Das Geheimnis von Shadowbrook (eBook)
400 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76398-7 (ISBN)
Die junge Botanikerin Clara Waterfield wird 1914 aus London auf ein Anwesen nach Gloucestershire gerufen, um dort ein Palmenhaus einzurichten. Sie findet einen üppigen, verwunschenen Garten vor - doch das clematisbewachsene Haus wirkt seltsam abweisend, die meisten Räume sind verschlossen und der Besitzer, Mr. Fox, ist nur selten anzutreffen -, und nachts scheint es zu spuken. Doch Clara macht sich unerschrocken daran, die Geheimnisse von Shadowbrooks zu ergründen und macht dabei eine ungeheuerliche Entdeckung, die ihr weiteres Leben verändern wird ...
Ein fesselnder Roman um eine mutige Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist. Ein atmosphärischer, bildreicher Pageturner am Vorabend des Ersten Weltkriegs - aber auch ein Roman über das, was von uns bleibt.
Susan Fletcher wurde 1979 in Birmingham geboren und lebt in Stratford-upon-Avon. Sie hat mehrere Romane geschrieben, gleich für ihren ersten, <em>Eve Green</em>, erhielt sie den Whitbread First Novel Award.
I
Mit meinem Gerüst stimmt etwas nicht. Also mit meinem Skelett – dem Teil von mir, über den alles andere gespannt, an dem alles befestigt ist. Ich habe Knochenmark und Hohlräume, ich habe die glatten, runden Enden, die sich in Gelenke fügen – es fehlt kein einziges Teil. Aber meine Knochen sind zerbrechlich. Sie knacken bei jeder Bewegung. Als Kind habe ich mir durch die kleinste Geste, wenn ich nur den Kopf hob, Knochenbrüche zugezogen. So leicht, dass selbst die Ärzte erschrocken zurückzuckten und den Kopf schüttelten: völlig marode Knochen.
Die lateinische Bezeichnung meines Leidens ist zu lang, als dass man sie beiläufig erwähnen könnte. Osteogenesis imperfecta. Zweiundzwanzig Buchstaben, die den Kiefer knirschen lassen und die wir anfangs langsam üben mussten. Meine Mutter flüsterte die beiden Worte wie ein Gebet oder eine Beschwörungsformel. Auch ich sprach sie, wenn ich allein war, manchmal vor mich hin. Aber wir verwarfen sie schon bald und ersetzten sie durch Claras Knochen. Das hatte ich in den Zimmern und auf den Fluren des Krankenhauses aufgeschnappt – und diese wesentlich greifbareren, vertrauteren Worte trugen in sich, dass dieses Leiden mein eigenes war. Dass es in ganz London oder sonst wo niemand anderen gab, dessen Rippen brachen, wenn er nieste. Dessen Zähne abbrachen, wenn er mit einem Löffel dagegenstieß.
Inzwischen hat die Krankheit mich weniger fest im Griff. Ich bin immer noch von seltsamer Gestalt. Das Weiße meiner Augen schimmert immer noch bläulich – so wie Milch im Glas. Und meine Haut ist an manchen Stellen blasser – nämlich da, wo sie sich über verheilte Knochenbrüche strecken muss: eine hervorstehende Rippe, mein eingedrücktes Schlüsselbein. Darum werde ich diese lateinische Bezeichnung und ihre Bedeutung nie ganz loswerden. Doch jetzt bin ich wenigstens ausgewachsen. Meine Knochen sind stärker geworden, sie haben sich gefestigt.
Aber als Kind brach ich sie mir oft. Ich lebte in einer Welt aus Ärzten und Schienen, aus Tinkturen, die mir seltsame Knochenträume bescherten. Immer wieder schwoll ich irgendwo an, Blutergüsse wanderten über meinen Körper wie Stürme oder Fluten – sanft, in sämtlichen dunklen Schattierungen. Der erste Bruch, an den ich mich erinnern kann, widerfuhr mir im Winter: Ich stand auf der Treppe vor der Haustür und bestaunte den Schnee, und das hörbare Knacken in meinem Arm wurde nicht durch einen Sturz verursacht, sondern durch meine Mutter, die mich plötzlich packte und festhielt, um mich vor einem Sturz zu bewahren. Sie war ganz richtig ihrem Instinkt gefolgt, doch ihr Griff brach mir den Oberarmknochen – und ihr fast das Herz. Untröstlich saß sie an meinem Bett, wiegte sich und murmelte vor sich hin.
Mal brach ich mir auf der Regent Street den Kiefer. Mal stieß ich mit einem Passanten zusammen und brach mir die Rippen, worauf ich jäh den Atem ausstieß und auf dem Boden zusammensank, als hätte man die Luft aus mir herausgelassen. Mal kugelte ich mir auf dem Trafalgar Square die Schulter aus, als ich die Hand nach einem vorbeiflatternden Vogel ausstreckte – und mein Aufschrei ließ alle anderen Vögel auffliegen, so viele, dass ich ihren Luftzug spürte. Danach verfügten die Ärzte, dass mein Leben von nun an ausschließlich drinnen stattfinden müsse. Bis ich ganz ausgewachsen wäre, sollte ich zu meiner eigenen Sicherheit das Haus nicht mehr verlassen. Als meine Mutter protestierte – Aber sie ist doch ein Kind! –, verwiesen sie auf die anderen, kleineren Knochen in meinem Nacken. Die Halswirbel und ihre Funktion. »Begreifen Sie, was das für Ihre Tochter bedeuten könnte, Mrs Waterfield?« Und dann erwähnten sie noch den sehr fragilen Teil meines Schädels, der aufbrechen könnte wie ein Ei.
Zu Hause wurde alles gepolstert. Mit Samt und Daunen, bestickten Kissen, Perserteppichen und Seide. Wir hatten einen Globus. Und ein Schaukelpferd, das ich zwar anfassen, auf dem ich aber nicht reiten durfte. Meine Eltern brachten mir aus der turbulenten Welt draußen Dinge mit, von denen sie glaubten, dass sie mir vielleicht fehlen könnten: Tannenzapfen und Taubenfedern; den Pferdegeruch an den roten Handschuhen meiner Mutter, den ich mit geschlossenen Augen einsog. Sie erzählten mir, wie der Fluss in der Dämmerung ausgesehen hatte. Wie die Weihnachtssänger gesungen hatten, trotz des Regens. Als Mr Jamrachs Menagerie einen Bären erwarb, streckte meine Mutter die Arme weit empor und sagte: »Der Bär ist so groß, Clara! Und so breit!«
In jedem Zimmer standen Blumen. An den Wänden hingen Karten ferner Länder. Einmal im Herbst bat ich um echtes Laub von den Bäumen, über die ich in Büchern gelesen hatte – Bergahorn, Buche, Kastanie, Eiche –, und meine Mutter streifte durch sämtliche Londoner Parks. Jeden Tag beschrieb sie mir, was sie gesehen hatte: einen wunderhübschen Hut oder einen eleganten Schnurrbart oder ein Pferd mit einem sternförmigen Abzeichen auf der Stirn. Sie berichtete von Schornsteinfegern und Fuchsstolen – und wenn sie mal nicht aus dem Haus ging, erzählte sie mir eine ihrer Geschichten aus Indien und gab mir das Gefühl, selbst weitgereist und weltgewandt zu sein. Möbelecken waren mit Stoff abgepolstert. Glaswaren wurden außerhalb meiner Reichweite aufbewahrt. Um meine Zähne zu schonen, dünstete Millicent – unser Dienstmädchen – das Obst, bis es jegliche Form und jeden Geschmack verloren hatte. Sie buk extra weichen Lebkuchen.
Vor allem aber gab es bei uns zu Hause Bücher. Bücher waren mein Trost. Denn wenn ich schon nicht in der strahlenden, fabelhaften Welt da draußen herumlaufen konnte, so konnte ich wenigstens drinnen von ihr lesen. In Büchern, so sagte man mir, stünde das alles drin. Und so wurde das Esszimmer zu meinem siebten Geburtstag in eine Bibliothek verwandelt, ein Zimmer voller Regale und Karten und Gobelins, mit einer Leselampe mit Fransen am Schirm und einem Konzertflügel, auf dem ich wegen meiner Finger und Handgelenke nicht spielen konnte – dafür spielte meine Mutter, und zwar sehr gut. Es gab eine Chaiselongue, die zunächst moosfarben war. Doch je mehr ich las, je mehr Karten ich studierte, desto mehr verwandelte sich das tiefe, samtige Grün in die Farbe von Kolibriflügeln oder von Othellos Neid oder von Edelsteinen, die am Äquator im Boden schlummerten. Das Grün eines winzigen Ochsenfroschs.
Meine Mutter unterrichtete mich. Sie hatte betont, dass sie mehr als genug Bildung besitze, um die Hauslehrerin ihres einzigen Kindes zu sein – und stimmte das etwa nicht? Chemie und Multiplikation, Sternbilder und französische Verben. Und natürlich kannte sie das menschliche Skelett, seit meiner Geburt hatte sie alles über sämtliche Knochen gelernt – wo sie sich befanden, was ihre Funktion war, wie sie auf Lateinisch hießen. Welches Geräusch sie machten, wenn sie brachen. Sie konnte Knochen aufsagen wie die Kontinente.
Wir hatten Bücher über die arktische Tundra. Über Muscheln. Über Dinosaurier. Darüber, wie Bienen Honig machen. Über den Krimkrieg. Bis in den Abend redeten wir über die höchsten Berge der Welt und Magellans Route und die Eigenschaften von Quecksilber und über Eulenreviere und die Suffragette Emmeline Pankhurst – »Verstehst du mich, Clara?« –, über die griechischen Göttinnen und Götter und ihre späteren römischen Namen. Manchmal klopfte ich an Patricks Tür, er sah vom Schreibtisch auf und ließ den Füller sinken. »Was hast du heute gelernt?« Und freudestrahlend gab ich Auskunft: Saturn ist der Planet mit den Ringen. König Richard hat die ersten Kreuzzüge angeführt. Und er sagte Du meine Güte!, als hätte er das alles nicht gewusst.
In unserer Bibliothek gab es auch Romane. Die las meine Mutter. Sie verschlang sie förmlich: Milton und Brontë und aus dem Russischen übersetzte Bücher, so dick, dass sie mir leicht einen Knochen hätten brechen können. Ich aber las lieber vom wirklichen Leben. Ich wollte Fakten – niedergeschrieben von Menschen, die tatsächlich geklettert oder geschwommen waren, die tatsächlich getanzt oder sonst wie getan hatten, worüber sie schrieben, Menschen, die sich das alles nicht nur ausgedacht hatten. Zum Geburtstag wünschte ich mir immer wieder Almanache. Ich mochte Kalender, ihrer geordneten Form wegen, wo alles seinen Platz hatte. Und seither frage ich mich, ob ich damit etwas kompensieren wollte. Ob ich, weil ich meinem eigenen Gerüst nicht ...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2019 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | House of Glass |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Canterville • Daphne du Maurier • Der geheime Garten • Die Schlange von Essex • England • Erster Weltkrieg • Frauenroman • Garten • Geheimnis • Geister • Geschenkbuch • Geschenke für Frauen • geschenke für freundin • Geschenk für Mama • Glasknochenkrankheit • Gloucestershire • Gothic novel • House of Glass deutsch • insel taschenbuch 4820 • IT 4820 • IT4820 • Jane Eyre • Kew Gardens • London Greater London • Marie Hermanson • Mysteriös • Mystery • Pageturner • Palmenhaus • sarah perry • Sarah Waters • Schauerroman • Schmöker • schöne Bücher • Starke Frauen • Verwunschen |
ISBN-10 | 3-458-76398-8 / 3458763988 |
ISBN-13 | 978-3-458-76398-7 / 9783458763987 |
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