Ein Septembertag in Leer. Ostfrieslandkrimi -  Ele Wolff

Ein Septembertag in Leer. Ostfrieslandkrimi (eBook)

(Autor)

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2016 | 1. Auflage
200 Seiten
Klarant (Verlag)
978-3-95573-437-4 (ISBN)
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An einem Septembertag verschwindet die vierjährige Kyra spurlos – ein Ereignis, welches die Welt ihrer Mutter Caroline völlig aus den Angeln hebt. Sie und ihr Mann Enno entfremden sich zunehmend, und erst nach Jahren gelingt es Caroline, einen Neuanfang zu starten. Doch die Trauer und die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Tochter bleiben.
Dann – fast 20 Jahre später – trifft sie Theo Schneider wieder, beide arbeiten im selben Hotel in Leer. Er war damals verdächtig, etwas mit dem Verschwinden der kleinen Kyra zu tun zu haben. Wie in einem Wahn spioniert Caroline Theo Schneider hinterher. Was ist damals wirklich passiert? Ist Kyra womöglich noch am Leben? Caroline ist fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, egal wie...

1. Kapitel


»Auch ein langer Weg beginnt mit dem ersten Schritt.«

Diese Weisheit meiner Großmutter Schnabelhauser ging mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Das erste Mal hatte ich den Spruch gehört, als ich mit verzweifelter Miene vor meinem neuen Kinderfahrrad stand. In kindlicher Verzweiflung hatte ich gerufen: »Ich kann das nicht.«

Worauf meine Großmutter mich sanft auf den Sattel schob, mit der Hand meinen Rücken stützte und mit der anderen Hand meinen Lenker umklammerte. »Du musst nur den ersten Schritt tun, mein Kind«, sagte sie mit vertrauter Stimme. »Der Rest kommt schon von alleine.«

Mit leicht angewinkelten Armen, auf meinen linken Ellenbogen gestützt, betrachtete ich meinen Ehemann. Enno hatte die Lippen im Schlaf leicht gekräuselt. Er stieß bei jedem Atemzug ein leicht pfeifendes Geräusch aus. Es war früh am Morgen. Die Welt war noch nicht in den tosenden, lauten Modus des Alltags eingetaucht.

War es wirklich so, dass man nur den ersten Schritt tun musste, um an sein Ziel zu gelangen? Ich hatte da so meine Zweifel.

Langsam legte ich mich wieder auf mein Kissen zurück. Wo waren nur die Jahre geblieben? Enno hatte bereits sein vierzigjähriges Berufsjubiläum als Werbefotograf hinter sich. Ich arbeitete schon seit ein paar Jahren als Köchin in einem Hotel.

Meine Lider wurden schwer. Ich ließ es einfach zu, dass meine Augen zufielen. Die Dunkelheit tat mir gut. Sie umgab mich wie ein Schutzschild. Die Welt da draußen war hinter der dünnen Haut meiner Augenlider ausgesperrt. Ganz bewusst atmete ich tief ein und mit einem leichten Pusten wieder aus. Meine Rippen dehnten sich, mein Herz bekam Platz. Ich konnte wieder frei atmen.

Wann waren die dunklen Jahre etwas heller geworden? Konnte ich einen bestimmten Tag nennen, an dem mein seelisches Gleichgewicht nicht mehr bei jeder Unwegsamkeit sofort aus dem Takt geriet?

Lange und oft hatte ich schon darüber nachgedacht. Es war wohl der Augenblick, in dem ich die wunderbare Welt des Kochens wiederentdeckt hatte.

Ich hätte mich gleich zur Köchin ausbilden lassen sollen, überlegte ich. Den Umweg über die trockene Arbeit bei einem Rechtsanwalt empfand ich jetzt als überflüssig. Aber alles hatte seine Zeit. Das hatte ich schmerzlich erfahren.

Der Moment, in dem ich das erste Mal eine Restaurantküche betreten hatte, bescherte mir einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft. Die Leidenschaft, die Kreativität, die man durchaus auch beim Kochen benötigte, erfüllte mich. Der Geruch der frischen Lebensmittel. Das Knistern eines frischen Salates. Der Geruch der Gewürze. Es faszinierte mich, wenn aus einer schmutzigen, harten Sellerieknolle vom Markt am Ende ein wohlschmeckender Salat oder ein leckeres Gemüse entstand. Nie hatte ich mit jemandem über dieses intensive Gefühl gesprochen, denn das würde sicher niemand verstehen. Das Leben fühlte sich für mich wieder so wahrhaftig an. Ich glaubte jedoch nicht, dass jemand das nachvollziehen könnte.

Enno hatte meine Kochkünste schon immer geschätzt. »Das liegt dir im Blut. Besonders die Süßspeisen. Aber kein Wunder. Bei euch Österreichern ist die Kunst der Zubereitung von Mehlspeisen mit in die DNA einprogrammiert.« Dabei hatte er schelmisch gelacht und sich über den frischen Palatschinken hergemacht.

Enno hatte sich zur Seite gedreht. Sein Atem war jetzt nicht mehr zu hören. Langsam schob ich mich aus dem Bett und schlich die knarrende Holztreppe nach unten in die Küche.

Noch im Bademantel kochte ich mir eine Kanne Kaffee, holte die Tageszeitung aus dem Briefkasten und machte es mir auf meinem Ostfriesensofa in der Küche bequem. Ich liebte es, die druckfrischen, noch leicht aneinanderklebenden Seiten der Zeitung zu entfalten.

Diese morgendliche Stille hatte etwas Jungfräuliches. Es fühlte sich alles so frisch an. Der Tag war noch rein und sauber. Nichts Schlimmes war bisher geschehen, keine bösen Worte waren gesprochen worden. Früh am Morgen fühlte ich mich meist unbeschwert und leicht.

Nach einer Weile hörte ich Enno im ersten Stock herumlaufen. Hoffentlich schmeißt er nicht wieder seine Klamotten überallhin, dachte ich und sah zur Decke. Ich hasste Unordnung. Es war aber nicht so, dass ich pingelig war. Nein, ich hatte nur keine Lust, immer auf der Suche nach irgendwelchen Dingen zu sein. Bei mir musste alles seinen festen Platz haben. Das gab mir irgendwie Halt und das Gefühl von Beständigkeit.

»Moin.« Enno stand mit zerzaustem Haar in der Küche und sah mich fragend an. »Wieso bist du so früh wach?«

Ich zuckte nur mit den Schultern. »Ich konnte nicht mehr schlafen«, murmelte ich.

»Gibt es schon Kaffee?«

»Ja, schon fertig.« Ich deutete auf die Kaffeemaschine. Auch nach all den Jahren wunderte ich mich immer wieder, dass Enno, ein echter und eingefleischter Ostfriese, keinen Tee trank. Manche Menschen waren ja der Meinung, dass in den Adern der Ostfriesen Tee mit Kluntje statt Blut floss.

»Irgendwie bekomme ich Magendrücken davon«, hatte er mir mal erklärt.

Enno setzte sich an den Tisch. Ich reichte ihm den Sportteil der Ostfriesenzeitung.

Zuerst las ich immer die Todesanzeigen. In der Hoffnung, keine Annonce zu finden, in der der Tod eines Kindes angezeigt wurde. Wenn ich denn doch einmal solch eine Todesanzeige entdeckte, fiel ich in ein Loch. Eine große, schwere Faust rammte dann ungebremst in meinen Magen. Mir blieb die Luft weg. Der Tag verlief schleppend, er war grau und beschwerlich. Oft meldete ich mich an solchen Tagen krank. Es war mir dann unmöglich, unter Menschen zu gehen.

Enno hatte das nach einer Weile mitbekommen. »Was machst du da? Lies es doch einfach nicht. Es quält dich doch.« Hilflos sah Enno mich an. »Ich kann den Teil aus der Zeitung entfernen. Dann siehst du es nicht mehr.« Er wollte die Zeitung an sich nehmen.

»Nein«, hatte ich schnell geantwortet und seinen Arm festgehalten. »Nein, ich muss das lesen.«

Enno zog seine Hand zurück. »Aber, es ist doch ...«

»Enno«, unterbrach ich ihn. »Ein Kind ist tot und wird auch nicht wieder davon lebendig, wenn ich die Anzeige nicht lese.«

Ich wusste selbst, dass es totaler Unsinn war, was ich da von mir gab. Aber es war wie ein Zwang, zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war. Wenn ich keine Todesanzeige eines Kindes oder jungen Menschen fand, war die Welt in Ordnung und ich konnte beruhigt den Tag beginnen. Enno hatte nur den Kopf geschüttelt und mich von da an gewähren lassen.

Nach einer ausgiebigen Dusche stand ich in ein Badetuch gewickelt vor meinem Badezimmerspiegel und betrachtete mein Gesicht. Langsam drehte ich meinen Kopf nach links, dann nach rechts. Ich versuchte zu ergründen, welche meiner Seitenansichten vorteilhafter für mich war. Skeptisch sah ich mein Spiegelbild an. Eigentlich war es egal, von welcher Seite man mich ablichten würde. Man sah aus jeder Blickrichtung, dass ich meinen fünfzigsten Geburtstag schon vor ein paar Jahren gefeiert hatte.

Bewegungslos blickte ich noch immer mein Spiegelbild an. Meine Gesichtshaut war rosig und ziemlich glatt. Das kam sicher von der vielen frischen Luft, die ich auf meinen täglichen Radtouren zur Arbeit einatmete.

Und dann meine Augen. Waren nicht die äußeren Augenwinkel zu sehr nach unten gerichtet? Das gab meinem Gesicht einen traurigen Ausdruck. Vielleicht war es ja auch so, dass ein Körper im Laufe der Zeit auch nach außen ausdrückte, was man im Inneren fühlte.

Ich hob den Kopf, strich leicht über meinen Hals, der mit kleinen Falten übersät war.

»Ist auch wurscht«, sagte ich laut und bürstete mein kastanienbraunes Haar. Darauf war ich stolz. Mein Vater hatte, bis er starb, immer noch sein volles dunkles Haar gehabt.

Ich sah auf die Uhr. Himmel, schon so spät. Jetzt musste ich mich aber sputen. Um zehn Uhr hatte der Personalchef des Hotels Fürstenhof einen Fototermin festgesetzt. Zur Erstellung des neuen Hotelprospektes benötigte man auch ein Foto der Köchin Caroline ter Hark. Das Hotel warb unter anderem mit österreichischen Köstlichkeiten, die ich aus meiner Heimatstadt Rossatz an der Donau mitgebracht hatte.

Erst hatte ich gedacht, man wollte mich veräppeln. Mein Chef Bernhard Fürst war mit der Bitte an mich herangetreten, doch kulinarische Spezialitäten aus meiner Heimat zu fertigen. Diese könne man dann auch auf die Speisekarte setzen.

Eine Weile hatte ich mich geziert. Es war doch absurd, dass in einem Hotelrestaurant in Ostfriesland mit all seinen regionalen Spezialitäten zusätzlich österreichische Kost auf der Speisekarte stehen sollte.

Bernhard Fürst ließ sich nicht davon abbringen. Schließlich müsse er als Geschäftsmann, trotz der Liebe zu seiner Heimat Ostfriesland, weltoffen sein und sich nicht nur regional betätigen.

Daraufhin hatte ich ein Rezept meiner Großmutter Schnabelhauser für einen Apfelstrudel ausgegraben. Anschließend versah ich das Ganze mit dem geschichtlichen Hintergrund, dass schon Kaiserin Sissy diesen Apfelstrudel zu ihren Leibspeisen gezählt hatte. An das Rezept sei meine Großmutter nur gekommen,...

Erscheint lt. Verlag 16.6.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
ISBN-10 3-95573-437-4 / 3955734374
ISBN-13 978-3-95573-437-4 / 9783955734374
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