Jenseits der Erwartungen (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
432 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8494-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jenseits der Erwartungen -  Richard Russo
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An einem Spätsommertag auf Martha's Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen - um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium zu Vietnamkriegszeiten sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt: Jacy Calloway. Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen - oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich liebte. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert? Richard Russo erzählt von drei Menschen, die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Wie nebenbei ergibt sich daraus das Porträt eines Landes, das sich selbst nicht mehr ganz versteht. Mit >Jenseits der Erwartungen< zeigt Russo seine ganze Könnerschaft - als großer Erzähler und als Menschenkenner.

Richard Russo, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für >Diese gottverdammten Träume< (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem >Diese alte Sehnsucht< (2010), >Ein grundzufriedener Mann< und >Ein Mann der Tat< (beide 2017) sowie der Erzählband >Immergleiche Wege< (2018).

Richard Russo, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem ›Diese alte Sehnsucht‹ (2010), ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ (beide 2017) sowie der Erzählband ›Immergleiche Wege‹ (2018).

Prolog

Die drei alten Freunde kamen in umgekehrter Reihenfolge auf der Insel an – der, der am weitesten weg wohnte, zuerst, der am nächsten Wohnende zuletzt: Lincoln, ein Immobilienmakler, aus Las Vegas, war also praktisch einmal quer durchs ganze Land gereist; Teddy, ein Kleinverleger, aus Syracuse; Mickey, ein Musiker und Toningenieur, aus dem nahe gelegenen Cape Cod. Alle waren sechsundsechzig und hatten gleichzeitig ein humanistisch ausgerichtetes College in Connecticut besucht, wo sie im Haus der Studentinnenverbindung Theta in der Küche oder im Service gearbeitet hatten. Die anderen Aushilfen, die meisten von ihnen Mitglieder anderer Verbindungen, behaupteten, diesen Job aus freien Stücken auszuüben, weil es nirgendwo sonst so viele heiße Mädchen gebe wie im Theta House. Lincoln, Teddy und Mickey indes schlugen sich mit einem Stipendium durch und mussten aus mehr oder weniger drängenden finanziellen Gründen nebenbei arbeiten. Lincoln, genauso gut aussehend wie die Verbindungsjungs, wurde sofort als »Frontmann« eingesetzt, was hieß, dass er in einer weißen hüftlangen Kellnerjacke die Verbindungsstudentinnen im großen Speisesaal des Theta House bedienen durfte. Teddy, der bereits während seiner letzten Highschool-Jahre in einem Restaurant gejobbt hatte, wurde Kochgehilfe und durfte Salate vorbereiten, Soßen anrühren und die Vorspeisen und Desserts auf Tellern anrichten. Und Mickey? Die, die ihn einstellten, taxierten ihn nur kurz und beförderten ihn dann zur Spüle hinüber, wo sich ein riesiger Berg schmutziger Töpfe neben einem Karton Scheuerspiralen stapelte. So viel zu ihrem ersten Studienjahr. In ihrem vierten Jahr war Lincoln zum Chefkellner avanciert und konnte seinen beiden Freunden einen Job im Speisesaal anbieten. Teddy, der die Nase von der Küche voll hatte, nahm ohne zu zögern an, während Mickey bezweifelte, dass es eine Kellnerjacke gab, in die er hineingepasst hätte. Er wollte lieber Küchensklave bleiben, als draußen im Frontbereich den hübschen Mädchen schöne Augen zu machen, weil er in der »Kombüse«, wie er es nannte, schalten und walten konnte, wie er wollte.

Mittlerweile waren vierzig Jahre vergangen, und alle drei wussten, was sie dem Minerva College zu verdanken hatten: Die Kurse waren klein gewesen, ihre Professoren kompetent und den Studenten zugeneigt. Auf den ersten Blick mochte es wie ein x-beliebiges College der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre wirken. Die Jungs trugen lange Haare, ausgeblichene Jeans und T-Shirts mit psychedelischen Aufdrucken. In den Zimmern rauchte man Gras und überdeckte den Qualm mit Räucherstäbchen, während man den Doors und Buffalo Springfield lauschte. Doch das waren bloß äußerliche Statements. Für die meisten Studenten war der Krieg weit weg, etwas, was in Südostasien geschah und in Berkeley und im Fernsehen diskutiert wurde, aber nichts mit ihrem Leben an der Küste Connecticuts zu tun hatte. Die Verfasser der Leitartikel des Minerva Echo beklagten in schöner Regelmäßigkeit das Fehlen eines wirklichen politischen Engagements. »›Nothin’s happenin’ here‹ –, schrieb einer und nahm damit Buffalo Springfields berühmten Song auf die Schippe. ›Why that is ain’t exactly clear‹.«

An keinem anderen Ort auf dem Campus waren die Studenten weniger aufrührerisch als im Theta House. Ein paar Mädchen rauchten Gras und trugen keinen BH, aber abgesehen davon lebten sie wie auf einer abgeschiedenen Insel. Und doch offenbarte sich den Studenten die Realität hier weitaus mehr als in ihren Kursen. Die Unterschiede zu ihrer eigenen Welt mussten selbst Neunzehnjährigen wie Lincoln und Teddy und Mickey ins Auge fallen. Die Autos auf dem Parkplatz hinter dem Theta House waren nicht nur nobler als die auf dem regulären Studentenparkplatz, sondern auch als jene in dem Bereich, wo die Dozenten parkten. Noch merkwürdiger war, jedenfalls für die jungen Männer, die nicht aus wohlhabenden Familien kamen, dass sich die Besitzerinnen der Wagen auf dem Theta-Parkplatz nicht besonders glücklich zu schätzen schienen, am Minerva zu studieren, ja nicht einmal, dass sie Eltern hatten, die sich die atemberaubenden Studiengebühren an diesem College leisten konnten. Dort, wo sie herkamen, war das Minerva zumindest die logische Folge der ersten achtzehn Jahre ihres Lebens. Für viele war es sogar eher eine Art Notnagel, und sie brachten ihr erstes Studienjahr damit zu, ihre Enttäuschung darüber zu verarbeiten, es nicht auf die Wesleyan University, aufs Williams College oder eine der Ivy-League-Universitäten geschafft zu haben. Zwar wussten sie, dass man einen extrem guten Notendurchschnitt vorweisen und auch bei dem standardisierten Hochschulzulassungstest hervorragend abschneiden musste, um an einer dieser elitären Institutionen zugelassen zu werden, und doch waren sie es gewohnt, dass bei so etwas auch andere Faktoren entscheidend sein konnten, Dinge, über die man weder reden noch sie quantifizieren konnte, die einem aber dennoch auf magische Weise die Türen öffneten. Wie auch immer, das Minerva war auch nicht schlecht. Wenigstens hatten sie es in die Theta-Verbindung geschafft, das war in ihren Augen das Wichtigste. Andernfalls hätten sie ebenso gut auf die staatliche University of Connecticut gehen können.

Am 1. Dezember 1969, dem Abend, als die erste von zwei Vietnam-Einberufungslotterien abgehalten wurde, überredete Lincoln die Restaurantleiterin des Verbindungshauses, dass die Kellner an diesem Abend das Essen eine halbe Stunde früher als sonst servieren durften, damit sie sich danach alle pünktlich vor dem winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher in dem hinteren Zimmer versammeln konnten, wo sie ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Obgleich hier per Los über ihr Schicksal entschieden wurde, war die Stimmung merkwürdig heiter, jedenfalls zu Beginn. Von den Geburtstagen der acht Aushilfen wurde der von Mickey zuerst gezogen, die neunte von 366 Möglichkeiten, sodass die anderen im Chor »O Canada« anstimmten, was vielleicht mehr Wirkung gezeigt hätte, wenn sie nicht nur die ersten beiden Worte der kanadischen Nationalhymne gekannt hätten. Von den Geburtstagen der drei Freunde kam Lincolns mit der Losnummer 189 als Nächstes dran; besser – weil die Wahrscheinlichkeit, dass man mit dieser hohen Nummer noch eingezogen wurde, eher gering war –, aber dennoch nicht sicher genug und unmöglich, damit zu planen.

Während die Lotterie weiterging, ein unaufhörlicher Trommelwirbel aus Geburtstagen – 1. April, 23. September, 21. September –, verdüsterte sich die Stimmung im Raum zusehends. Früher am Abend, als sie den Mädchen das Essen servierten, hatten alle noch im selben Boot gesessen, aber jetzt machten ihre Geburtstage sie zu Individuen, Menschen mit ganz eigenen Schicksalen, und nach und nach zerstreuten sie sich, gingen zurück in ihre Zimmer oder Wohnungen, wo sie ihre Eltern und Freundinnen anriefen, um mit ihnen die Tatsache zu erörtern, dass ihr Leben soeben eine andere Wendung genommen hatte, bei den einen zum Besseren, bei den anderen zum Schlechteren, wobei ihre Noten und Zulassungstestergebnisse und Beliebtheit mit einem Mal unwichtig geworden waren. Bis endlich Teddys Geburtstag drankam, waren er, Lincoln und Mickey die Einzigen, die noch im Aufenthaltsraum saßen. Ein vehementer Pazifist, hatte Teddy seinen Freunden ein paar Stunden zuvor eröffnet, er werde lieber nach Kanada oder ins Gefängnis gehen, als sich einziehen zu lassen, deshalb sei für ihn die Lotterie bedeutungslos. Wobei das natürlich nicht ganz stimmte. Im Grunde wollte er nicht nach Kanada und war sich nicht sicher, ob er, wenn es hart auf hart käme, tatsächlich den Mut aufbrächte, für seine Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. Von derlei Erwägungen abgelenkt, war er, als nur noch circa zwanzig Geburtstage nicht gezogen worden waren, überzeugt, dass seiner schon vorgelesen worden war, ohne dass er es mitbekommen hatte, vielleicht als sie die Fernsehantenne justiert hatten. Doch dann kam er plötzlich, an 322. Stelle. Von 366. Er war noch einmal davongekommen. Als er die Hand ausstreckte, um den Fernseher auszumachen, bemerkte er, dass er zitterte.

Es gab ungefähr ein Dutzend Theta-Studentinnen, die sie als ihre Freunde betrachteten, aber nur Jacy Calloway, in die alle drei verliebt waren, wartete vor dem Hintereingang des Verbindungshauses, als sie endlich in die kalte Nacht hinaustraten. Sobald Mickey ihr gesagt hatte – mit seinem typischen breiten, treudoofen Grinsen im Gesicht –, es sehe wohl so aus, dass er bald nach Südostasien aufbrechen müsse, rutschte sie von der Motorhaube, auf der sie gesessen hatte, barg ihr Gesicht an seiner Brust, drückte ihn ganz fest und sagte in sein Hemd hinein: »Diese verdammten Arschlöcher.« Lincoln und Teddy, die mehr Glück gehabt hatten an diesem Abend, wären plötzlich gern an seiner Stelle gewesen und brachten es tatsächlich fertig, ausgesprochen eifersüchtig zu werden, als sie das Mädchen ihrer kollektiven Träume in Mickeys Armen sahen, die unangenehme Tatsache mal beiseitegelassen, dass Jacy ohnehin bereits mit einem anderen verlobt war. Als würde Mickeys Glück dieses flüchtigen Moments irgendwie mehr wiegen als der Umstand, dass er vor einer Stunde den Kürzeren gezogen hatte. Als sein Geburtstag verkündet worden war, war in Lincoln und Teddy das gleiche widerliche Gefühl aufgestiegen wie zwei Jahre zuvor, als die Verantwortlichen im Restaurant Mickey nur kurz angeschaut und ihm direkt den beschissensten Job im Theta House zugewiesen hatten. Wenn er sich bald zum Dienst melden würde, würden sie ihn ebenfalls rasch mustern und dann schnurstracks an die Front schicken, eine Zielscheibe, die...

Erscheint lt. Verlag 19.5.2020
Übersetzer Monika Köpfer
Sprache deutsch
Original-Titel Chances are …
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Altern • amerikanischer Roman • Chances are • Collegeroman • cover mit frau • cover mit meer • der neue russo • Die großen Fragen des Lebens • Diese alte Sehnsucht • Diese gottverdammten Träume • Ein grundzufriedener Mann • Ein Mann der Tat • Freundschaft • Liebe • martha's vineyard • New-York-Times-Bestseller • Vietnam • Vietnamkrieg
ISBN-10 3-8321-8494-5 / 3832184945
ISBN-13 978-3-8321-8494-0 / 9783832184940
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