Die Leiche (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
256 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-26353-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Leiche - Stephen King
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»Liebe ist nicht, was diese Arschlöcher von Poeten einen glauben machen wollen. Die Liebe hat Zähne; sie beißen; die Wunden schließen sich nie.«

Die vier besten Freunde Gordon, Chris, Teddy und Vern aus Castle Rock hören von der Leiche eines gleichaltrigen Jungen, die in der Gegend an den Bahngleisen liegen soll. Sie wagen sich auf einer abenteuerlichen Suche tief in die Wälder Maines, wo sie bei Sonnenschein und Blitz und Donner mehr über die Liebe, den Tod und die eigene Sterblichkeit erfahren, als ihnen lieb ist.

»Herbst«-Geschichte aus dem Erzählband »Frühling, Sommer, Herbst und Tod«.

Großartig verfilmt unter dem Titel »Stand By Me« mit Kiefer Sutherland und River Phoenix.

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.

Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.

2


Wir hatten ein Baumhaus in einer großen Ulme, die auf einem unbebauten Grundstück in Castle Rock stand. Heute befindet sich dort eine Spedition, und die Ulme ist verschwunden. Der Fortschritt halt. Es war eine Art geselliger Club, auch wenn er keinen Namen hatte. Fünf, vielleicht sechs Jungs kamen ständig, und ein paar Versager hingen gelegentlich auch dort herum. Wir ließen sie rauf, wenn wir Karten spielten und frisches Blut brauchten. Gewöhnlich spielten wir Blackjack, und es ging um Cents, fünf Cent waren die Obergrenze. Bei fünf blind gekauften Karten gab es doppeltes Geld … bei sechs dreifaches, aber Teddy war als Einziger so verrückt, sich darauf einzulassen.

Die Wände bestanden aus Brettern, die wir aus dem Abfallhaufen hinter Mackeys Holzhandlung und Baubedarf in der Carbine Road geholt hatten – sie waren voller Splitter und Astlöcher, in die wir Toilettenpapier oder Papierhandtücher stopften. Als Dach diente ein großes Stück Wellblech von der Mülldeponie. Wir mussten beim Wegschleppen ziemlich auf der Hut sein, der Aufseher galt nämlich als kinderfressendes Ungeheuer. Am selben Tag fanden wir dort auch eine Verandatür. Der Fliegendraht hielt zwar die Fliegen ab, aber er war wirklich verrostet – extrem verrostet. Ganz gleich, um welche Tageszeit man nach draußen sah, man dachte immer, es sei gerade Sonnenuntergang.

Im Club konnte man außer Karten spielen auch rauchen oder Hefte mit nackten Weibern angucken. Wir hatten ein halbes Dutzend zerbeulte Blechaschenbecher, auf denen unten CAMEL stand, zwanzig oder dreißig Kartenspiele mit Eselsohren, einen Satz Pokerchips aus Plastik und einen Haufen alte Master-Detective-Mord­geschichten, die wir durchblätterten, wenn sonst nichts lief. Die Kartenspiele hatte Teddy von seinem Onkel bekommen, der das Papierwarengeschäft von Castle Rock betrieb. Als Teddys Onkel ihn fragte, welche Kartenspiele wir spielten, sagte Teddy, wir hätten öfter Cribbage-Turniere, und das fand der Onkel gut. Wir bauten auch ein schuhkartongroßes Geheimfach in den Fußboden ein, um die Sachen verstecken zu können, falls irgendein Vater auf den Gedanken kam, uns mit der Wir-sind-doch-Kumpels-Masche zu beglücken. Wenn es regnete, hockte man im Club wie in einem Stahlfass aus Jamaika … aber in jenem Sommer hatte es keinen Regen gegeben.

Es war der trockenste und heißeste seit 1907 gewesen – das schrieben wenigstens die Zeitungen, und an dem Freitag vor dem Labor Day und dem Schuljahresbeginn sahen selbst die Goldrauten auf den Feldern und an den Gräben neben den Wegen vertrocknet und armselig aus. In keinem Garten war etwas Rechtes gewachsen, und die Einmachutensilien im Castle Rock Red & White standen immer noch in den Regalen und setzten Staub an. Niemand hatte etwas einzumachen, außer vielleicht Löwenzahnwein.

Teddy und Chris und ich saßen oben im Club und ärgerten uns gemeinsam darüber, dass die Schule schon so bald wieder anfangen sollte. Wir spielten Karten und erzählten uns die alten Handelsvertreter- und Franzosenwitze. Woran erkennst du, dass ein Franzose auf deinem Hof war? Ganz einfach: Der Abfalleimer ist leer und der Hund schwanger. Teddy gab sich dann immer gekränkt, war aber der Erste, der den Witz weitererzählte. Allerdings verwandelten sich Franzosenwitze dabei immer in Polackenwitze.

Die Ulme bot zwar Schatten, aber wir hatten uns trotzdem die Hemden ausgezogen, um sie nicht zu sehr durchzuschwitzen. Wir spielten Einunddreißig, das langweiligste Kartenspiel, das je erfunden wurde, aber es war zu heiß, an etwas Komplizierteres zu denken. Bis Mitte August hatten wir eine recht gute Baseballmannschaft gehabt, aber dann blieben immer mehr Jungs weg. Es war zu heiß.

Ich war an der Reihe und versuchte es mit Pik. Ich hatte mit dreizehn angefangen und eine Acht bekommen, sodass ich einundzwanzig hatte. Seitdem hatte sich nichts mehr getan. Chris winkte ab. Ich nahm meine letzte Karte, aber es war nichts Brauchbares.

»Neunundzwanzig«, sagte Chris und legte Karo hin.

»Zweiundzwanzig«, sagte Teddy angewidert.

»Leckt mich am Arsch«, sagte ich und warf meine Karten verdeckt auf den Tisch.

»Gordie ist tot, der alte Gordie hat voll in die Scheiße gegriffen«, trompetete Teddy und ließ sein patentiertes Teddy-Duchamp-Gelächter hören – iiii-iii-iii –, als ob ein rostiger Nagel ganz langsam aus einem verfaulten Brett gezogen würde. Na ja, er war halt ein bisschen komisch; das wussten wir alle. Er war fast dreizehn, wie wir anderen auch, aber seine dicken Brillengläser und das Hörgerät, das er trug, ließen ihn oft wie einen alten Mann aussehen. Die Jungs auf der Straße bettelten ihn oft um Zigaretten an, aber die Ausbuchtung in seinem Hemd war nur die Batterie für sein Hörgerät.

Trotz der Brille und dem fleischfarbenen Knopf, den er sich immer ins Ohr schrauben musste, konnte Teddy nicht gut sehen und verstand oft nicht, was man ihm sagte. Im Baseball musste er ganz außen spielen, weit hinter Chris im linken Feld und Billy Greer im rechten. Wir hofften immer, dass niemand so weit schlagen würde, weil Teddy einem Ball immer verbissen nachjagte, ganz gleich, ob er etwas sehen konnte oder nicht. Hin und wieder wurde er voll getroffen, und einmal kippte er voll aus den Latschen, weil er gegen den Zaun am Baumhaus gerannt war. Fast fünf Minuten lang hat er auf dem Rücken gelegen. In seinen Augen war nur das Weiße zu sehen, und ich bekam es mit der Angst. Doch dann kam er wieder zu sich und rappelte sich mit blutender Nase und einer riesigen Beule an der Stirn auf und schwor, der Ball sei ungültig gewesen.

Er konnte von Natur aus schlecht sehen, aber was mit seinen Ohren passiert war, hatte mit Natur nichts zu tun. Damals, als es Mode war, sich das Haar so schneiden zu lassen, dass die Ohren wie Topfhenkel vom Kopf abstanden, hatte Teddy den ersten Beatlehaarschnitt in ganz Castle Rock – vier Jahre bevor in Amerika überhaupt jemand was von den Beatles gehört hatte. Er hielt die Ohren bedeckt, weil sie wie zwei Klumpen heißes Wachs aussahen.

Eines Tages – Teddy war acht – wurde sein Vater wütend, weil Teddy einen Teller zerbrochen hatte. Seine Mutter arbeitete damals in der Schuhfabrik in South Paris, und als sie es erfuhr, war alles schon passiert.

Teddys Vater schleppte ihn zu dem großen Holzofen hinten in der Küche und drückte ihn mit dem Ohr auf eine der heißen Kochplatten. So hielt er ihn etwa zehn Sekunden fest. Dann riss er ihn an den Haaren hoch und schmorte die andere Seite. Anschließend rief er das Unfallkrankenhaus an und bat die Leute, seinen Jungen abzuholen. Nachdem er aufgelegt hatte, ging er an den Schrank, nahm seine .410er heraus und setzte sich vor das Fernsehgerät, um sich mit der Flinte auf dem Schoß das Programm anzusehen. Als Mrs. Burroughs von nebenan rüberkam, um zu fragen, ob Teddy auch nichts passiert sei – sie hatte das Schreien gehört –, richtete Teddys Dad die Waffe auf sie, und Mrs. Burroughs verließ mit annähernd Lichtgeschwindigkeit das duchampsche Heim, schloss sich zu Hause ein und rief die Polizei an. Als der Krankenwagen kam, ließ Mr. Duchamp die Leute ein und ging dann nach hinten auf die Veranda, um Wache zu schieben, während Teddy auf einer Trage zu dem alten Buick-Krankenwagen mit den Bullaugen geschafft wurde.

Teddys Dad erklärte den Leuten, die verdammten Generäle hätten zwar gesagt, dass der Abschnitt gesäubert sei, aber überall lauerten noch deutsche Heckenschützen. Einer der Männer fragte Teddys Dad, ob er glaube, die Stellung noch eine Weile halten zu können. Teddys Dad lächelte knapp und sagte, er werde die Stellung halten, bis die Hölle ein Kühlhaus sei, wenn das nötig sein sollte. Die Männer grüßten militärisch, und Teddys Dad erwiderte zackig den Gruß. Ein paar Minuten nachdem der Krankenwagen abgefahren war, erschien die State Police und erlöste Norman Duchamp von seinem Posten.

Er hatte sich schon seit über einem Jahr seltsam verhalten. Er hatte auf Katzen geschossen und Feuer in Briefkästen gelegt. Nach der an seinem Sohn verübten Scheußlichkeit gab es eine kurze Anhörung, worauf er nach Togus gebracht wurde. Togus ist ein Ort für Leute, die dem Dienst nicht mehr gewachsen sind. Teddys Dad hatte den Strand in der Normandie erstürmt, wie Teddy sich immer ausdrückte. Obwohl der Alte ihm so Entsetzliches angetan hatte, war Teddy stolz auf ihn, und einmal in der Woche besuchte er ihn zusammen mit seiner Mutter.

Er war von unserer ganzen Bande irgendwie der Dümmste, und außerdem war er verrückt. Er riskierte die verrücktesten Dinge, die man sich vorstellen konnte, aber es ging trotzdem immer glimpflich ab. Sein größtes Ding nannte er »Truckerfoppen«. Er rannte auf der 196 vor den Lastwagen her und sprang erst im allerletzten Moment zur Seite. Manchmal verfehlten sie ihn nur um Zentimeter. Gott weiß, wie viele Herzanfälle er verursacht hat. Wenn der Fahrtwind des vorbeirauschenden Lastwagens an seiner Kleidung zerrte, dann lachte er. Wir hatten nackte Angst, weil er so schlecht sehen konnte, Flaschenbodenbrille hin oder her. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er die Geschwindigkeit eines der Wagen falsch einschätzte. Und man musste sehr vorsichtig sein, wenn man ihn zu irgendetwas herausfordern wollte; wenn er herausgefordert wurde, tat Teddy nämlich praktisch alles.

»Gordie ist tot, iiii-iii-iii!«

»Idiot«, sagte ich und nahm eines der Master-Detective-Hefte zur Hand, während die beiden das Spiel zu Ende spielten, und las: Er trampelte die hübsche Schülerin in einem stecken gebliebenen Fahrstuhl zu Tode.

Teddy nahm seine Karten auf, betrachtete sie kurz und sagte: »Ich hab genug.«

»Du vieräugiger Scheißhaufen!«, schrie Chris.

»Der...

Erscheint lt. Verlag 11.5.2020
Übersetzer Harro Christensen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Frühling, Sommer, Herbst und Tod • Horror • New York Times Bestseller • spiegel bestseller • Suspense • Verfilmung "Stand By Me"
ISBN-10 3-641-26353-0 / 3641263530
ISBN-13 978-3-641-26353-9 / 9783641263539
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