Innehaben (eBook)

Schattenfroh und die Bilder
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
320 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491204-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Innehaben -  Michael Lentz
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Eugen Gomringer, der Begründer der Konkreten Poesie, schreibt in einem Brief an Michael Lentz: »Seit Jahren, Jahrzehnten sind für mich Romane überflüssig. Bis eben dein Roman eintraf. Wir müssen keine Bücher mehr schreiben.« Burkhard Müller hingegen findet in der »Süddeutschen Zeitung«, »Schattenfroh« raube einem nur die Zeit. Anders Andreas Platthaus in der F.A.Z., für den sich »der weiteste Leseweg und die größte Lesemühe« lohnen, man solle nach der ersten gleich die zweite Lektüre beginnen. Wieder anders Andrea Köhler in der »Zeit«. Sie kapituliert und kann sich nicht entscheiden, ob das nun genialisch, wahnsinnig oder albern ist. Diese Frage hat Richard Kämmerlings entschieden und bewundert in der »Welt« das »große literarische Werk«. Wir merken, es herrscht eine gewisse Ratlosigkeit, selbst bei geübten Lesern. Dem hilft Michael Lentz jetzt ab, indem er in seiner Wiener Ernst-Jandl-Poetikvorlesung seinen Roman erklärt. Ja, das ist schon ein bisschen größenwahnsinnig. Aber wen wundert's? Das ist »Schattenfroh« schließlich auch.

Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, lebt in Berlin. Autor, Musiker, Herausgeber. Zuletzt erschienen: die Frankfurter Poetikvorlesungen »Atmen Ordnung Abgrund« (2013), der Roman »Schattenfroh. Ein Requiem« (2018), der Kommentar »Innehaben. Schattenfroh und die Bilder« (2020), der Gedichtband »Chora« (2023) sowie der Roman »Heimwärts« (2024), alle bei S. FISCHER. Michael Lentz wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis. Literaturpreise u. a. Literaturförderpreis des Freistaates Bayern 1999 Aufenthaltstipendium Villa Aurora in Santa Monica, Kalifornien/USA 2001 Ingeborg-Bachmann-Preis 2001 Preis der Literaturhäuser 2005 Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012

Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, lebt in Berlin. Autor, Musiker, Herausgeber. Zuletzt erschienen: die Essay- und Aufsatzsammlung »Textleben« (2011), die Frankfurter Poetikvorlesungen »Atmen Ordnung Abgrund« (2013), der Roman »Schattenfroh. Ein Requiem« (2018), der Kommentar »Innehaben. Schattenfroh und die Bilder« (2020) sowie der Gedichtband »Chora« (2023), alle bei S. FISCHER und bei FISCHER Taschenbuch. Literaturpreise u. a. Literaturförderpreis des Freistaates Bayern 1999 Aufenthaltstipendium Villa Aurora in Santa Monica, Kalifornien/USA 2001 Ingeborg-Bachmann-Preis 2001 Preis der Literaturhäuser 2005 Walter-Hasenclever-Literaturpreis 2012

II. Grenzüberschreitungen zwischen Kunst und Literatur


1. Der Paragone


Der Paragone, in der Antike als sportliche oder künstlerische Wettkämpfe im Rahmen eines öffentlichen Festes unter der Bezeichnung »ágon« bekannt, »in Italien (…) seit dem 15. Jh. für den Bereich der bildenden Kunst bezeugt«, kunsthistorisch aber erst im 19. Jahrhundert zu einem »festen Terminus« avanciert[36], ist ein Wettstreit zwischen Künstlern derselben und verschiedener Disziplinen, zwischen den Künsten, aber auch zwischen Kunst und Wissenschaft. So zum Beispiel zwischen bildender Kunst (Malerei, Skulptur) und Dichtung, zwischen Bild und Wort.

In diesem Wettstreit geht es um den medialen Vorrang und die Überbietung einzelner Künste hinsichtlich ihrer produktions- und rezeptionsästhetischen Differenzqualitäten sowie um die auch durch diese mitbedingte zeitgeschichtliche Angemessenheit der Darstellungsmittel und der sie motivierenden Ideale bzw. ästhetischen Kriterien.

Im Begriff »Paragone« kommen, so Michael Wetzel, »zwei etymologische Stränge« zusammen, »nämlich das Denken nach Modellen (frz. parangon) als Antrieb (von griech. parakonan: ›schärfen‹, ›wetzen‹) und der Wettstreit (griech. agon)«.[37]

Hinsichtlich der begrifflichen Etablierung von Kunst und der (selbstreflexiven) Ausdifferenzierung der Künste, die auch aus einer starken Abwehrbewegung gegen andere Künste resultieren kann, ist der Paragone ein zentrales Agens, für Hannah Baader »eine der zentralen Denk- und Argumentationsfiguren.«[38] Unter diesem Gesichtspunkt sind die Autonomiebestrebungen der Moderne mit ihren Maximen der medialen Reinheit der Fokussierung auf einen der Sinne zu betrachten, wie zum Beispiel in der Malerei auf das Sehen, oder die Emanzipierung des Theaters von der Literatur, wie sie Wassily Kandinsky (Der gelbe Klang) forderte und praktizierte.

In der Konsequenz können die historischen und Nachkriegsavantgarden mit ihren materialästhetischen und mentalen Überbietungsstrategien und Manifestkulturen unter dem Begriff des Paragone gefasst werden.

Als produktives Prinzip spielt der Paragone auch bei der Ausdifferenzierung des zeitgenössischen Literaturbegriffs eine nicht zu unterschätzende Rolle, befindet sich die Literatur doch in einer ihrerseits hoch ausdifferenzierten medialen Konkurrenzsituation, und das nicht zuletzt hinsichtlich faktualer Literatur und Berichterstattung. Paragonales Denken und Vergleichen kann das Schreiben begleiten und entsprechend neu konfigurieren. Es wirkt als regulierende Hintergrundmatrix.

Im denkfigürlichen und analogischen Horizont des Paragone bildeten sich auch Formen intermedialer Kombinatorik und medialer Intertextualität aus. Bei bestimmten Formen intermedialer Hybride finden sich textuell-visuelle Doppelkodierungen, so zum Beispiel bei barocken Figurengedichten und anderen Spielarten der visuellen bzw. Optischen Poesie.[39] Barocke Figurengedichte sind als Text-Bild-Hybride homolog kodifiziert: Sie zeigen, was sie bezeichnen, indem ihre graphematischen Mittel das Bezeichnete zu einem Bild konfigurieren. Gesagtes wird dargestellt. In diesem Sinne sind Figurengedichte kookurrent, indem »ihr Ausdruckskörper« Beziehungen nachbildet, »die unserem Wahrnehmungsmodell des Gegenstandes in irgendeiner Weise entsprechen«.[40] Ordnet man das Figurengedicht der Gattung des Bildgedichts zu, wäre es abzugrenzen vom ekphrastischen Gemälde- und Schildgedicht, wie es aus der nordischen Literatur bekannt ist und sich präfiguriert findet im 18. Gesang von Homers Ilias.[41]

Der auch implizit geführte Wettstreit zwischen Dichtung und Bildender Kunst[42] und auch die Analogisierungen von Bild und Text wie zum Beispiel die »Annahme einer Konformität von Satzstruktur und Bildstruktur«[43] erfahren mit Leonardo da Vincis Traktat über die Malerei (Trattato della pittura) dahingehend eine Umwertung, dass Leonardo die Malerei als Wissenschaft valorisierte und damit »die erstmalige Erhebung des Mediums Bild in die Höhe eines Wissens, einer Bildwissenschaft« vollzog. Unter diesem Signum beginnt sich »das visuelle Weltverhältnis als Weltbild zu konfigurieren«.[44]

Ausgelöst durch Charles Perraults These von der Überlegenheit der Epoche Ludwigs XIV. gegenüber der Antike, spezifizierte sich dieser Wettstreit ab 1687 historisch als ein diachroner Vergleich von Antike und Moderne beziehungsweise als eine Kontroverse um die Relevanz und Gültigkeit antikischer Kunstmaßstäbe und -ideale für die Gegenwart. In Deutschland sehr genau verfolgt und debattiert, erfuhr dieser Streit in Friedrich Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung einen nachgetragenen Höhepunkt.[45]

Die Geschichte der Beziehung von Text und Bild, Literatur und bildender Kunst ist also von Anfang an gekennzeichnet von Debatten über ihre Komplementarität, Defizienz oder Vorrangigkeit und nicht zuletzt über Ähnlichkeitsbeziehungen.

Je nach präfigurierendem Turn kehrt sich das Verhältnis von Defizienz und Vorrangigkeit um; was als besondere maßstabsbildende Qualität des ›stummen‹ Bildes apostrophiert wurde – auf den Dichter Simonides soll das Aperçu zurückgehen, ein Bild sei schweigende Dichtung, die Dichtung sprechende Bildkunst[46] –, kann nach einem Paradigmenwechsel als Mangel ausgewiesen werden, den zu kompensieren nur das Wort vermag und vice versa.

Die Beziehung zwischen Text und Bild, Literatur und bildender Kunst ist jedenfalls keine ungestörte. An der Divergenz von Metapher und Bild[47] und einem differenzierten Bild-Begriff – der Frage zum Beispiel, was überhaupt ein Bild ist und wie sich das Bild als physisch äußeres Bild (Fotografie, Gemälde etc.) von einem inneren Bild (der Vorstellung) unterscheidet – arbeiten sich die verschiedenen Bildtheorien ab.[48]

Die Verschiebung der »Funktion der Sprache von der Objektdarstellung hin zu einem interpretationsbedürftigen Code« trägt ab dem 15., spätestens 16. Jahrhundert dazu bei, »daß alle Kunst zum interpretierbaren Text wird, selbst wenn – für eine Welt, die noch auf sicheren metaphysischen Grundfesten ruhte – die Interpretation vorgegeben war«.[49]

Die Literatur bzw. Sprachkunst und mit ihr die Ekphrasis bzw. das ekphrastische Prinzip erleben während der Renaissance einen emanzipatorischen Höhepunkt, der sie im Selbstverständnis als ästhetisch-epistemologischer Hybrid aus Geistigem und Sinnlichem gleichsam an die Spitze der Künste setzt. Ihr emanzipatorischer Affront gegen die in der Tradition Platons stehende höhere Valorisierung der »visuellen Epistemologie«[50] – in seiner Schrift Kratylos unterschied Platon erstmals zwischen natürlichen und arbiträren Zeichen – wird dann allerdings durch die im späten 17. Jahrhundert wieder propagierte und praktizierte Mimesis-Doktrin[51], die auch große Bedeutung für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte, zurückgedrängt zugunsten einer umgekehrten Hierarchisierung der Künste mit der Folge, dass nach Maßgabe der vorherrschenden (Theorie der) Ästhetik die bildenden Künste, allen voran die Bildhauerei, die Sprachkünste unter die Defensive der »ut pictura poesis« subordinierte. Als Medium hat die Literatur rezeptionsästhetisch zu verschwinden und das Gesagte als Gezeigtes transparent zu machen. Allerdings war auch diese Positionierung des nachantiken Paragone nicht unangefochten, gab es doch zum Beispiel in Edmund Burke einen großen Fürsprecher der Literatur, der mit starken Argumenten der semiotischen Unbestimmtheit des arbiträren sprachlichen Zeichens für eine Vorrangstellung des Literarischen optierte, das eben nicht »durch die physischen Grenzen ihres Nachahmungsobjekts eingeschränkt wird« und in der Prävalenz des Erhabenen vor dem nur Schönen seinen Ausdruck finden sollte.[52]

Besteht Ralf Simon zufolge ein Nachteil poetischer Texte darin, dass sie »Bilder prinzipiell nicht sichtbar machen« können und »sich deshalb in einer Defensive dem mächtigen Dispositiv gegenüber« befinden, »welches den Bildbegriff an die Sichtbarkeit bindet«,[53] so kann die relative Unbestimmtheit der durch Literatur evozierten Bildvorstellungen als ein Vorteil, zumindest als eine Kompensation gewertet werden, insofern durch sie zum einen ein bewusstes Spiel mit narrativ-visuellen Ambiguitäten getrieben und zum anderen die Imagination innerer Bilder stimuliert werden kann. Kann die Malerei das nicht auch? Sie schreibt die Bilder vor, sie macht sie eben sichtbar. In der ungegenständlichen Kunst hinwiederum kann es nicht darum gehen, den Betrachter zu fragen »Was siehst du«, in der Absicht, er möge im Ungegenständlichen Gegenständliches (wieder)erkennen.

Spätestens mit Nietzsche, präfiguriert schon bei Addinson und Burke,[54] wird das visuelle Medium der bildenden Künste als dominante bzw. dominierende Bezugsgröße der Literatur ersetzt durch die Inthronisation der Musik; Visualität bzw. Visualisierung und Räumlichkeit als ästhetisch-funktionale Essenz...

Erscheint lt. Verlag 25.11.2020
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Allegorie • Anspruchsvolle Literatur • Bildbetrachtung • Bilderzählung • Poetikvorlesung • Schattenfroh
ISBN-10 3-10-491204-1 / 3104912041
ISBN-13 978-3-10-491204-2 / 9783104912042
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