann aber in Wahrheit

Kommen sie selbst und gewohnt werden die Menschen
des Glüks

Und des Tags und zu schaun die Offenbaren, das Antliz

Derer, welche schon längst Eines und Alles genannt

Tief die verschwiegene Brust mit freier Genüge gefüllet,

Und zuerst und allein alles Verlangen beglükt;

So ist der Mensch; wenn da ist das Gut, und es sorget mit
Gaaben

Selber ein Gott für ihn, kennet und sieht er es nicht.

Tragen muß er, zuvor; nun aber nennt er sein Liebstes,

Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn.

6.

Und nun denkt er zu ehren in Ernst die seeligen Götter,

Wirklich und wahrhaft muß alles verkünden ihr Lob.

Nichts darf schauen das Licht, was nicht den Hohen gefället,

Vor den Aether gebührt müßigversuchendes nicht.

Drum in der Gegenwart der Himmlischen würdig zu stehen,

Richten in herrlichen Ordnungen Völker sich auf

Untereinander und baun die schönen Tempel und Städte

Vest und edel, sie gehn über Gestaden empor –

Aber wo sind sie? wo blühn die Bekannten, die Kronen des
Festes?

Thebe welkt und Athen; rauschen die Waffen nicht mehr

In Olympia, nicht die goldnen Wagen des Kampfspiels,

Und bekränzen sich denn nimmer die Schiffe Korinths?

Warum schweigen auch sie, die alten heilgen Theater?

Warum freuet sich denn nicht der geweihete Tanz?

Warum zeichnet, wie sonst, die Stirne des Mannes ein Gott
nicht,

Drükt den Stempel, wie sonst, nicht dem Getroffenen auf?

Oder er kam auch selbst und nahm des Menschen Gestalt an

Und vollendet und schloß tröstend das himmlische Fest.

7.

Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter

Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.

Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten,

Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.

Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,

Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.

Traum von ihnen ist drauf das Leben. Aber das Irrsaal

Hilft, wie Schlummer und stark machet die Noth und die
Nacht,

Biß daß Helden genug in der ehernen Wiege gewachsen,

Herzen an Kraft, wie sonst, ähnlich den Himmlischen sind.

Donnernd kommen sie drauf. Indessen dünket mir öfters

Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn,

So zu harren und was zu thun indeß und zu sagen,

Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?

Aber sie sind, sagst du, wie des Weingotts heilige Priester,

Welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.

8.

Nemlich, als vor einiger Zeit, uns dünket sie lange,

Aufwärts stiegen sie all, welche das Leben beglükt,

Als der Vater gewandt sein Angesicht von den Menschen,

Und das Trauern mit Recht über der Erde begann,

Als erschienen zu lezt ein stiller...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2020
Reihe/Serie textura
textura
Vorwort Navid Kermani
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anthologie • Auswahl • Briefe • Hölderlin • Kermani • Literatur • Lyrik • Textauswahl • Texte • Werk • Werkschau
ISBN-10 3-406-74231-9 / 3406742319
ISBN-13 978-3-406-74231-6 / 9783406742316
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