Wir selbst (eBook)

Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischen Material zur deutschen Wolgarepublik und ihrer Literatur versehen von Carsten Gansel

Carsten Gansel (Herausgeber)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
1088 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32096-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir selbst -  Gerhard Sawatzky
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Ein untergegangenes Stück deutscher Geschichte erstmals als Buch: Der von Stalin verbotene große Roman über die Russlanddeutschen, das Epos der autonomen deutschen Wolgarepublik (1918-1941) - »Wir selbst«, das für Jahrzehnte verschollene Lebenswerk von Gerhard Sawatzky. Gerhard Sawatzkys großer Gesellschaftsroman »Wir selbst« erzählt von einer untergegangenen Welt, nämlich der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Diese wurde 1918 - u.a. auf Betreiben Ernst Reuters - gegründet, bis zu ihrem Ende 1941 ein höchst wechselvolles Schicksal erfuhr. Sein Autor, Gerhard Sawatzky, der als wichtigster Literat der Wolgadeutschen galt, wurde verhaftet, zu Zwangsarbeit verurteilt und starb in einem Lager in Sibirien, das Buch wurde verboten und vernichtet. Doch Sawatzkys Witwe gelang es, bei der Deportation nach Sibirien unter dramatischen Umständen das Urmanuskript zu retten. In einer deutschsprachigen Zeitschrift in der Sowjetunion wurden - allerdings bearbeitet und zensiert - in den achtziger Jahren Teile des Buches abgedruckt. Carsten Gansel hat nun das Urmanuskript in Russland aufgespürt. »Wir selbst« erzählt in häufigen Szenenwechseln zwischen Land und Stadt aus der Zeit zwischen 1920 bis 1937 vor allem von einem jungen Liebespaar, Elly Kraus, der Tochter einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie, die als Kind auf der Flucht vor der Roten Armee allein in Russland zurückblieb, und von Heinrich Kempel, dessen Kindheit auf dem Land während des Krieges von Hunger und Entbehrung geprägt ist, und der schließlich Ingenieur wird. Auch wenn Sawatzky schon beim Schreiben die Angst vor stalinistischen Säuberungsaktionen im Nacken saß und er manches unterschlug bzw. beschönigte - sein Buch ist ein höchst bedeutendes Zeitzeugnis, das zudem durch Carsten Gansels umfangreiches Nachwort über Sawatzky, die Geschichte des Manuskripts und die deutsche Wolgarepublik ergänzt und erschlossen wird.

Gerhard Sawatzky wird 1901 in der Südukraine, einem der beiden großen Siedlungsgebiete für Russlanddeutsche vor dem Zweiten Weltkrieg, geboren. Nach seinem Studium in Leningrad arbeitet Sawatzky zuerst als Lehrer, dann als Journalist und Autor in der Wolgadeutschen Republik. Sawatzky gilt als Vorkämpfer einer eigenständigen sowjetdeutschen Literatur, 1937 vollendet er sein Opus magnum, den Roman Wir selbst. Wenig später, 1938, wird Sawatzky vom NKWD verhaftet und in ein Arbeitslager deportiert. Er stirbt am 1. Dezember 1944 im Gulag in Solikamsk.

Gerhard Sawatzky wird 1901 in der Südukraine, einem der beiden großen Siedlungsgebiete für Russlanddeutsche vor dem Zweiten Weltkrieg, geboren. Nach seinem Studium in Leningrad arbeitet Sawatzky zuerst als Lehrer, dann als Journalist und Autor in der Wolgadeutschen Republik. Sawatzky gilt als Vorkämpfer einer eigenständigen sowjetdeutschen Literatur, 1937 vollendet er sein Opus magnum, den Roman Wir selbst. Wenig später, 1938, wird Sawatzky vom NKWD verhaftet und in ein Arbeitslager deportiert. Er stirbt am 1. Dezember 1944 im Gulag in Solikamsk. Carsten Gansel, Jahrgang 1955, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Mediendidaktik in Gießen. Bei Galiani hat er bereits das von ihm in Russland aufgespürte Manuskript Heinrich Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad (2016) sowie dessen Odyssee in Rot (2017) herausgegeben. 2020 erschien mit Wir Selbst von Gerhard Sawatzky eine weitere literarische Entdeckung von Gansel.

Zweiter Band


Die Trikotagefabrik »Clara Zetkin« machte sich in der grauen Menge der umliegenden kleinen Stadthäuschen immer breiter und drückte der ganzen Straße ein bestimmtes Gepräge auf. Unlängst war der neue Lagerraum fertig geworden. Diese Gebäude bildeten einen rechten Winkel zu dem Flügel, in dem sich der neue Maschinensaal befand. Äußerlich unterschied es sich von den übrigen Fabrikgebäuden nur durch das hellere Rot der Ziegelwände und durch die frischere Farbe des Blechdachs. Es passte ausgezeichnet zu dem Ganzen, war wie ein letzter Pinselstrich des Künstlers an seinem Bild. Jedesmal wenn Vetter Ulrich, der alte Wächter, über das große Viereck des Fabrikhofs schlurfte, verbarg er in dem Faltengewirr um seinen Mund ein schadenfrohes Lächeln. »Jetzt geht es nicht mehr weiter«, sagte er zu sich selbst, wenn er sich den Bau ansah, und machte mit dem Zeigefinger seiner zitternden Rechten eine Bewegung, die sowohl Verneinung als auch Drohung bedeuten konnte. »Jetzt ist der Hof von allen Seiten zu und vielleicht werden sie jetzt mal Ruhe haben …« Er lächelte sein rätselhaftes Greisenlächeln und sann seinen Gedankenfaden langsam weiter. »Leben alle, als wenn sie wohin eilen müssten. Tempo, Tempo! Im Frühjahr wird gebaut, im Sommer wird gebaut, im Herbst wird gebaut und im Winter wird auch gebaut. Immer haben sie was zu bauen. Als ob sie Angst hätten, nicht genug getan zu haben, wenn sie mal sterben müssen. Aber die denken wohl ans Sterben? …« Dann blieb er plötzlich mitten auf dem Hof stehen und betrachtete tiefsinnig das regelmäßige Viereck der Fabrikgebäude.

»Jetzt haben sie sich zugebaut …« – Aber dann verschwand sein Lächeln. – Am Ende fangen sie jetzt an, in die Höhe zu bauen, setzen auf einmal ein zweites Stockwerk auf? Hm … Sollten sie das tun? Jetzt wird es ja so gemacht, auf einmal reißt man das Dach von einem alten Gebäude herunter, baut ein zweites oder auch noch ein drittes Stockwerk und setzt das Dach wieder hinauf, als wenn das so sein müsste … Immer bauen, und dann Vetter Ulrich, sieh zu, damit nichts fortgeschleppt wird! Na, beim Vetter Ulrich wurde noch nichts gestohlen … Früher war es doch ruhiger.

Eduard Karlowitsch bekam auch nicht genug, aber der baute wenigstens nicht so viel. Unsere Fabrik! So sagte jetzt jeder und deshalb soll sie vielleicht immer größer werden, damit es für alle reicht? … –

Dann saß der Alte wieder regungslos auf der Bank vor der Kontrollbude und hing seinen Gedanken nach. Und es gab für ihn so viel zu denken. – Wo mochte der Vetter Benkler jetzt stecken? War wahrscheinlich auch schon alt geworden; jetzt werden die Menschen schneller alt. Nur ich werde nicht mehr älter, bin stehen geblieben … Von dem Oskar hört man auch nicht, ist doch wohl umgekommen, der Jung. – Diese Schlussfolgerung betrübte den Alten wenig; der junge Fabrikbesitzer Oskar Benkler war ein »Gelehrter« gewesen, wie der alte Ulrich ihn in seinen Gedanken bezeichnete, und zudem stolz, kein so schlichter Mann wie sein Vater. An die junge Frau, an die Väs Anna, und an das kleine Mädchen dachte er mit andern Gefühlen. Sie hatten oft freundlich mit ihm gesprochen, besonders häufig in den langen Jahren des großen Krieges, und hatten durch ihr Verhalten ihm gegenüber viel dazu beigetragen, dass er sich gewissermaßen als zur Familie gehörig betrachtet hatte. – Wer weiß, wo die jetzt sind? Nu, das Mädchen wird schon ein großes Fräulein sein und die Väs Anna … – Von der Frau des ehemaligen jungen Fabrikbesitzers wanderten seine Gedanken zu dem jetzigen Direktor der Trikotagenfabrik, zur Genossin Heckmann. Er stellte einen Vergleich an, der trotz all seiner Vorliebe für die Väs Anna nicht zu ihren Gunsten ausfiel; so rege, so unermüdlich tätig und so selbstständig konnte er sich die junge Frau nicht vorstellen. – Nein, das war eine stille Frau … – Er wunderte sich über die Genossin Heckmann: – Immer in der Fabrik, und kommandiert hier herum, gerade wie ein Mann! Was sie sagt, das gilt. Der Ingenieur, Genosse Shutikow, hat sogar Angst, wenn sie ihn rufen lässt, und kommt gelaufen, wenn er auch besoffen ist … – Der Alte schmunzelte pfiffig. – Ich schlafe niemals und sehe alles. Ich weiß, wo der Genosse nachts oft hingeht, mit wem er säuft … Die Genossin Heckmann würde ihn dafür nicht loben und der Röhrig, dieser ausgehobene Nabel! Der Alte kicherte leise in sich hinein. Das haben sie fein ausgedacht, ausgehobener Nabel! Na, der hat genug Ursache, vorsichtig zu sein … Warum der Ingenieur sich von ihm nur immer wegschleicht, wie wenn er dort was gestohlen hätte? Nein, er gefällt mir nicht, ist auch so stolz wie der Oskar … –

Es bereitete dem Alten viel Vergnügen, auf seiner Bank zu sitzen und die Arbeiter beim Schichtwechsel an sich vorbeimarschieren zu lassen. Jetzt waren es in jeder Schicht schon über zweihundert Menschen, aber er kannte jede Strickerin, jeden Schlosser, jede Spulerin und jeden Elektromonteur. Aus Gesprächsfetzen, die er auffing, wenn die Arbeiterinnen gruppen- oder paarweise vorbeigingen, wusste er immer, wie es um die Erfüllung des Produktionsplanes oder andere wichtige Fragen bestellt war. Und dann war es so interessant, in den Gesichtern zu lesen.

Die Arbeiterinnen erschienen schon zur Morgenschicht, obzwar die Nachtschicht erst in zehn Minuten zu Ende ging. Die Hubersche und Frau Kraus kamen gleichzeitig. Als Antwort auf ihren flüchtigen Gruß nickte der Alte zufrieden mit dem Köpfchen. Heute schaut die Hubersche mal wieder freundlich, stellte er fest. – Wahrscheinlich geht es ihr mit der Maschine wieder besser. Ja, ja, es will eben verstanden sein, man muss es erst lernen. –

Elly kam einige Minuten später. Die frische Winterluft und der eilige Gang hatten ihre Wangen gerötet. Von einem hellgrauen Wolltuch umrahmt, unter dem an den Schläfen ihr üppiges Lockenhaar etwas hervorsah, sah ihr Gesicht so jugendlich und reizend aus, dass der Alte seine Blicke nicht davon abwenden konnte.

»Guten Morgen, Vetter Ulrich!«

»Guten Morgen!« – Hm, wie lustig. Sie wird immer schöner und wie sie gewachsen ist! Nu, der Heinrich, der junge Schlosser, ist ja auch ein prächtiger Junge, sollen sie sich gernhaben … – Mit sonnigem Blick saß der Alte da. Er kramte in seinen Erinnerungen herum, wo er das Andenken an die schönsten Begebenheiten aus seiner Jugend bewahrt hatte. – Wahrscheinlich verdient sie jetzt gut, die Elly, ist ja jetzt auch schon Strickerin … Wie sie nur sind, keiner ist zufrieden: wenn sie spulen gelernt haben, wollen sie an die Strickmaschine, wenn sie stricken gelernt haben, wollen sie Ingenieur werden, so wie Hubers Irma. Ist das jetzt ein Volk … –

Jedesmal, wenn Elly vorbeikam, erinnerte sie den Alten an die Väs Anna. Er behielt diese Gedanken für sich, da sie ihm irgendwie beleidigend für die großäugige junge Fabrikbesitzersfrau schienen. – Das ist doch gar nicht möglich. Dies ist eine Strickerin und eine Komsomolka und jenes war dem Oskar Eduardowitsch seine Frau … Aber sie sehen sich so sehr ähnlich … – Trotz dieser Feststellung, die er immer wieder machte, wuchs seine Sympathie für Elly.

Mit weitausholenden eiligen Schritten kam jetzt Heinrich Kempel. Er grüßte kurz und verschwand in der Kontrollbude. Der alte Ulrich wusste, dass Heinrich als findiger Schlosser in der Fabrik allgemein beliebt war. Trotzdem konnte er ein schadenfrohes Zucken seiner glatt rasierten Lippen nicht unterdrücken, als er dem kräftigen jungen Mann nachsah.

– Na, dachte er, warum machst eine so krause Stirn, was ist denn dir für ’ne Spinne über den Weg gekrochen? Ja, Jung, hättest nur hier sitzen sollen, dann würdest du jetzt ganz anders in die Welt schauen. Sie hatte heute eine neue Bluse an, dunkelblau mit feinen weißen Tupfen. Ich sah es, weil sie ihre gesteppte Jacke nicht ganz zugeknöpft hatte. Aber wart nur, Jung, die wird zum Geburtstag ganz bestimmt auch eine rote Seidenbluse bekommen. Dann will ich mal sehen, ob du so sauer bleiben wirst … –

Philipp kam unrasiert und der alte Wächter sah zum ersten Mal, dass seine Bartstoppeln unterm Kinn schon grau waren. – Ja, Philippchen, du wirst älter, solltest lieber nicht trinken. Aber rasieren hättest dich können, siehst so ungewaschen aus. – Vetter Ulrich war enttäuscht, denn obwohl er dem Schlosser auch heute wieder stillschweigend den gutgemeinten Rat erteilt hatte, sich des Trunks zu enthalten, hatte er in Philipps Gesicht keine Spur von einem schlecht verschlafenen Rausch entdecken können. In seiner Vorstellung folgte er Philipp über den ganzen Fabrikhof bis in die Stube der Schlosser und Monteure. Hier hörte er sein kräftiges »Guten Morgen!« und als Antwort darauf Heinrichs Frage: »Nu, Philipp, wollen mal wieder?« Der alte Wächter wusste, wo wer stand und wie sich jeder benahm. Er lebte auf seine eigenartige Weise ungestört das Leben der ganzen Fabrik mit und konnte sich nicht genug wundern, wenn ihn gelegentlich mal jemand fragte, ob es nicht langweilig sei, immer so allein zu sitzen. – Allein? Ja sitze ich denn jemals allein? –

Die Arbeiterinnen kamen jetzt zu drei, zu vier und mehr gleichzeitig und kurz aufeinander, sodass der Alte nicht fertig kam, so oft mit dem Kopf zu nicken, wie er gegrüßt wurde. Er streifte sie nur mit den Blicken und dachte: – Mir muss es doch gut gehen; jeden Morgen...

Erscheint lt. Verlag 5.3.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dorf • Durchbruch bei Stalingrad • Gesellschaftsroman • GULAG • Heinrich Gerlach • Osteuropa • Rote Armee • Russland • Russlanddeutsche • Sibirien • Sowjetunion • Sozialismus • Stalin • Wolga • Wolgadeutsche Republik • Wolgadeutschland • Zeitgeschichte • Zensur
ISBN-10 3-462-32096-3 / 3462320963
ISBN-13 978-3-462-32096-1 / 9783462320961
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