Der Garten meiner Mutter (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
416 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-23181-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Garten meiner Mutter - Anuradha Roy
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'In meiner Kindheit war ich als der Junge bekannt, dessen Mutter mit einem Engländer durchgebrannt war', so beginnt die Geschichte von Myshkin und seiner Mutter Gayatri. Es sind die dreißiger Jahre, Indien hadert mit der britischen Kolonialherrschaft. Da kommen zwei Fremde in den kleinen Ort am Himalaya, der deutsche Maler Walter Spies und eine Tänzerin, und Gayatri, die immer Künstlerin sein wollte, ergreift ihre Chance, der traditionellen Ehe zu entfliehen. Ein großes zeitgeschichtliches Panorama und die ergreifende Geschichte einer ungewöhnlichen Frau, die für ihre Kunst und Freiheit lebt.

Anuradha Roy hat mehrere Romane verfasst und lebt in Ranikhet, einer Stadt im indischen Himalaya. Die Autorin war 2011 für den Man Asian Booker Prize und 2016 für den Man Booker Prize nominiert, wurde 2011 mit dem Economist Crossword Prize und 2016 mit dem D.S.C. Prize for South Asian Literature ausgezeichnet. Ihr Roman »Der Garten meiner Mutter« kam auf die Shortlist des International Dublin Literary Award, des JCB Fiction Prize, des Hindu Literary Prize, wurde nominiert für den Walter Scott Prize for Historical Fiction und gewann den Tata Book of the Year Award for Fiction.

2


Zum größten Abenteuer im Leben meiner Mutter kam es nur Monate, bevor sie meinen Vater heiratete, und viele ihrer Streitigkeiten endeten mit den Worten meines Vaters: »Der Ärger mit dir, Gayatri, ist, dass du allein von deinen Erinnerungen leben willst. Von vergangener Herrlichkeit.« Er stellte das in dem milden Ton fest, den er beim Streiten annahm, erst bei ihr, später auch bei mir – als wäre er der einzige Mensch mit Sinn und Verstand unter lauter von unlogischen Leidenschaften fehlgeleiteten Leuten. Mein Vater glaubte, dass Gefühle an einer kurzen Leine zu halten waren. Oder sie drohten, mit dir durchzugehen. Wenn meine Mutter verärgert schien, sagte er: »Du gewinnst nichts, wenn du die Beherrschung verlierst.«

Das freudige Abenteuer, in dessen Erinnerung meine Mutter sich flüchtete, wenn der Alltag sie überwältigte, war eine Bootsfahrt. Ihrer Erzählung nach war es im Jahr 1927, sie stand kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag und ruderte mit ihrem Vater, Agni Sen, über einen See in Bali. Sie fuhren zu einem mitten auf dem See verankerten Floß, und als sie näher kamen, konnte sie sehen, dass ein Mann darauf lag, auf dem Rücken, das Gesicht unter einem Strohhut verborgen, wie ihn Bauern auf dem Land trugen. Der Mann schob den Hut zur Seite, als er das Platschen ihrer Ruder hörte, und stand auf. Er war groß und hager, und der Wind blies ihm das goldene Haar aus dem Gesicht. Er hätte eine Galionsfigur am Bug eines Schiffes sein können. Die Ärmel seines weißen, offenen Hemds hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Seine Hose war sandfarben. Der Mann begann zu lachen, als er sie sah. »Den ganzen Weg aus Indien – und Sie wissen, wo ich mich auf Bali verstecke!« Er hielt Gayatri eine sonnengebräunte Hand entgegen und sagte: »Kommt, kommt an Bord, wo ihr schon mal hier seid.«

Der Mann war ein deutscher Künstler und Musiker namens Walter Spies, und während der nächsten paar Wochen nahm er Gayatri, ihren Vater und deren Freunde zu Tanzaufführungen und Konzerten mit, an Strände und in Malschulen. Sie saß neben ihm, jeder einzelne Nerv unter Spannung, während er ihr die Geschichten zu den Tänzen erzählte, die sie da sahen. Rama und Sita, Hanuman und Ravana waren mythologische Gestalten, die sie von zu Hause kannte. Hier waren sie anders und doch vertraut. Wie seltsam, dass die meisten Leute um sie herum dachten, das ganze Ramayana spiele auf Java und habe keine Verbindung zu Indien! Gayatri konnte nur staunen, dass die Mythen und Legenden, mit denen sie aufgewachsen war, in veränderter Form so weit von zu Hause existierten. Es war genau das, was ihr Vater ihr zeigen wollte und warum er sie auf diese Reise durch die East Indies mitgenommen hatte.

Im frühen zwanzigsten Jahrhundert war das ungewöhnlich – heute kann man kaum begreifen, wie ungewöhnlich. Es war nicht so, als reisten Inder nie ins Ausland, aber ein Vater, wie wohlhabend er auch sein mochte, der sein Geld dafür ausgab, die Begabungen seiner Tochter zu fördern, das war selten. An Töchtern interessierten allein die Talente, die als Köder wirkten, um einen Mann einzufangen. Aber Agni Sen stand den Dingen um sich herum skeptisch gegenüber, sah den Unterschied zwischen Talenten und Begabungen, und in seiner Tochter hatte er einen Funken erkannt, der ganze Städte erleuchten konnte, wenn er genährt wurde. Er stellte Lehrer für Gayatri ein, sie sollte Sprachen und Malerei lernen, aber auch Tanz und klassische Musik, und das in einer Zeit, in der Frauen sangen und tanzten, um reiche Männer zu unterhalten, und dafür verlacht wurden. Er nahm sie mit in musikalische Salons und die Ateliers von Künstlern. Zu den historischen Stätten Delhis, dann weiter weg.

Vor einer dieser Stätten, als Gayatri auf einem Steinblock saß und eine Kuppel und den Eingang skizzierte, brach ein Schwarm grauer Tauben aus einem Fenster hervor, das einzige Lebenszeichen in diesem verfallenen Palast aus dem elften Jahrhundert. Die Szene rief in ihrem Vater die gewohnten Gedanken über Vergänglichkeit und Verfall hervor, den Aufstieg und Niedergang von Imperien, aber er erklärte Gayatri auch, wenn sie zurückdenke an die Terrakotta-Figuren, die man im Tal des Indus gefunden hatte, an die Wandbilder, die Juwelen gleich in Felshöhlen leuchteten, die in der Erde versunkenen Stupas und unter Wasser liegenden Tempel, und dann wieder diese Gräber und verfallenen Paläste betrachte, wo Banyanbäume aus den Rissen sprossen, könne sie sehen, dass Macht, Tyrannei und Grausamkeit dieser Zivilisationen nicht überlebt hatten, die Herrscher waren gefallen, und ihre Höflinge lagen in parallelen Reihen schmaler Marmorsärge neben ihrem König, auch ihre Katzen und Frauen, allein die damals geschaffene Schönheit habe überdauert. Die filigranen Fenster, die Kalligrafie auf Stein, die Vollkommenheit der Kuppel, die sie auf Papier zu bannen suche. Die Schöpfer dieser Dinge, die Steinmetze, Bildhauer, Maler, denen keine Rolle in den großen Machtspielen zukam, deren Geist für untergeordnet gehalten wurde, deren Meinungen keinerlei Einfluss hatten und deren Besitztümer nichts zählten: Ihre Werke blieben, nachdem alles andere verschwunden war. Wenn die Welt in Aufruhr geriet und Zerstörung unvermeidbar schien, war Kunst keine Schwäche mehr, sondern ein Refugium, und ihre Fragmente blieben, nachdem sich der Kreis aus Aufstieg, Fall und Zerstörung geschlossen und einen neuen Anfang genommen hatte.

Macht zerfällt, Menschen sterben, doch die Schönheit besiegt die Zeit, erklärte er ihr auf die Weise, in der ältere Männer ihre Weisheit mit den Jungen teilen.

Gayatri hörte zu, und die ganze Zeit über wanderte ihr Stift in schnellen Linien über die Seite ihres offenen Skizzenbuchs. Die Kuppel nahm Gestalt an, dann der Bogen darunter. Eine Taube flog mit drei schnellen Strichen auf. Sie reisten von Agra zur Totenstadt Fatehpur Sikri, dann nach Jaipur. Sie ritt auf einem Elefanten, klammerte sich an den sich wiegenden Rücken eines dahinschreitenden Kamels, und sein Geruch ließ sie würgen. Sie zeichnete das Kamel.

Als sie älter war, fuhr Agni Sen weiter mit ihr fort, nach Santiniketan, um die gleiche Luft wie Rabindranath Tagore und seine Schüler zu atmen. Auf dieser Reise erzählte ihm ein Freund, der den Dichter gut kannte, Rabindranath plane für das nächste Jahr eine Reise nach Java. Das Wissen setzte sich in Agni Sens Gedanken fest, keimte und ließ ihn nicht wieder los: Warum nicht mit Gayatri auch dorthin fahren, mit demselben Schiff wie der Dichter? Welch bessere Chance gab es für sie, Rabindranath kennenzulernen, mit ihm zu sprechen und von ihm zu lernen, als die Enge eines Schiffes? Wer wusste, wohin das für Gayatri führen mochte? Der Dichter sollte mit einer Gruppe Freunde reisen, einschließlich Dhiren, der Agni Sen von dem Plan erzählt hatte. Briefe flogen hin und her, Zugfahrkarten und Kajüten auf Schiffen und Dampfern wurden gebucht, Pässe waren vorzulegen, und am Ende einer komplizierten Planung unterrichtete Gayatris Vater, erschöpft und triumphierend, Tochter und Familie von der Reise. Er würde mit Gayatri nach Angkor Wat, Borobudur und zu anderen Tempeln Javas fahren und ihr zeigen, dass es ein gemeinsames kulturelles Erbe Asiens gab, das von der Kolonisation nicht geschluckt worden war.

Die Reise nach Java und Bali sollte am 12. Juli 1927 mit einer Passage von Madras nach Singapur beginnen. Gayatri und ihr Vater würden auf demselben Schiff wie der Dichter und seine Freunde fahren und nach den gemeinsamen Tagen während der Überfahrt und einer Woche in Singapur allein nach Kambodscha weiterreisen, aber rechtzeitig in Bali ankommen, um dort aufs Neue mit Tagore und seiner Begleitung zusammenzutreffen. War das nicht zu viel angesichts von Agni Sens Alter und seinen Herzproblemen?, hatte sich Gayatris Mutter gesorgt. Was für ein gefährlicher, überspannter, teurer Plan! Ihre Einwände wurden abgetan.

Sie standen an der Reling, als Rabindranath an Bord kam, erschöpft von seiner dreitägigen Reise von Kalkutta nach Madras. Er kam mit Freunden, gebildeten, herausragenden Männern, die einen Kreis um ihn formten, um ihn vor lästiger Bewunderung zu schützen. Agni Sen musste sich mit der kürzestmöglichen Vorstellung begnügen, während Gayatri den großen Dichter nur aus der Entfernung sah, niemand durfte ihm nahe kommen. Das hatte Agni Sen nicht erwartet. Dhirens besitzergreifender Eifer verletzte ihn, und er zog sich hinter ein Buch zurück.

Später fanden sie heraus, dass dem Dichter, der mit drei Tagen kontemplativer Einsamkeit gerechnet hatte, während draußen vor dem Zugfenster die Landschaft Indiens an ihm vorbeizog, nichts in der Art vergönnt gewesen war. In Kharagpur, dem ersten Halt nach Kalkutta, war eine Gruppe Schuljungen in sein Abteil geklettert und hatte ihm eine kunterbunte Sammlung Notizbücher entgegengestreckt: Schulhefte, zu Hause zusammengefügte Blätterbündel. Sie wollten Autogramme, und einer bettelte Rabindranath an, ihnen ein neues Gedicht zu schreiben, bevor sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Auf dem Weg nach Süden hielten sie etwa stündlich an, und immer war der Bahnsteig übervoll mit Menschen, die gehört hatten, dass er in diesem Zug sitze. An einer der Stationen stieg ein alter Mann zu ihm ein, legte die Hände zu einem Namaste zusammen und begann eine Rede in einer Sprache, die wie Telugu klang, beendete sie, verbeugte sich tief und ging wieder. An einer anderen trat ein Mann aus der Menge ans Fenster des Dichters, hielt ein Messingtablett mit einer Zitrone, Weihrauch und Blumen in die Höhe, entzündete den Weihrauch, ließ ihn über Rabindranath wehen und verschwand ohne ein weiteres Wort wieder in der Menge. Ein Bittsteller flehte ihn an und überzog ihn mit einer Predigt, über Nacht zu bleiben, um im Godavari zu...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2020
Übersetzer Werner Löcher-Lawrence
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel All The Lives We Never Lived
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Britische Kolonialherrschaft • eBooks • Frau und Mutter • Freiheit • Gärtner • Himalaya • Historische Romane • Indien • Kunst • Malerei • Rabindranath Tagore • Roman • Romane • Tradition • Unabhängigkeit • Walter Spies
ISBN-10 3-641-23181-7 / 3641231817
ISBN-13 978-3-641-23181-1 / 9783641231811
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