Vom Land (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
176 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-05990-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Land - Dominik Barta
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'Dieser Text durchbricht die Kälte unserer Zeit und legt offen, was wir in unserem Innersten sind.' (Katja Gasser, ORF) Das starke, gesellschaftlich relevante Debüt von Dominik Barta
Dass Theresa, um die sechzig und Bäuerin, sich plötzlich krank fühlt, bringt alle Gewissheiten ins Wanken. Die erwachsenen Kinder müssen anreisen, von wo auch immer es sie hin verschlagen hat, um endlich wieder miteinander zu reden. Theresas Mann muss lernen, Hilfe und Gefühle zu akzeptieren. Und selbst der zwölfjährige Daniel muss seinem verbohrten Onkel Max entschlossen entgegentreten, um seinen einzigen wirklichen Freund zu schützen. Theresa aber schweigt, findet keine Worte, keinen Weg.
Mit großer Präzision und archaischer Kraft und Empathie erzählt Dominik Barta in seinem Debütroman von den Menschen und den Umständen. Er schreibt eine große Tradition der österreichischen Literatur fort und geht dorthin, wo die Provinz heute politisch ist.

Dominik Barta, geboren 1982 in Oberösterreich, studierte in Wien, Bonn und Florenz. Er gewann 2009 den ZEIT-Essaywettbewerb und 2017 einen Ö1-Literaturwettbewerb und schreibt auch fürs Theater. 2020 erschien sein Debütroman Vom Land.

„Dieser Text durchbricht die Kälte unserer Zeit und legt offen, was wir in unserem Innersten sind: vom Leben, in das wir ungefragt geworfen wurden, zutiefst versehrte Wesen.“ Katja Gasser, ORF

1


Theresa rang nach Luft. Es ging nicht mehr. Sie richtete sich auf und zog das Tuch vom Kopf. Die Stirn glänzte. Eine Strähne blieb an der Haut kleben. Sie hantelte sich am Holz entlang nach draußen, wo alles im Dunkeln lag. Nur ganz im Westen hielt sich ein heller Streifen. Theresa überquerte den matschigen Rasen. Den Rücken gekrümmt, presste sie die Hände gegen die Brust. Ehe sie die Waschküche erreichte, erbrach sie sich auf einen Wacholderstrauch. Spucke und Schleim verließen ihre Mundhöhle. Der Körper faltete sich immer weiter zusammen. Dem Bewegungsmelder blieb kein Zucken verborgen. Das dampfende Gesicht wurde von vier Seiten elektrisch ausgeleuchtet. Ohne sich aufzurichten oder die verkrampfte Körperhaltung aufzugeben, griff sie nach der Türschnalle. Mit Mühe zog sie die Füße aus den Gummistiefeln. Sie öffnete die Tür und sackte auf den Sessel nieder.

Nach einem Moment des Atemfindens streifte Theresa den Anzug vom Körper. Sie schälte sich aus dem Blaugewand und stieg aus den Hosenbeinen. Sie knöpfte das zerschlissene Hemd auf und ließ es auf den Sessel fallen. Schweiß sammelte sich in kleinen Tropfen über dem Brustbein. Die dunklen Vorhöfe der Brustwarzen leuchteten aus dem weißen BH. Mit zittrigen Beinen wusch sie sich am Waschbecken Hände, Arme und Gesicht. Der Geruch der Seife und das warme Wasser milderten den scharfen Geruch, der an der Stallkleidung und an den unbedeckt gebliebenen Körperpartien haftete. Theresa gelang es nicht, sich aufzurichten. Ihr körperliches Zentrum schien einem aufrechten Gang mit Kraft entgegenzuwirken. Sie hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Nach einer Minute des Wartens stieß sie sich ab und griff nach ihrer Alltagskleidung.

Das Geschrei der Tiere wurde laut. Die Stalltür rollte mit Schwung in die Verankerung. In den Hof fiel Licht. Theresa griff nach dem Hemd. Sie hörte die Schritte ihres Mannes.

Bevor sie die Bluse bis zum Brustbereich zugeknöpft hatte, stand Erwin in der Waschküche: »Was ist mit dir? Hast du dich wieder übergeben?« Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Gummistiefel auszuziehen. Er trug Stroh, Dung und Erdreich herein. Auf den weißen Fliesen zeichnete sich das Muster seiner Sohlen ab.

»Ja!«, sagte Theresa und bemühte sich, im Stehen in die Jeans zu schlüpfen. Ihr schwindelte. Erwin trat auf sie zu. Sie griff nach seinem Oberarm, um sich abzustützen.

Erwin hob ihre Arbeitshose vom Boden auf. »So kann es nicht weitergehen …«

Theresa legte sich die Handflächen auf den Bauch. Erwin ging in den Stall zurück.

In der Küche wusch sich Theresa ein zweites Mal die Hände. Die kurze Berührung von Erwins Mantel hatte gereicht, um den Stallgeruch erneut auf ihre Haut zu übertragen. Sie gurgelte lauwarmes Wasser und spülte den bitteren Geschmack aus dem Mund. Der Durst ließ sich nicht mehr ignorieren. Doch im Inneren des Bauches lauerte die Übelkeit und bestrafte jede Veränderung. Vier, fünf Schluck Wasser, schon stieg Galle zum Gaumenzäpfchen hoch. Sie holte Luft und wartete. Der akute Brechreiz legte sich. Theresa ging gebeugt ins Wohnzimmer. Im Kamin glühten Buchenscheiter. Noch bevor er in den Stall gegangen war, hatte Erwin nachgelegt. Theresa kroch auf das Sofa und drehte ihren Bauch der Kaminwand zu. Sie zog die Knie zu den Ellbogen hoch und gab sich der Erschöpfung hin.

Das Dorf lag in einem Tal, das die Pielitz in Millionen von Jahren durch die Hügel gefräst hatte. Am Südhang gediehen Äpfel, Birnen, Nüsse und Zwetschken. Am Nordhang stand Wald. Kleine Bächlein speisten Teiche und Fischzuchten. Weizen, Gerste und Mais wurden beiderseits des Tals auf überschaubaren Flächen angebaut. Wo die erste, steinerne Brücke über die Pielitz führte, gab es eine Kirche und ein Gemeindeamt. Neben dem Gemeindeamt stand ein alter Speicher, dessen Fundamente angeblich über einem römischen Keller errichtet worden waren. Der Speicher beherbergte ein Heimatmuseum, das von Schulklassen aus der Umgebung gerne besucht wurde. Lange Zeit gab es auch einen Bäcker, bis vor wenigen Jahren ein Supermarkt eröffnete. Die Dorfstraße war im Laufe der Jahrzehnte ständig verbreitert worden. Das höchste Gebäude war der betonierte Turm des Lagerhauses.

Obwohl die Einwohnerzahl in den letzten dreißig Jahren kaum gestiegen war, hatte sich das Siedlungsgebiet weit über die Talrücken ausgedehnt. Auf der Südseite prangten etliche Einfamilienhäuser mit ausladenden Gauben, Balkonen und Erkern. Jedes einzelne hätte einer Vielzahl von Personen Platz geboten. Meist lebten darin kleine Familien, mit einem oder zwei Kindern und einem Hund. In den Gärten gab es kompliziert bewässerte Biotope, blau bemalte Swimmingpools und aus Fichten- oder Kiefernholz gefertigte Carports. Unter den Carports parkten SUVs, Zweitautos, Rasenmäher und Motorräder.

An der Nordseite lagen bis zum Grat hinauf, wo sich der Hügel zur Nachbargemeinde hinabsenkte, mehr oder weniger massive Gehöfte. Auch sie hatte die oberösterreichische Nachkriegsordnung einer Blütezeit zugeführt. Kaum eines, das nicht an Umfang oder Ausstattung zugenommen hatte. Die teilweise aus dem 17. Jahrhundert stammenden Bauernhäuser waren erweitert oder abgerissen und neu gebaut worden. Viele hatten die Form mächtiger Vierkanthöfe angenommen. Allen waren runde Silotürme aus Beton, elektronisch gewartete Misthaufen und hallenartige Garagen vorgelagert. Mancher hatte die einst hölzernen oder aus Klinkerziegeln errichteten Außenmauern durch Glasfronten ersetzt. Einst bröckliger Putz strahlte in leuchtenden Farben. So gab es rosa Gehöfte oder Gehöfte in leuchtendem Grün oder Gelb und kaum noch jemand ließ, wie früher, Obst oder Wein an der Mauer emporwachsen.

Folgte man der Straße drei oder vier Kilometer ostwärts aus dem Tal hinaus, gelangte man auf die vierspurige Bundesstraße, die Eferding und Linz mit Wels und Passau verband. Die relative Nähe zu den größeren Städten der Region hatte dem Dorf nicht geschadet und zu seinem baulichen Wachstum beigetragen. Berufe abseits der Landwirtschaft konnten ausgeübt, ein bürgerlicher Broterwerb mit ländlichen Wohnverhältnissen kombiniert werden. Im Dorf und in den benachbarten Gemeinden gab es Schulen aller Art. So viele Kinder wie nie zuvor in der tausendjährigen Geschichte von Pielitz lernten lesen, schreiben und rechnen.

Bog man an der alten Mühle neben dem Heimatmuseum links ab, führte eine tadellos asphaltierte Straße den Hügel hinauf. Kurz durchquerte man ein Waldstück. Die Straße machte eine Kehre, lief geradeaus und stieg ein weiteres Stück steil an. Auf der rechten Straßenseite öffnete sich ein großer Obstgarten. Über dem Obstgarten lag Erwins Hof in weißer Farbe. Drei Garagentore und eine mit hölzernen Fensterläden geschmückte Hausfront begrenzten den kleinen Platz. Hinter dem Hof nahm die Steigung des Hügels ab und ein Teich stand im Schatten hoher Erlen. Enten tauchten dort nach Schnecken oder glitten ruhig über die Wasseroberfläche. Rechts vom Teich zog die Waldgrenze vorbei. Der Wald erstreckte sich über die angrenzenden Gemeinden Bad Hiemsbach, Kreuzenstein, St. Marien und weit darüber hinaus. Es handelte sich um das größte intakte Waldgebiet der Region, das angestammte Jagdrevier von Erwin Weichselbaum.

Erwin betrat geduscht das Wohnzimmer. Theresa schlief. Er breitete behutsam die Decke über ihren gedrungenen Körper und heizte das Feuer, das auszugehen drohte, mit Reisig und Buchenscheitern an. In der Küche herrschte peinliche Ordnung. Kein Topf kochte am Herd, keine Schüssel stand am Tisch, im Rohr wurde nichts gebacken. Der Kühlschrank surrte teilnahmslos. Den dritten Tag in Folge aß Erwin kalt zu Abend.

Rosalie, die Tochter, parkte auf dem Vorplatz neben den Garagen. Erwin kannte das Geräusch ihres Wagens. Sie betrat lärmend Vorhaus und Küche. Erwin hieß sie leise sein.

»Ist Mama immer noch nicht gesund?«, fragte Rosalie, ohne die Stimme merklich zu senken. Sie öffnete instinktiv den Kühlschrank. »Wie kann denn das sein? Wart ihr beim Arzt? Ich brauche für morgen jemanden, der auf den Jungen schaut. Kann ich ihn nach Mittag vorbeibringen?«

Erwin schüttelte energisch den Kopf. »Das geht nicht. Ich bin morgen den ganzen Tag im Obstgarten. Der Kaiser Josef hilft mir beim Schneiden, da ist mir der Bub im Weg. Er ist alt genug, er braucht keinen Babysitter mehr.«

Rosalie bereitete sich umständlich ein Wurstbrot zu. »Kann die Mama nicht auf ihn aufpassen? Wo ist sie denn überhaupt? So krank kann sie doch nicht sein. Daniel macht die Hausübung und dann soll er ein Buch lesen oder von mir aus fernsehen.«

Erwin blickte zu Boden. »Deine Mutter ist krank, sie braucht Ruhe! Heute hat sie sich fünfmal...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2020
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Debüt • Didier Eribon • Edouard Louis • Franz Innerhofer • Gelbwesten • Kaiser-Mühlecker • #ohnefolie • ohnefolie • Peter Handke • Politik • Thomas Bernhard
ISBN-10 3-552-05990-3 / 3552059903
ISBN-13 978-3-552-05990-0 / 9783552059900
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