Tolstois Bart und Tschechows Schuhe (eBook)

Streifzüge durch die russische Literatur
eBook Download: EPUB
2019
320 Seiten
Wunderraum (Verlag)
978-3-641-25282-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tolstois Bart und Tschechows Schuhe - Wladimir Kaminer
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Kaum ein deutscher Schriftsteller kennt sich besser mit der russischen Literatur aus als Wladimir Kaminer. In seinem neuen Buch erzählt er auf unnachahmlich unterhaltsame und humorvolle Weise von Leben und Werk sieben großer Autoren aus seiner Heimat. Es ist eine Einladung zu einer wunderbaren Entdeckungsreise, die Neugier und Begeisterung für die hier porträtierten Schriftsteller weckt: Fjodor Dostojewski, Leo Tolstoi, Anton Tschechow, Michail Bulgakow, Wladimir Majakowski, Vladimir Nabokov und Daniil Charms.

Weitere berührende Wunderraum-Geschichten finden Sie in unserem kostenlosen aktuellen Leseproben-E-Book »Einkuscheln und loslesen - Bücher für kurze Tage und lange Nächte«

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.

Tolstois Bart

Früher waren Schriftsteller in Russland nicht nur Teil der Unterhaltungsbranche. Sie waren mehr: der moralische Kompass der Gesellschaft, ihr Verstand, ihre Ehre und ihr Gewissen. Schriftsteller waren die Weichenwärter ihrer Zeit, alle hatten sie zu fürchten und zu respektieren. Die orthodoxe Kirche sah in ihnen eine ernst zu nehmende Konkurrenz, die Monarchen suchten ihre Freundschaft, und die Jugend durchstöberte ihre Bücher, um ihre Neugier auf Weisheit zu stillen. In ihren Werken suchten und fanden die Leser Antworten auf die brennendsten Fragen, die sie quälten. Wozu überhaupt und wenn ja – wie leben? Warum tun so viele Menschen Böses und wollen doch nur das Beste? Wieso müssen wir alle sterben, und was passiert danach? Russische Schriftsteller wussten darüber Bescheid oder taten zumindest so. Die Enttäuschten fanden in der Literatur Trost, die Kämpfer fanden dort ihr Schlachtfeld und die Grübler eine philosophische Begründung für ihr Nichtstun.

Diese Schriftsteller waren berühmter, als es heute Fernsehstars sind. Jeder, der lesen konnte, kannte, liebte oder hasste sie. Der magische Schlüssel, der ihnen so viel geistige Macht verlieh und die Tür in die Köpfe der denkenden Bevölkerung öffnete, dieser Schlüssel lag in ihren Bärten. Das ist zumindest meine persönliche Theorie, die sich ziemlich einfach belegen lässt. Es reicht ein Blick auf die Porträts dieser Klassiker, um festzustellen, dass sie sich nicht rasierten. Alle bedeutenden russischen Autoren trugen Bärte, und je länger der Bart, desto bedeutender der Schriftsteller. Die seltenen Ausnahmen wie Gogol, mit seinem kleinen Schnauzbärtchen, bestätigen nur diese belletristische Regel.

Russische Dichter waren in dieser Hinsicht anders gestrickt als die großen Prosaschriftsteller. Sie waren schräge Vögel mit fein geschnittenen Koteletten an den Backen, die ihren Leichtsinn verrieten. Sie hatten aber auch keine gesellschaftliche Verantwortung zu tragen. Ein echter Schriftsteller hingegen musste sehr viel Haar im Gesicht haben, um ernst genommen zu werden.

In meiner Schulklasse hingen die Schriftstellerporträts oben an der Wand – streng nach wachsendem Bartvolumen: Zuerst Maxim Gorki mit seinem großen Schnurrbart, gefolgt von Tschechow mit mittelgroßem europäischem Bärtchen, danach kam der vollbärtige Dostojewski, und gegenüber der Klassentür hing Tolstoi, der Gott unter den russischen Schriftstellern. Sein ganzes Gesicht war eigentlich ein Bart mit Stirn und zwei glühenden Augen, die durch die Haare leuchteten und jeden Schüler durchbohrten, der das Klassenzimmer betrat.

Es gab sehr viele Bilder von ihm in unseren Lehrbüchern. Das war auch verständlich. Von allen russischen Schriftstellern war Tolstoi am leichtesten zu malen. Man brauchte bloß mit einem Kugelschreiber auf dem Papier eine Zeit lang hin und her zu schmieren, die Ähnlichkeit war garantiert. Der Tolstoi in unserem Klassenzimmer blickte so böse, als wollte er mit seinen Augen der ganzen Menschheit Löcher ins Hemd brennen.

Ich fand den Unterricht oft langweilig, schweifte in Gedanken vom Thema ab und betrachtete die Porträts an den Wänden. Besonders interessierte mich Graf Tolstoi. Laut unserem Lehrbuch für Literatur war dieser Mann der Spiegel der Russischen Revolution. Er hatte gegen die Unterdrückung gekämpft. Er war der Freund aller Armen und Feind der Monarchie gewesen. Lenin hatte ihn gemocht, und Stalin hatte ihn gemocht.

Natürlich glaubte ich diese Propaganda nicht. Ein Mensch mit einem solchen Bart war als Spiegel nicht zu gebrauchen. Tolstoi war ganz bestimmt ein schwieriger Mensch gewesen, ein Außenseiter, ein verrückter alter Mann, so dachte ich damals. Die Vorstellung, dass dieser Mann auch einmal ein Junge, gar ein Kind gewesen war, diese Vorstellung wollte mir nicht in den Kopf. Für mich war er so wie auf dem Porträt auf die Welt gekommen, mit Bart und Augenglut. Seine Eltern erschraken wahrscheinlich fürchterlich. Die Mutter fiel womöglich sogar in Ohnmacht, der Vater zündete sich eine neue Pfeife an und sagte: »Gratuliere, meine Liebe, wir haben einen Schriftsteller gemacht.« Ich malte mir aus, wie schwer eine Kindheit mit einem solchen Riesenbart gewesen sein musste. Der kleine Leo konnte nicht mit anderen Verstecken spielen, denn überall, wo er sich verbarg, ragte ein Stück seines Bartes hervor. Es konnte weder in Ruhe essen noch auf der Toilette sitzen. Ich stellte mir die jungen Jahre von Tolstoi ausgesprochen schwierig vor.

Dann las ich seine Kindheit und änderte meine Meinung. Tolstoi hatte eine glückliche Kindheit. Er wuchs wohlbehütet in einem reichen, adeligen Haus auf, hatte drei Brüder und eine Schwester und bekam eine hervorragende Ausbildung. Doch schon als Kind interessierten ihn das Glück und Unglück der Menschen mehr als alle Kinderspiele. Natürlich hatte Tolstoi als Kind auch keinen Riesenbart, sondern nur einen ganz kleinen Schnauzer. Das war aber damals nichts Besonderes, also ganz normal.

Tolstois Vorväter

1903 fing Graf Leo Tolstoi auf Drängen seiner großen Fangemeinde an, seine Biografie zu schreiben. Diese Erinnerungen hätten in der Länge alle seine bisherigen Werke übertreffen können, umfassten schließlich aber nur drei Bände und endeten mitten in der Kindheit abrupt an der Stelle, als Gérome, der Lieblingsjagdhund der Familie, die Spur eines Fuchses verliert und die Kinder deswegen stinksauer sind. Er könne keine Biografie schreiben, schimpfte Tolstoi, diese Arbeit nehme ihn »nicht mit«.

Historiker setzten später bei seiner Biografie viel früher an. Die Familie Tolstois ist seit dem 16. Jahrhundert in der russischen Geschichte präsent, so waren Leos Vorväter beispielsweise Heeresführer unter Iwan dem Schrecklichen. Und bei allen Umstürzen und Liebesgeschichten am Zarenhof war immer mindestens ein Tolstoi dabei.

Der Ururgroßvater des Schriftstellers diente unter Peter dem Größten als russischer Konsul in Konstantinopel. Dieser Diplomat beharrte darauf, jedem stets die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Eine wahrhaft undiplomatische Einstellung. Dafür wurde er abwechselnd mal vom Sultan und mal vom eigenen Zaren beinahe geköpft. Peter der Große soll gesagt haben: »Zu klug ist dieser Kopf, sonst hätte ich ihn längst abgeschlagen, wegen seines Scheißcharakters.« Dabei hatte jener Graf Tolstoi ihm einen großen Dienst erwiesen, als er den entflohenen Sohn des Zaren aus Neapel zurück nach Russland gebracht und dadurch einen Putsch gegen Peter den Großen verhindert hatte. Außerdem unterstützte er die Reformen des Zaren, obwohl er dessen Rauheit nicht mochte. Der Zar führte nämlich gern eigenhändig Hinrichtungen durch – bevorzugt mit einem Schwert statt einer Axt. Das hatte er irgendwo auf seinen Auslandsreisen gesehen. Einem solchen Zaren wollte Tolstoi letztlich nicht dienen, ging vorzeitig in Rente, sammelte italienische Malerei und übersetzte Ovid ins Russische. Nach dem Tod des Zaren wurde er allerdings trotz seiner Loyalität nach Sibirien verbannt.

Leo Tolstoi schrieb einmal, seiner Familie seien schon immer Gradlinigkeit und eine gewisse Wildheit eigen gewesen. Ein herausragendes Beispiel ist in dieser Hinsicht der Bruder des Großvaters von Leo Tolstoi: Fjodor Tolstoi, mit Spitznamen »der Amerikaner«. Dieser Fjodor war eine Zeit lang die größte lebende Sehenswürdigkeit von St. Petersburg. Als junger Mann unternahm »der Amerikaner« zusammen mit Admiral Adam Johann Baron von Krusenstern die erste von Russen durchgeführte Weltumseglung. Die beiden, Baron und Graf, zerstritten sich allerdings während der Reise im Pazifik. Der Grund ihres Streites war nichtig, seine Folgen jedoch verheerend. Bei einem Zwischenhalt in einer exotischen Stadt kaufte sich der Graf einen Orang-Utan, den er zu Ehren des Kapitäns Adam nannte. Adam terrorisierte mehrere Wochen lang das ganze Schiff, verwüstete die Kajüte des Kapitäns und kackte ihm auf den Nachttisch. Der Baron forderte den Graf auf, sich des Affen zu entledigen, sonst sähe er sich gezwungen, das Tier über Bord zu werfen. Er wundere sich im Übrigen über diese enge Beziehung zwischen einem Mann und einem Tier.

Der Graf verstand keine Witze. Mit geladener Pistole lief er dem Baron hinterher, beschimpfte ihn und seine Mutter und gefährdete damit dessen Autorität. Mit den vereinten Kräften aller Matrosen wurde der Unruhestifter überwältigt und in einer abgelegenen Gegend Kamtschatkas samt seinem Orang-Utan ausgesetzt. Zum Glück war der Ort nicht unbewohnt. Fjodor Tolstoi nahm Kontakt zu einem wilden Stamm auf und machte bei ihm Karriere. Laut eigener Auskunft wurde er zum Stammesführer gewählt und verbrachte eine höchst vergnügliche Zeit bei diesen Menschen.

Die Geschichte verschweigt uns, wie lange Graf Tolstoi sich in der Fremde aufhielt und wie es ihm gelang, nach etlichen Jahren wieder die russische Burg Petropawlowsk zu erreichen. Von dort reiste er unverzüglich weiter nach St. Petersburg, wo er für mehrere Monate die Attraktion in allen Salons war.

Seine Jahre auf der Insel waren jedoch nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Seinen Körper zierten nun Dutzende von Tätowierungen, die ihm die dankbaren Wilden zur Erinnerung an die gemeinsame Zeit auf ihrer Insel verpasst hatten. Wenn sich die Reichen und Schönen von St. Petersburg zu einer Vernissage oder einem geselligen Abend versammelten, baten sie Fjodor Tolstoi immer wieder, seine Hautmalerei zu präsentieren. Der Graf verschwand hinter einer spanischen Wand, entledigte sich dort seines Fracks und Hemds und kam mit freiem Oberkörper wieder heraus. Um seine Arme und Schultern ringelten sich Dutzende kleine Schlangen, ein Schmetterling saß...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anna Karenina • Anton Tschechow • Barber • Daniil Charms • Der Meister und Margarita • Dichter • Die Brüder Karamasow • eBooks • Fjodor Dostojewski • Geschenkbuch • Gogol • Gorki • Jasnaja Poljana • Krieg und Frieden • Leo Tolstoi • Lolita • Michail Bulgakow • Pomade • Puschkin • Rasiermesser • Russische Literatur • Schuld und Sühne • Schuster • Turgenew • Verbrechen und Strafe • Weihnachten • Wladimir Majakowski • Wladimir Nabokov
ISBN-10 3-641-25282-2 / 3641252822
ISBN-13 978-3-641-25282-3 / 9783641252823
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99