Die langen Abende (eBook)

Roman - (Olive Kitteridge 2)
eBook Download: EPUB
2020
352 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-19804-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die langen Abende - Elizabeth Strout
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»Mir fehlt die Küste von Maine auch«, sagte Olive zu Jack. Und ab da war alles gut.
In Crosby, einer kleinen Stadt an der Küste von Maine, ist nicht viel los. Und doch enthalten die Geschichten über das Leben der Menschen dort die ganze Welt. Da ist Olive Kitteridge, pensionierte Lehrerin, die sich auch mit siebzig noch in alles einmischt, so barsch wie eh und je. Da ist Jack Kennison, einst Harvardprofessor, der ihre Nähe sucht. Beide vermissen ihre Kinder, die ihnen fremd geworden sind, woran Olive und Jack selbst nicht gerade unschuldig sind ... Ein bewegender Roman, der von Liebe und Verlust erzählt, vom Altern und der Einsamkeit, von Momenten des Glücks und des Staunens.

Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren. Sie zählt zu den großen amerikanischen Erzählstimmen der Gegenwart. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für ihren Roman »Mit Blick aufs Meer« erhielt sie den Pulitzerpreis. »Oh, William!« und »Die Unvollkommenheit der Liebe« waren für den Man Booker Prize nominiert. »Alles ist möglich« wurde mit dem Story Prize ausgezeichnet. 2022 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Siegfried Lenz Preis ausgezeichnet. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City.

Zusammenstoß


An einem Samstag im Juni, kurz nach Mittag, setzte Jack Kennison die Sonnenbrille auf, ließ das Verdeck seines Sportwagens herunter, spannte den Gurt über seinen nicht eben kleinen Bauch und fuhr von Crosby, Maine, hinüber ins fast eine Stunde entfernte Portland, um sich seinen Whiskey dort zu kaufen, weil ihm nicht danach war, im hiesigen Lebensmittelladen Olive Kitteridge in die Arme zu laufen. Oder dieser anderen Frau, die ihn schon zweimal, während er mit seiner Flasche in der Hand dastand, in ein Gespräch übers Wetter verwickelt hatte. Über das Wetter! Wie sie hieß, wusste er jetzt nicht mehr, aber sie war auf jeden Fall auch eine Witwe.

Beim Fahren kam fast eine Art Ruhe über ihn, und in Portland angelangt, parkte er und ging hinunter ans Wasser. Langsam wurde es Sommer, und auch wenn es noch kühl war für Mitte Juni, war der Himmel doch blau, und über dem Hafen kreisten die Möwen. Überall waren Leute unterwegs, viele junge Paare mit Kindern oder Kinderwagen, und alle unterhielten sie sich. Das machte auf ihn den größten Eindruck. Wie selbstverständlich sie es offenbar fanden, zusammen zu sein, jemanden zum Reden zu haben! Niemand streifte ihn auch nur mit einem Blick, und so wenig neu die Erkenntnis an sich war, traf sie ihn nun doch auf neue Weise: Er war nur ein alter Mann mit einem Hängebauch, niemand mehr, den man wahrnahm. Fast hatte das etwas Befreiendes. Viele Jahre seines Lebens hindurch war er ein großer, gutaussehender Mann mit straffem Körper gewesen, der über das Universitätsgelände in Harvard schlenderte, und die Leute hatten ihn bemerkt, all diese Jahre war er es gewohnt gewesen, dass ihm die Studenten scheu nachsahen, und auch Frauen – auch von ihnen erntete er Blicke. Bei den Institutsversammlungen war er als einschüchternd herübergekommen, Kollegen hatten ihm das gesagt, und es wunderte ihn nicht, denn genau das war seine Absicht gewesen. An dem Kai, den er entlangbummelte, waren Wohnanlagen entstanden; vielleicht sollte er hierherziehen, ging es ihm durch den Kopf, Wasser ringsherum, Wasser und Menschen. Er zog das Handy aus der Tasche, sah rasch darauf und steckte es wieder weg. Seine Tochter, wie lange hatte er schon nicht mehr mit ihr gesprochen?

Aus einer der Wohnungen trat ein Paar etwa in seinem Alter, der Mann hatte auch einen Bauch, allerdings keinen so dicken wie Jack, und die Frau sah besorgt aus, aber aus der Art ihres Miteinanders schloss er, dass sie seit vielen Jahren verheiratet waren. »Das war’s jetzt«, hörte er die Frau sagen, und der Mann erwiderte etwas, und die Frau sagte: »Doch, das war’s.« Sie gingen an ihm vorbei (ohne ihn wahrzunehmen), und als er sich gleich darauf noch einmal umdrehte, sah er verblüfft – ein bisschen zumindest –, dass die Frau sich bei dem Mann eingehakt hatte, während sie davongingen, auf das kleine Stadtzentrum zu.

Jack stand am Ende des Kais und schaute aufs Meer hinaus; er sah in die eine Richtung, dann in die andere. Ein Wind, den er jetzt erst spürte, trieb schmale Schaumkronen vor sich her. Von hier aus ging die Fähre nach Nova Scotia, er und Betsy waren einmal damit gefahren. Drei Nächte waren sie in Nova Scotia geblieben. Er versuchte sich zu erinnern, ob Betsy sich bei ihm eingehakt hatte; möglich schien es. So dass ihm nun ein Bild von ihnen beiden vor Augen stand, wie sie von der Fähre herunterkamen, der Arm seiner Frau in seinem …

Er wandte sich zum Gehen.

»Hornochse.« Das sagte er laut, und ein kleiner Junge sah erstaunt zu ihm herüber. Was hieß, er war ein alter Mann, der an einem Anleger in Portland im Staate Maine laut Selbstgespräche führte, und er hatte keine Ahnung – er, Jack Kennison, mit seinen zwei Doktortiteln, hatte keine Ahnung, wie es so weit hatte kommen können. »Mannomann!« Auch das sagte er laut, weit genug entfernt von dem kleinen Jungen jetzt. Ein paar Bänke standen da, und er setzte sich auf eine, die frei war. Er zog sein Handy heraus und rief seine Tochter an; in San Francisco, wo sie wohnte, war jetzt noch Vormittag. Zu seiner Überraschung hob sie ab.

»Dad?«, sagte sie. »Alles in Ordnung?«

Er sah zum Himmel hinauf. »Ach, Cassie«, sagte er. »Ich wollte nur wissen, wie’s dir geht.«

»Mir geht’s gut, Dad.«

»Ah, gut. Sehr gut. Das freut mich.«

Ein kurzes Schweigen trat ein, dann fragte sie: »Wo bist du?«

»Oh. Ich bin in Portland am Hafen.«

»Warum?«, wollte sie wissen.

»Ich dachte einfach, ich fahre nach Portland. Um mal rauszukommen, weißt du.« Jack blinzelte auf das Wasser hinaus.

Wieder Schweigen. Dann sagte sie: »Ah ja.«

»Hör zu, Cassie«, sagte Jack, »ich wollte nur sagen, ich weiß, dass ich ein Arschloch bin. Das weiß ich. Nur dass du es weißt. Ich weiß, dass ich ein Arschloch bin.«

»Daddy«, sagte sie. »Also bitte, Daddy. Was soll ich denn jetzt sagen?«

»Nichts«, antwortete er verträglich. »Da gibt’s nichts zu sagen. Du sollst einfach nur wissen, dass ich es weiß.«

Sie schwieg wieder, länger diesmal, und Furcht beschlich ihn.

Sie sagte: »Meinst du, wegen der Art, wie du mich behandelt hast, oder wegen deiner Affäre mit Elaine Croft diese ganzen Jahre?«

Er sah hinab auf die Bretter des Anlegers, auf seine Altmännerturnschuhe auf dem aufgerauten Holz. »Beides«, sagte er. »Oder such’s dir aus.«

»Ach, Daddy«, sagte sie. »Ach, Daddy, ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Was erwartest du denn jetzt von mir?«

Er schüttelte den Kopf. »Gar nichts, Kind. Ich erwarte gar nichts von dir. Ich wollte bloß deine Stimme hören.«

»Dad, wir sind eigentlich gerade am Aufbrechen.«

»Ach ja? Wohin denn?«

»Zum Bauernmarkt. Es ist Samstag, und am Samstag gehen wir immer auf den Bauernmarkt.«

»Ist gut«, sagte Jack. »Dann schau zu, dass du loskommst. Keine Sorge. Wir sprechen ein andermal. Bis bald.«

Er meinte, sie seufzen zu hören. »Okay«, sagte sie. »Tschüs.«

Und das war alles. Das war alles!

Jack blieb lange auf der Bank sitzen. Leute gingen an ihm vorbei, oder vielleicht ging auch zeitweise niemand vorbei, aber er dachte an seine Frau, Betsy, und er hätte heulen mögen. Klar schien nur eines: Er hatte es verdient. Er hatte es verdient, dass er hier mit einer Einlage in der Unterhose saß, wegen der Prostataoperation; er verdiente es, so wie er es auch verdiente, dass seine Tochter keinen Kontakt zu ihm wollte, denn über Jahre hinweg hatte er keinen Kontakt zu ihr gewollt – sie war lesbisch; eine Lesbe war sie, und bei dem Gedanken überkam ihn nach wie vor ein leichtes Unbehagen. Betsy dagegen verdiente es nicht, tot zu sein. Er hätte den Tod verdient gehabt, aber nicht Betsy. Und trotzdem packte ihn plötzlich eine Riesenwut auf seine Frau. »Verflixt«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Als seine Frau im Sterben lag, war sie die Wütende gewesen. »Ich hab einen derartigen Hass auf dich«, hatte sie gesagt. Und er hatte gesagt: »Ich kann’s dir nicht verdenken.« Und sie sagte: »Oh, komm mir jetzt nicht mit so was.« Aber er hatte es völlig aufrichtig gemeint. Er konnte es ihr nicht verdenken, natürlich nicht. Und ihre letzten Worte zu ihm waren gewesen: »Ich hab einen Hass auf dich, weil du leben darfst und ich nicht.«

Er sah einer Möwe nach, und er dachte: Aber ich lebe nicht, Betsy. Was für eine erbärmliche Farce das alles ist.

Die Bar des Regency Hotel lag im Souterrain, die Wände hier waren dunkelgrün, und die Fenster gingen auf den Gehsteig hinaus, aber der Gehsteig verlief so hoch oben, dass Jack hauptsächlich Beine vorbeimarschieren sah. Er setzte sich an den Tresen und bestellte einen Whiskey pur. Der Barmann war ein leutseliger junger Bursche. »Gut«, antwortete Jack auf seine Frage, wie es ihm heute gehe.

»So soll’s sein«, sagte der Barmann; seine Augen waren dunkel und klein unter den halblangen dunklen Haaren. Als er ihm einschenkte, sah Jack, dass der Mann älter war, als er anfangs gewirkt hatte, wobei es Jack dieser Tage ohnehin schwerfiel, Leute altersmäßig einzuschätzen, gerade die Jüngeren. Und dann dachte Jack: Wenn ich einen Sohn gehabt hätte … Das hatte er schon so oft in seinem Leben gedacht, dass es ihn wunderte, dass die Überlegung ihn immer aufs Neue umtrieb. Und wenn er Betsy nicht aus enttäuschter Liebe geheiratet hätte … Er hatte über eine unglückliche Liebe hinwegkommen müssen, und sie auch, zu diesem Tom Groger, dem sie nach dem College so nachgetrauert hatte. Aber wenn nicht? Was wäre dann gewesen? Bedrückt, aber auch befreit, weil er jemanden zur Gesellschaft hatte, den Barmann, rollte Jack diese Gedanken vor sich aus wie eine große Stoffbahn. Er sah sich selbst, einen alten Mann von vierundsiebzig Jahren, der auf sein Leben zurückblickte, voll Staunen darüber, dass es so verlaufen war und nicht anders, und zerfressen von Reue über all die Fehler, die er gemacht hatte.

Und dann dachte er: Wie lebt man ein anständiges Leben?

Es war nicht das erste Mal, dass er sich die Frage vorlegte, aber heute fühlte sie sich anders an, objektiver; es beschäftigte ihn wirklich.

»Und was bringt Sie nach Portland?«, erkundigte sich der Barmann, während er den Tresen mit einem Tuch abwischte.

Jack sagte: »Nichts.«

Der Bursche sah kurz hoch, bevor er sich halb abwandte, um das andere Ende des Tresens zu wischen.

»Ich wollte einfach mal rauskommen«, sagte Jack. »Ich wohne in Crosby.«

»Hübsche Stadt, Crosby.«

»Stimmt.« Jack trank von seinem Whiskey und stellte das Glas behutsam wieder hin....

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Übersetzer Sabine Roth
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Olive, Again
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Altern • Crosby • eBooks • Einsamkeit • Frances McDormand • geschenke für mama • Kleinstadt • Lebensmut • Maine • Menschlichkeit • Muttertag • Olive Kitteridge • Pulitzerpreis • Roman • Romane • Staunen • SWR Bestenliste • Verlust • Verständnis
ISBN-10 3-641-19804-6 / 3641198046
ISBN-13 978-3-641-19804-6 / 9783641198046
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