Die Gräber der Verdammten (eBook)
992 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491113-7 (ISBN)
C.J.Sansom studierte Geisteswissenschaften und promovierte im Fach Geschichte. Nach einem Jura-Studium arbeitete er als niedergelassener Rechtsanwalt in Sussex, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Insgesamt sind sieben Bücher in der Matthew-Shardlake-Serie erschienen, die weltweit über drei Millionen mal verkauft wurden. Der Stoff wurde als »Shardlake« für das Fernsehen verfilmt. Bis zu seinem Tod im April 2024 lebte der Autor in Brighton.
Christopher J. Sansom,1952 in Edinburgh geboren, studierte Geschichte und Jura, bevor er sich hauptberuflich dem Schreiben widmete. Seine Matthew-Shardlake-Serie ist preisgekrönt und ein internationaler Erfolg, weltweit wurden mehr als vier Millionen Bücher verkauft. Der Autor lebt in Brighton.
Prolog
Januar 1549
Ich befand mich in meiner Kanzlei in Lincoln’s Inn, als Master Parry mir durch einen Boten mitteilen ließ, ihn eilig aufzusuchen. Ich fragte mich, was wohl auf mich zukäme. Parry war Lady Elizabeths Comptroller, ihm oblagen die Finanzangelegenheiten ihres Haushalts, und ich war unter seiner Ägide tätig, seit unsere Königin, Catherine Parr, mich vor zwei Jahren, nach dem Ableben ihres Gemahls Heinrichs VIII., ihrer Stieftochter Elizabeth empfohlen hatte. Der alte König hatte jeder seiner beiden Töchter eine gewaltige Apanage hinterlassen – 3000 Pfund im Jahr –, die sie seinem Wunsche gemäß in Landbesitz wandeln sollten. Lordprotektor Somerset hatte beschlossen, Lady Mary bei der Wahl der Ländereien, die zum Verkauf standen, den Vortritt zu lassen; obschon ihr konservativer Glaube ganz und gar nicht mit seinen radikalen protestantischen Überzeugungen harmonierte, würde Mary, als Heinrichs älteste Tochter, immerhin den Thron besteigen, sollte dem jungen König Edward ein Leid geschehen. Ihr Wohlergehen lag zudem auch ihrem Vetter Karl am Herzen, dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, mit dem Somerset sich gut stellen musste. Elizabeth hingegen galt nicht viel. Doch da Mary inzwischen versorgt war und der Großteil ihrer Ländereien sich in Norfolk befand, sammelte Parry nun zusammenhängende Fluren für Elizabeth, die meisten davon in Hertfordshire. Wahrscheinlich war er auf ein vielversprechendes Stück Land aus ehemaligem Klosterbesitz gestoßen und erpicht darauf, dass ich es ihm schnellstens sichern sollte.
Wieder musste ich daran denken, wie viel ich doch jener liebenswerten Dame Catherine Parr zu verdanken hatte. Dass sie sich kurz nach König Heinrichs Tod mit Thomas Seymour vermählt hatte, dem Bruder des Protektors, einem ebenso charmanten und gutaussehenden wie skrupellosen und ruchlos ehrgeizigen Manne, hatte mich tief betrübt. Lady Elizabeth hatte weiterhin im Haushalt der beiden gelebt, ihn im vergangenen Mai jedoch unter einem dunklen Stern verlassen. Seymour habe sich dem erst vierzehnjährigen Mädchen in unziemlicher Absicht genähert, wurde gemunkelt. Und im vergangenen September war dann auch Catherine Parr verstorben, als sie Seymours Kind zur Welt brachte. Es war ein gewaltiger Schlag gewesen, und der Kummer darüber nagte noch immer an meinem Herzen.
Nachdem ich meinem Schreiber John Skelly mitgeteilt hatte, ich würde wohl eine Weile fortbleiben, begab ich mich zu Fuß zu Master Parrys Kanzlei unweit der Knightrider Street – er war kein Anwalt und somit auch kein Mitglied der Inns of Court. Es war ein frostig kalter Tag; noch immer säumte schmutziger Schnee die Straßen, und so achtete ich inmitten der geschäftigen Londoner Bürger sorgsam auf meine Schritte. Wie viele Bettler es neuerdings gab, bemerkte ich kopfschüttelnd. Eingemummt in allerlei Lumpen, die sie vor der Kälte schützen sollten, kauerten sie in den Hauseingängen.
Die zunehmende Verelendung war eine der vielen Veränderungen, die in den vergangenen zwei Jahren über das Land gekommen waren. Heinrich hatte die Macht an einen von ihm berufenen Thronrat übertragen, bis der elfjährige König Edward volljährig wäre. Dieser Thronrat hatte die Regierungsgewalt jedoch schnell an Edwards älteren Onkel abgegeben, Edward Seymour, Herzog von Somerset, der seitdem im Namen des Königs regierte. Vielleicht konnten sich die Mächtigen – nachdem das Land mit Heinrich VII. und Heinrich VIII. sechzig Jahre lang fest in der Hand eines monokratischen Herrschers gewesen war – die Regierungsgeschäfte nur in der Hand eines einzelnen Mannes denken.
Nach fünf Jahren Krieg gegen Frankreich und Schottland hatte Heinrich das Königreich bei seinem Tode im Frieden hinterlassen. Dieser war auch dringend vonnöten; Heinrichs Kriege hatten das Land in den Bankrott getrieben und waren mit der Abwertung des Münzgeldes finanziert worden: Man hatte das Silber mit Kupfer gestreckt. Diese legierten Münzen wurden von den Händlern nicht mehr zum Nennwert entgegengenommen, und so hatten sich binnen zehn Jahren die Preise fast verdoppelt. Die Auswirkungen waren – insbesondere für die ärmeren Klassen – katastrophal, denn die Löhne blieben dieselben.
Doch Protektor Somerset hatte prompt einen erbitterten Krieg gegen Schottland losgetreten und darauf gehofft, von der wachsenden Zahl schottischer Protestanten unterstützt zu werden und durch die Vermählung der sechsjährigen Mary, Königin von Schottland, mit König Edward beide Königreiche zu vereinen. Er hatte in den schottischen Lowlands bis hinauf zum Fluss Tay eine Reihe von Festungen im italienischen Stil errichten lassen, die er für unbezwingbar hielt. Die Schotten jedoch hatten allenthalben erbitterten Widerstand geleistet und die Festungen, schlecht gebaut, eine nach der anderen eingenommen. Mary indes war nach Frankreich geschickt worden, das mit Schottland im Bunde war und dieses folglich mit Truppen unterstützte. Obschon dieser Krieg ein einziges Desaster war, wollte sich der Protektor partout nicht geschlagen geben. Und während seine Soldaten in den verbliebenen Festungen vergeblich auf ihren Sold warteten und in Scharen desertierten, plante er angeblich bereits einen weiteren Feldzug.
Wieder saß ein Bettler zitternd vor Kälte an eine Mauer gelehnt, und ich warf ihm eine Münze in den Hut. Dem Manne fehlte ein Bein, wahrscheinlich war er ein Kriegsveteran. Der Protektor beteuerte oft und gern, ein Freund der Armen zu sein, und schob die wirtschaftlichen Probleme auf die ungesetzlichen Einhegungen bäuerlicher Weideflächen durch die Grundherren, die ihre Pächter vertrieben, um den einträglicheren Schafen Platz zu machen. Im vergangenen Jahr hatten die Bauern in Hertfordshire aufbegehrt, worauf man ihnen Reformen versprochen hatte.
Ich ging den Hügel hinunter, bewunderte, wie sich der Glockenturm der St Paul’s Cathedral vor dem eisblauen Himmel abzeichnete, und musste daran denken, wie bei der Entfernung des herrlichen Lettners aus der Kathedrale zwei Handwerker ihr Leben gelassen hatten. Traditionalisten hatten darin eine Strafe Gottes vermutet, denn ein religiöser Wandel, bei weitem größer als unter König Heinrich, erschütterte das Land. Unter dem Protektor hatten nun eindeutig die radikalen Protestanten den Sieg errungen. Bilder waren aus den Kirchen entfernt, Wandgemälde weiß übertüncht worden. Die sogenannten Chantries, Totenmesskapellen, waren abgeschafft und ihre Vermögen der Krone übertragen worden. Und bald schon würde es ein neues Gebetbuch in englischer Sprache geben. Angeblich sollte darin die Heilige Wandlung – mit dem Glauben, dass der Priester Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi wandle – durch eine Kommunion ersetzt werden, die lediglich des Opfers Christi gedachte. Noch drei Jahre zuvor wäre diese Sichtweise mit dem Scheiterhaufen bestraft worden. Mich schauderte bei dem Gedanken an die Hinrichtung Anne Askews in Smithfield, der ich hatte beiwohnen müssen.
Ich betrat die Knightrider Street, erreichte Parrys Kanzlei und stampfte mir den Schnee von den Stiefeln, ehe ich das Gebäude betrat. Zu meiner Überraschung war die vordere Amtsstube leer. Ich durchschritt sie also und klopfte an Parrys Tür. Eine Stimme hieß mich eintreten. Ich tat es und blieb vor Staunen wie angewurzelt stehen. Der Stuhl hinter dem breiten Schreibpult war belegt, aber nicht von der kräftigen Gestalt Thomas Parrys, sondern durch einen mageren, grauhaarigen Mann in schwarzer Seidenrobe, mit der Goldkette des Lordkanzlers um den Hals. Lord Richard Rich, mein ältester Feind. Hinter ihm stand, wie ich mit fast ebenso großem Staunen zur Kenntnis nahm, die hagere, braunbärtige Gestalt William Cecils. Ich hatte drei Jahre zuvor mit Cecil zusammengearbeitet, als er in Catherine Parrs Diensten stand. Seitdem war er rasch aufgestiegen. Er war noch keine dreißig und einer der maßgeblichen Sekretäre des Protektors, schon jetzt ein mächtiger Mann. Als ich mit ihm zusammengearbeitet hatte, war er mir ein Freund gewesen, dabei wusste ich schon damals, dass er den eigenen Erfolg, und die protestantische Sache, über alles stellte. Und jetzt war er mit Rich im Bunde. Ich blickte ihn fragend an. Cecils hervortretende Augen bohrten sich in die meinen, aber er sagte nichts, während Rich mich wölfisch beäugte.
Ich blinzelte, gänzlich überrumpelt, und fragte: »Wo ist denn Master Parry?«
»Im Tower«, entgegnete Rich mit einer Stimme, so eisig wie das Wetter.
Ich starrte ihn an. In strengem, anklagendem Tone fuhr er fort, wobei er mich nicht aus den Augen ließ: »So wie Kat Ashley, die führende Hofdame von Lady Elizabeth, und etliche mehr. Sie stehen im Ruch, mit Thomas Seymour eine Verschwörung angezettelt zu haben. Lady Elizabeth selbst wird in Hatfield von Sir Robert Tyrwhit befragt.«
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Mit zitternder Hand nach einem Stuhlrücken greifend, um nicht zu fallen, fragte ich: »Was wirft man Lord Seymour denn vor?«
Rich wandte sich lächelnd an Cecil. »Seht Ihr, Herr Sekretär, nun hat er die Klinge am Hals, da alles aufgedeckt ist.« Cecil maß mich weiterhin aus teilnahmslosen Augen. Rich beugte sich über Parrys Schreibpult und verschränkte die langen Finger ineinander. Seine Stimme wurde tief vor Entrüstung.
»Da fragt Ihr noch? Ihr solltet lieber fragen, wessen man ihn nicht beschuldigt. Als Lord Admiral machte er mit den Freibeutern gemeinsame Sache, um an ihrer Beute teilzuhaben, statt unsere Gewässer von ihnen zu befreien. Er hat das Oberhaupt des Münzamtes in Bristol bestochen, um Münzen zur...
Erscheint lt. Verlag | 23.9.2020 |
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Reihe/Serie | Matthew Shardlake | Matthew Shardlake |
Übersetzer | Irmengard Gabler |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aufstände • Bestsellerserie • David Penny • Der Anwalt des Königs • Diamond Dagger Award • Elizabeth I. • Großgrundbesitzer • Historischer Kriminalroman • London • Matthew Shardlake • Norwich • Rebecca Gablé • Rebellion • Robert Kett • Tombland |
ISBN-10 | 3-10-491113-4 / 3104911134 |
ISBN-13 | 978-3-10-491113-7 / 9783104911137 |
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