Staub zu Staub (eBook)
416 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-25402-5 (ISBN)
Niederlande, 1949: Der ehemalige Widerstandskämpfer Siem Coburg lebt nach dem Krieg und dem tragischen Verlust seiner großen Liebe zurückgezogen und als gebrochener Mann auf einem Hausboot. Erst als ihn der alte Bauer Tammens bittet, den Tod seines Enkels aufzuklären, kehrt Coburg in die Stadt zurück. Der siebzehnjährige Siebold starb unter mysteriösen Umständen in einem katholischen Heim für geistig behinderte Kinder, und sein Großvater ist sicher, dass mehr dahintersteckt, als die Heimleiter ihn glauben machen wollen. Während Coburg immer tiefer in die Vergangenheit des Heims eintaucht, muss er feststellen, dass Siebold nicht der einzige Schutzbefohlene mit ungeklärter Todesursache ist. Und auch Coburgs eigene düstere Vergangenheit droht, ihn wieder einzuholen ...
Brillant und preisgekrönt - der Bestseller aus den Niederlanden
Felix Weber ist das Pseudonym des preisgekrönten niederländischen Autors Gauke Andriesse. Für »Staub zu Staub« erhielt er bereits zum zweiten Mal den Gouden Strop, den bedeutendsten Literaturpreis der Niederlande. Außerdem stand der Roman auf der Krimibestenliste von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Deutschlandfunk Kultur. Als Weber einen Artikel über mysteriöse Todesfälle innerhalb der katholischen Kirche las, wusste er sofort, dass dies das Thema seines neuen Romans werden sollte.
4
Es dämmerte, und am Horizont färbte sich das Grau dunkler. Sehr bald würde es wieder schneien. Der Bus hatte ihn am Anfang der langen, schnurgeraden Auffahrt abgesetzt; die Bäume zu beiden Seiten ragten wenn möglich noch gerader in den Himmel. An der Windseite hatten sich auf den dunklen Stämmen und kahlen Ästen Eis und Schnee festgesetzt. Am Ende des Weges lag der Bauernhof, umgeben von schier endlosen Feldern. Was man inzwischen dort anbaute, wusste Coburg nicht; damals waren es Kartoffeln und Zuckerrüben gewesen. Er hatte die Landschaft verflucht, die offene Fläche, in der er schon von Weitem zu erkennen war. Als er durch die Felder darauf zurannte, war ihm der Bauernhof wie der einzige sichere Zufluchtsort erschienen. Gleichzeitig hatte er begriffen, dass er nirgendwohin würde entkommen können, wenn man ihn dort suchte. Alles war an diesem Morgen schiefgegangen. Er war blutüberströmt, und seine Verfolger hatten Hunde eingesetzt.
Er schüttelte die Erinnerung ab und ging die Auffahrt hinauf. In den Wipfeln der Kopfweiden vor dem imposanten Vorderhaus hatte sich der Schnee angehäuft. Als er das Gebäude fast erreicht hatte, meinte er hinter einem der dunklen Fenster eine Gestalt zu erkennen. Die Tür wurde ihm von derselben Haushälterin geöffnet, die ihm damals zusammen mit der Familie atemlos zugehört hatte. Vor ihm ging sie in die Stube.
»Guten Tag, Siem. Du bist gekommen, das ist gut.« Tammens saß in einem Rollstuhl, der zu klein war für seine stattliche Gestalt. Es schien, als hätte man ihn hineingequetscht; seine Oberschenkel drückten gegen die Seitenteile, und die Rückenlehne reichte ihm kaum bis zur Taille. »Fährt der Bus noch oder bist du gelaufen?«
»Der Bus fuhr noch.«
»Sie sitzen ja im Dunklen«, sagte die Haushälterin. Sie schaltete das Licht an, schob Tammens zum Esstisch und schloss die Vorhänge. »Ich mache Kaffee.«
»Gut, und stellen Sie bitte das Radio aus?«
Tammens musterte Siem Coburg und sagte: »Du hast einen Bart und wirkst magerer, aber vielleicht erinnere ich mich auch einfach nicht mehr so deutlich. Wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?« Als er nur ein »Gut« zur Antwort erhielt, fuhr er fort: »Du verfolgst den Prozess gegen Ashoff natürlich auch. Unsere neue Königin hat richtig gehandelt. Sie kann sich sicher sein, die Bibel auf ihrer Seite zu haben: ›Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.‹ Dieser Mann hat so viel Schuld auf sich geladen – Gnade ist hier nicht angebracht.«
Das Wohnzimmer war noch so, wie es Coburg in Erinnerung hatte: mit der hohen verzierten Decke, dem Kronleuchter, dem Teakholzbüfett mit den großen unbenutzten Kerzen darauf, den beiden Sesseln und dazwischen der Stehlampe mit ihrer Spitzenbordüre, dem Tischchen mit dem ovalen Bakelitradio in der Form eines der Länge nach durchgeschnittenen Eis, dem persischen Läufer, der nach den Mahlzeiten auf den Tisch gelegt wurde. Mit dem großen Kohlenofen vor dem gekachelten Schornstein. Ein Feuer brannte darin, dessen orangegelbe Glut durch die Sichtfenster auf den blank geputzten Fußboden fiel. Alles, was sich säubern ließ, glänzte, und genau wie früher roch es nach Bohnerwachs. Hier war die Zeit stehen geblieben. Doch diesmal saßen sie nur zu zweit an dem großen Esstisch.
Vier Jahre zuvor waren alle Stühle besetzt gewesen. Tammens hatte am Kopfende des Tisches gesessen, seine Frau ihm genau gegenüber. Zwischen ihnen die beiden ältesten Söhne, die einzige Tochter, mit seinem Enkel auf dem Schoß, und daneben ihr Mann. Sie hörten Coburg zu, als Tammens’ jüngstes Kind aufgeregt ins Zimmer gerannt kam.
»Sie haben Beertema totgeschossen, auf dem Markt in Delfzijl.« Als das Kind den unbekannten Gast am Tisch sitzen sah, mit dem Arm in der Schlinge und den dunklen Flecken auf den Wangen, schaute es kurz erstaunt drein. Dann erschien ein Grinsen auf seinem Gesicht. »Haben Sie das NSB-Schwein* erschossen? Und seine Frau?«
»Halt den Mund, Geert«, befahl ihm seine Mutter.
Die Haushälterin brachte den Kaffee und stocherte mit dem Schürhaken in der Glut herum, bevor sie die beiden Männer allein ließ. Coburg erfuhr, dass die Familie Tammens in den letzten Jahren einiges Leid hatte durchstehen müssen: Erst war die Tochter an Krebs gestorben, kurz darauf Tammens’ Frau im Schlaf von ihm gegangen. Nur die Männer waren übrig geblieben.
»Die Jungs haben ihren eigenen Hof. Den hier wollten sie nicht übernehmen. Für meine Frau und mich war er groß genug, aber in den Augen meiner Söhne bin ich ein Kleinbauer.« Mit geöffneten Händen schaute er sich um und sagte: »Als hätte uns der Herr nicht längst genug Reichtum geschenkt. Aber nein, alles muss anders werden, und größer. Maschinen her, weg mit den Kühen, und nur noch Getreide. Mein Nachbar will sich vergrößern und das Land kaufen. Nicht mehr lange, und ich bin ein Bauer ohne Land, aber mich werden sie mit den Füßen zuerst hier heraustragen müssen. Hier bin ich geboren, und hier will ich auch sterben.«
Mit seinen riesigen Pranken umfasste er die Armlehnen des Rollstuhls und sagte: »Seit einem halben Jahr bin ich nun dazu verurteilt, in diesem Ding zu sitzen. Eine Blutung im Rückenmark. Ich warte auf mein Ende und bete darum, dass es schnell kommt. Meine Jungs brauchen mich nicht mehr, und jetzt, wo auch Siebold tot ist, sehne ich mich danach, wieder mit meiner Frau und meiner Tochter vereint zu werden.«
Als er den Namen hörte, sah Coburg das Kind wieder vor sich, das ihm das Leben gerettet hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Coburg wachte mitten in der Nacht auf. Er stand auf und setzte sich an den schmalen Tisch am Fenster. Mondlicht fiel auf die Waschschüssel und die Kanne aus Email; auf der Wasseroberfläche hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet. Der Mond schien so hell, dass sich die Schatten der Bäume messerscharf auf den beschneiten Feldern abzeichneten. Es herrschte völlige Stille, und nichts bewegte sich.
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, seit er über den Hof gerannt war. Tammens hatte ihn nicht weggeschickt, und wenige Worte hatten ausgereicht. Allerdings erschrak er sichtlich, als auch er die Hunde hörte, und er war Coburg in ein Zimmer vorausgegangen, in das kaum Licht durch die kleinen Fenster fiel. Er zog in einer der Bettnischen die Matratze zur Seite, hob den Holzboden an, wartete, bis Coburg in den Raum darunter gekrochen war, und schloss das Bett wieder über ihm.
Coburg lag im Stockdunklen, die Hände in einer dicken Staubschicht und so dicht unter den Brettern, dass er sich nicht umdrehen und nur mit Mühe seine verwundete Schulter abtasten konnte. Er verlor immer noch Blut. Es war so eng, dass er kaum atmen konnte. Er roch Holz und Stroh und atmete den aufgewirbelten Staub ein, doch alles wurde von dem Gestank nach Kot und Urin überdeckt, der aus der Matratze über ihm drang. Er musste würgen, hörte ein Poltern, und das Bett über ihm erzitterte.
»Bleib hier, Junge. Ich bin gleich wieder da«, erklang die gedämpfte Stimme des Bauern.
Das Hundegebell kam näher, und kurz darauf war ein Schreien und Fluchen zu hören. Coburg verstärkte den Griff um seine Pistole und überlegte, ob er sich den Weg nach draußen freischießen sollte. Wenn es dann also hier enden musste, würde er wenigstens so viele Deutsche wie möglich mitnehmen. Der Boden bebte unter den Soldatenstiefeln und Holzschuhen, und durch das Geschrei der Deutschen hindurch hörte er die Proteste des Bauern. Dann ganz nah das überlaute Bellen und Knurren der Hunde. Er drückte die Hand noch fester auf seine verletzte Schulter und hoffte, der Geruch nach Scheiße und Pisse wäre stärker als der seines Blutes.
Im selben Augenblick setzte über ihm das Kreischen ein. Langgestreckte Laute, ohne Unterbrechung, ohne Worte und so schrill, dass es einem durch Mark und Bein ging. Aus dem Bellen der Hunde wurde ein Jaulen, umsonst erschallten Kommandos. Neben der wütenden Stimme des Bauern erhob sich nun das Schreien einer Frau. Das Chaos war vollkommen. Durch das Kreischen hörte er Flüche und Befehle. Das Kreischen verstummte erst, als es schon lange keine anderen Geräusche mehr gab.
Er lag noch eine Zeit lang in seinem Versteck, bevor die Luke geöffnet wurde. Tammens half ihm hoch und ging vor ihm in die Stube. Auf den Knien einer jungen Frau saß ein Kind mit einem eiförmigen, an den Schläfen eingedrückten Schädel, dessen wildes, strähniges Haar Teile seines Kopfes unbedeckt ließ. Als die großen Augen mit ihrem schielenden Blick Coburg entdeckten, ging das Kreischen wieder los, und der Mund verzog sich noch schiefer. Tammens hob das Kind hoch, wischte ihm mit dem Handteller den Speichel aus dem Mundwinkel und sagte: »Keine Angst, Siebold. Das hier ist ein guter Mann.«
Er packte Coburg an seiner unverletzten Schulter und sagte: »Du verdankst dein Leben diesem Jungen hier.« Dann, zu der jungen Frau gewandt: »Weil er so ist, wie er ist, hat dein Sohn einem Menschen das Leben gerettet. Ist das nicht ein weiterer Beweis dafür, dass die Wege des Herrn unergründlich sind?«
Coburg stand auf, zog sich die Hose an und ging über den Flur. Der Holzfußboden knarrte unter seinem Gewicht. Unten schob er die Füße in ein paar Holzschuhe und ging nach draußen. Er lief zum Rand des Hofes, bückte sich, nahm ein wenig Schnee und fuhr sich damit übers Gesicht. Die Kälte fühlte sich angenehm an. Er drehte sich eine Zigarette und warf das brennende Streichholz in den Schnee.
Als er wieder im Bett lag, konnte er immer noch nicht schlafen. An der Wand hing ein gestickter Bibeltext. Tammens’ Frau war tief gläubig gewesen, und solche Handarbeiten befanden sich überall im Haus.
Herr, mein Herz ist...
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2020 |
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Übersetzer | Simone Schroth |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Tot stof (Dust to Dust) |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | 1949 • 2. Weltkrieg • eBooks • Ellen Sandberg • Geschichte • Gouden Strop • Henning Mankell • Historische Kriminalromane • Historische Romane • Ingar Johnsrud • Krimi • Krimibestenliste • Kriminalroman • Kriminalromane • Krimineuerscheinung 2020 Taschenbuch • Krimis • Niederlande • Spannung • Urlaubslektüre • Urlaubslektüre Männer • Weltkrieg • Widerstand • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-25402-7 / 3641254027 |
ISBN-13 | 978-3-641-25402-5 / 9783641254025 |
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