Aus dem Wald hinausfinden -  Margaret Atwood,  Caspar Shaller

Aus dem Wald hinausfinden (eBook)

Ein Gespräch mit Caspar Shaller
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
160 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70104-0 (ISBN)
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Als der Journalist Caspar Shaller Margaret Atwood im Herbst 2018 in Toronto trifft, ist er erstaunt, wie klein »die kanadische Königin der Literatur« (Freundin) ist und wie groß ihre Sonnen- brille. Im Café sprechen sie zwei Tage lang über Atwoods Gedichte und Romane, über Totalitarismus und Religion, über die Post- Truth-Ära, die verschiedenen Facetten von Feminismus, die #MeToo-Debatte und über Beyoncé. Trumps Amerika kennt Atwood so gut wie Kanadas Wälder, wosie ihre Kindheit fernab städtischer Zivilisation verbracht hat. Die unfreiwillige Prophetin der ökologischen Katastrophe und des wiedererstarkenden Faschismus erzählt auch davon, wie die rot-weißen Roben der Figuren aus ihrem dystopischen Roman »Der Report der Magd« zu einem Meme der Anti-Trump-Bewegung wurden und wie sie selbst sich heute politisch engagiert. Hellwach, kämpferisch und mit tiefer Menschenkenntnis analysiert Atwood das Zeitgeschehen und beweist, dass sie auch mit achtzig Jahren nichts an intellektueller Brillanz, politischem Gespür und Gerechtigkeitsstreben eingebüßt hat - ebenso wenig wie an Humor.

MARGARET ATWOOD, geboren 1939 in Ottawa, ist eine der bedeutendsten Gegenwartsautorinnen. Sie veröffentlichte neben Romanen, Essays, Kurzgeschichten und Lyrik auch Kinderbücher. Ihr Werk wurde vielfach übersetzt und ausgezeichnet. Margaret Atwood lebt in Toronto.

MARGARET ATWOOD, geboren 1939 in Ottawa, ist eine der bedeutendsten Gegenwartsautorinnen. Sie veröffentlichte neben Romanen, Essays, Kurzgeschichten und Lyrik auch Kinderbücher. Ihr Werk wurde vielfach übersetzt und ausgezeichnet. Margaret Atwood lebt in Toronto.Caspar Shaller, geboren 1989, ist freier Journalist und schreibt regelmäßig für Die Zeit, Das Magazin und Die Wochenzeitung – am liebsten über die Zukunft der Menschheit, sei es in politischen Kämpfen, aus wissenschaftlicher Perspektive oder als literarische Fiktion.

»Bitte nicht stören!«


Seit 1961 haben Sie siebzehn Romane geschrieben, zehn Bände mit Erzählungen, zwanzig Gedichtbände, zehn Sachbücher, sieben Kinderbücher, mehrere Theaterstücke und Libretti und sogar eine Graphic Novel. Wie schafft man einen solchen Output? Haben Sie beim Schreiben eine Routine? Halten Sie sich an einen starren Zeitplan wie Thomas Mann?

Ich fände es großartig, mich an eine fixe Routine zu halten, aber das ist Männersache. Es gibt eine Kurzgeschichte von Henry James, die diesen Unterschied zeigt: Ein Schriftsteller wohnt in einer charmanten Villa auf dem Land. Er hält sich an eine wundervoll ausgearbeitete Routine, er steht morgens auf, jemand serviert ihm ein schön zubereitetes Frühstück, er geht in sein schönes Arbeitszimmer und schreibt, und jemand bringt ihm ein silbernes Tablett mit etwas Tee, und dann bringt ihm jemand die Post, und er schaut sich das an, und dann hat er ein charmantes Mittagessen mit ein paar ausgewählten geladenen Gästen, wo seine charmante Frau die charmante Gastgeberin spielt. Mein Leben hat nie so ausgesehen. Ihr Leben hat wohl auch nie so ausgesehen. Also diese romantische Vorstellung, dass man sich an eine Routine hält und nicht unterbrochen wird, die habe ich noch nie erlebt. Ich sammle Schilder von Hotels auf denen steht: »Bitte nicht stören!«, »Ich schlafe!«, »!no molestar!«, all diese Dinge, und ich hänge sie an meinen Türknauf. Aber niemand schenkt diesen Schildern die geringste Beachtung. Mein Ehemann, meine Kinder, Freunde von meinen Kindern, Leute, die mit mir arbeiten, sie alle marschieren in mein Arbeitszimmer und unterbrechen mich ständig.

In den Siebzigerjahren haben Sie auf einer Farm in Ontario gelebt. Hatten Sie wenigstens da Ruhe?

Schon gar nicht auf dem Bauernhof! Da waren es auch noch zusätzlich die Nachbarn, die auf eine Tasse Kaffee vorbeikamen. Wir mussten sie reinlassen. Man kann nicht Nein sagen, geh weg, ich schreibe. Das kann man seinen Nachbarn, den Bauern, nicht antun. Denn wenn dein Auto im Winter in einen Graben fährt, ziehen sie dich vielleicht nicht raus!

Von Zeit zu Zeit habe ich was gemietet, um einen ruhigen Ort zum Schreiben zu haben. Ich habe oft gewechselt, manchmal schrieb ich zu Hause, mal irgendwo in der Stadt. Manchmal habe ich mich in die Ecke eines obskuren Frozen-Yogurt-Cafés zurückgezogen. Niemand trinkt wirklich etwas in einem Frozen-Yogurt-Café. Die Leute kommen nur herein, um ihren Frozen Yogurt zu kaufen und gehen wieder weg. Niemand erwartet, mich dort zu sehen, also sehen sie mich auch nicht.

Es gibt im Schreiben also einen Unterschied zwischen Frauen und Männern?

Es gab einmal einen Unterschied, vielleicht ist das heute anders. Vielleicht sind Frauen strenger geworden, vielleicht schreien sie heute die Leute an, die sie unterbrechen. Geht weg! Das ist nicht direkt eine Folge der wirtschaftlichen Situation, die Frauen und Männer dabei unterscheidet. Es geht darum, wer Regeln festlegen darf und erwarten kann, dass andere sie befolgen. Die Regel ist also, dass ich nicht unterbrochen werden will. »Papa ist in seinem Arbeitszimmer und arbeitet, stört ihn nicht.« Niemand sagt, dass Mama in ihrem Arbeitszimmer ist. »Aber ich habe mir in den Finger geschnitten!« »Oh, Schatz, ich gebe dir ein Pflaster.«

Das ist wie die Geschichte mit den Schmerzen. Es gibt dieses Altweibermärchen, dass Männer sich mehr beschweren, wenn sie krank sind oder Schmerzen haben, weil sie eigentlich Weicheier sind. Frauen wollen sich, wenn sie diese Geschichte erzählen, stärker machen und den Männern, die sie unterdrücken, hinter ihren Rücken die Macht absprechen. Dabei beschweren sich Männer nicht mehr, weil sie schmerzempfindlicher sind, sondern weil sie erwarten, dass jemand sich um sie kümmert, wenn sie sich beklagen. Niemand kümmert sich aber um Frauen, wenn sie sich beklagen.

In einem anderen Gesprächsband von Kampa Salon sagt der Philosoph, Schriftsteller und Kulturkritiker George Steiner, wenn man ein Kind habe, sei es weniger wichtig, das Leben auf ästhetische, philosophische oder moralische Weise zu gestalten – so erklärt er, dass es weniger Schriftstellerinnen gibt als Schriftsteller. Es hat mich ziemlich überrascht, so etwas im 21. Jahrhundert zu lesen. Die Journalistin, die das Interview führt, die französische Literaturkritikerin Laure Adler, antwortet dann mit einer Liste von drei berühmten Schriftstellerinnen: Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Simone Weil. Aber dann sagt sie, dass keine von ihnen Kinder hatte.

Das ist bullshit. Es gibt viele Schriftstellerinnen, die Kinder haben. Was sich im 20. Jahrhundert geändert hat ist, dass Frauen nicht mehr fünfzehn Kinder bekommen. Wenn Sie fünfzehn Kinder haben, ist es viel unwahrscheinlicher, dass Sie ein Buch schreiben, es sei denn, Sie haben viele Bedienstete. Frauen waren meist sehr beschäftigt. Wenn sie tatsächlich beeinflussen konnten, wie viele Kinder sie bekamen, änderte sich alles. Schriftstellerinnen hatten manchmal ein, zwei, drei oder sogar vier Kinder, aber nicht fünfzehn. Virginia Woolf hatte keine Kinder, sodass das berühmte »Zimmer für sich allein« wirklich ihr allein gehörte. Sie musste es nicht mit einem Schild versehen, auf dem stand: »Bitte nicht stören!« Aber wie gesagt, selbst mit so einem Schild kommt dein Kind rein und sagt: »Mama, ich kann die Spaghetti nicht finden! Mama!«

»Wenn Sie fünfzehn Kinder haben, ist es viel unwahrscheinlicher, dass Sie ein Buch schreiben, es sei denn, Sie haben viele Bedienstete.«

Glauben Sie, dass das zu einem Unterschied im Schreibstil führt?

Ich habe keine Ahnung. Der einzige Weg, wie wir rausfinden könnten, ob Frauen und Männer anders schreiben, wäre, die Texte von vielen männlichen und weiblichen Autoren zu analysieren und diese Daten dann auszuwerten. Zu Ihrem Glück haben wir das 1970 an der Uni auch getan. Wir haben uns viele verschiedene Romane angesehen und sind dann zu dem Schluss gekommen: Es gibt keine nennenswerten Unterschiede im Schreibstil von Männern und Frauen.

Der Unterschied zwischen Texten aus verschiedenen literaturgeschichtlichen Epochen war viel größer als der innerhalb einer Epoche zwischen Autorinnen und Autoren. Zum Beispiel findet man im 19. Jahrhundert viele lange, verschachtelte Sätze, unabhängig vom Geschlecht. Ein großer Bruch erfolgt in der englischen Literatur im Verlauf des 17. Jahrhunderts, als Romane aufkommen. Da taucht Jonathan Swift auf mit seinem klaren Stil. Aber auch in dieser Epoche konnten wir keinen Unterschied finden im Schreiben von Frauen und Männern, was uns ziemlich erstaunt hat. In den frühen Zwanzigerjahren erlebt die englische Literatur noch einmal einen höchst interessanten Bruch: Der Schreibstil wird viel einfacher, direkter, unvermittelter, weniger gedrechselt. Das berühmte Beispiel dafür ist Hemingway, aber dieselbe Veränderung haben wir auch bei Texten gefunden, die von Frauen geschrieben wurden.

Die Variable, die das Schreiben anders wirken lässt, ist also nicht das Geschlecht, sondern die Epoche. Wo wir allerdings einen großen Unterschied fanden, ist bei den Themen, über die Schriftsteller oder Schriftstellerinnen schrieben. Es geht nicht darum, wie man über etwas schreibt, sondern worüber man schreibt. Und dieser Unterschied ist im 20. Jahrhundert zuerst größer geworden, bevor er sich wieder etwas angeglichen hat. Denn davor, im 19. Jahrhundert, wo erstmals viele Frauen geschrieben und auch veröffentlicht haben, war Sex als Thema in der Literatur ohnehin verboten. Zum Glück für die Schriftstellerinnen.

Warum zum Glück?

Weil Schriftstellerinnen nicht über Sex schreiben konnten. Sie konnten den Besuch im Puff nicht beschreiben – denn sie kamen ja nicht rein, sie wussten gar nicht, wie es ist im Puff. Außer sie arbeiteten dort, aber diese Frauen haben nun mal selten Bücher verfasst, sie hatten andere Probleme. Jungen sehen Frauen immer dabei zu, was sie den ganzen Tag so machen. Aber irgendwann gehen diese Jungen los, um Männersachen zu machen, wie Krieg führen oder in den Puff gehen. Dahin konnten ihnen die Frauen, die wahrscheinlich Schriftstellerinnen werden würden, nicht folgen. Frauen durften zum Beispiel nicht an die Kunsthochschule, weil sie da nackte Frauen hätten malen müssen! Das durfte nicht sein, Frauen durften keine nackten Frauen sehen.

Es gab also viele Erfahrungen, die Frauen nicht machen konnten, die sie nicht einmal beobachten konnten. Also observierten sie aus ihrer Warte, was zur Observation zur Verfügung stand. Deswegen schreibt Jane...

Erscheint lt. Verlag 4.11.2019
Reihe/Serie Kampa Salon
Kampa Salon
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 80. Geburtstag • Anti-Trump-Bewegung • Der Report der Magd • Die Zeuginnen • Donald Trump • Feminismus • Friedenspreis • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels • Globale Erwärmung • Handmaid's Tale • Kanada • Klimawandel • #metoo • metoo • Netflix • Schwerpunkt Buchmesse • Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2020 • Serie • The Testaments • Umweltaktivistin
ISBN-10 3-311-70104-6 / 3311701046
ISBN-13 978-3-311-70104-0 / 9783311701040
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