Der Traum ist aus. Aber wir werden alles geben, dass er Wirklichkeit wird. (eBook)
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00558-7 (ISBN)
Patrick Bauer, Jahrgang 1983, wuchs in Berlin auf, wo er auch begann, als Reporter zu arbeiten, ehe er 2006 Redakteur und 2012 Chefredakteur beim Magazin NEON wurde. Inzwischen arbeitet er als Autor für das SZ Magazin in München, wo er mit seiner Familie lebt.
Patrick Bauer, Jahrgang 1983, wuchs in Berlin auf. Heute lebt er als Reporter des Magazins der Süddeutschen Zeitung mit seine Familie in München.
Am Sonnabend, den 4. November 1989 findet in Berlin die erste genehmigte nichtstaatliche Demonstration in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik statt. Dass diese Geschichte auf ein neues Kapitel zusteuert, ahnen, hoffen oder fürchten zu diesem Zeitpunkt alle, die an diesem Tag dabei sind. Dass diese Geschichte bald darauf beendet sein wird, ahnt dagegen niemand.
Im Revolutionsherbst 1989 verändert sich die Welt jeden Tag, nicht nur, aber vor allem für DDR-Bürger. Und manch ein Tag in diesen Wochen verändert die Welt. Der 4. November ist so ein Tag. Und doch wird er in der Rückschau oft vergessen; überdeckt von jenem Tag fünf Tage später, dem 9. November, als in der Nacht die Mauer fiel und die Welt schon wieder eine vollkommen andere war.
Angemeldet wurde die Demonstration für die Paragraphen 27 und 28 der Verfassung der DDR – das Recht auf Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit – von Schauspielerinnen und Schauspielern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Berliner Bühnen. Die Idee war kurzfristig entstanden, erst am 15. Oktober, bei einem Treffen von 800 Theaterschaffenden im Großen Saal des Deutschen Theaters. Auslöser war nicht zuletzt der Hinweis eines jungen Anwalts namens Gregor Gysi, der in der Diskussion um die vorangegangene Gewalt gegen Protestierende auf die «Veranstaltungsverordnung» verwies, laut der man solche Demonstrationen auch genehmigen lassen könne, und der sagte: «Ich verstehe eigentlich nicht, dass sich keiner bemüht, mal diesen Rechtsweg zu gehen!» In den zwei Wochen, die darauf folgten, wurde mit Behörden und Mitstreitern um den Ablauf dieses für alle Seiten so ungewohnten Ereignisses gerungen und nicht zuletzt darüber diskutiert, wer auf der Abschlusskundgebung auf dem Alexanderplatz sprechen soll und darf. 26 Rednerinnen und Redner sind es schließlich; Künstlerinnen und Künstler, sehr und weniger bekannte, junge und alte, Oppositionelle, Studenten, Kirchenleute, aber auch Parteikader wie Günter Schabowski.
Noch am Morgen des 4. November weiß niemand, in was für einem Land man am Abend leben wird. Wird es zu Ausschreitungen kommen? Zu Übergriffen der Stasi, zu Provokationen aus der Menge? Wird es überhaupt eine Menge geben? Wie viele Demonstranten werden dem Aufruf folgen, der sich vor allem an den Theatern, bei Konzerten und auf vielen Diskussionsveranstaltungen, die in diesen Tagen stattfinden, verbreitet hat?
Es wird ein ungeahnter historischer Erfolg. Für viele, die in Berlin dabei sind, fühlt sich der 4. November an wie der Höhepunkt dieser bewegten Monate im Jahr 1989. Vom Gefühl, dass sich auf dem Alexanderplatz einstellt, schwärmen sie noch heute, so unterschiedlich sich auch ihre Leben seither entwickelt haben. Im Spiegel steht damals, die Kundgebung sei «die größte in der deutschen Geschichte» gewesen. In den Nachrichten, im Osten wie im Westen, wird bald nach der Demonstration verkündet, 500000 Menschen hätten sich auf dem Alexanderplatz versammelt. Manche sprechen gar von einer Million. Der Kampf um die Freiheit ist auch ein Kampf mit Zahlen, nicht nur gegen die Mächtigen. Auch zwischen den Aktivistinnen und Aktivisten des Herbstes 1989 – ihre Biographien sind so verschieden wie die Ziele der zahlreichen Gruppen, die sich formiert haben – gibt es Konkurrenz. Aus Leipzig, aus Dresden, aus Plauen waren im vorangegangenen Monat große, immer größere Protestmärsche gemeldet worden, keiner genehmigt, aber zum Teil angeblich von Hunderttausenden besucht.
«Sicherlich spielte eine Rolle, dass Ost-Berlin Leipzig, der Hauptstadt der Demonstrationen, wenigstens die größte Veranstaltung streitig machen wollte», schreibt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch «Endspiel – Die Revolution von 1989 in der DDR» über die Teilnehmerzahlen und rechnet vor, warum seiner Ansicht nach am 4. November nicht mehr als 200000 Menschen auf dem Alexanderplatz gewesen sein können. Klären lassen wird sich das nie. Fest steht wohl nur, dass es darauf nicht ankommt. Am 4. November 1989 sind viele auf dem Alexanderplatz, viel mehr als erwartet, und die Wirkung, die diese Veranstaltung erzielt, ist groß, viel größer als erhofft. Die Massen unter dem Fernsehturm sind atemberaubend, für die Organisatoren der Demonstration ebenso wie für die Staatsmacht. Der Witz und die Frechheit auf den unzähligen Transparenten waren an diesem symbolträchtigen Ort unvorstellbar gewesen – bis sie einfach in die Höhe gereckt und von allen gelesen werden können.
Hinzu kommt, dass die Kundgebung kurzfristig im DDR-Fernsehen live gesendet wird – nach allem, was man weiß, ohne dass dies mit den politisch Verantwortlichen abgesprochen wäre. Ein weiterer Akt des Ungehorsams in einem System, das nach vier Jahrzehnten einfach nicht mehr in der Lage ist, den Gehorsam wie gewohnt zu verordnen. In dieser Übertragung massiver Kritik an Staat und Staatsführung im Staatsfernsehen liegt vielleicht die größte Sensation am 4. November 1989. So wirken die Bilder vom Alexanderplatz, so hallen die Reden von der improvisierten Bühne vor dem Haus des Reisens in das ganze Land und auch in das benachbarte, und in die ganze Welt. Prominente, in manchen Fällen lange von der SED zensierte Redner wie Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller, Ulrich Mühe, Christoph Hein oder Steffie Spira können eine demokratischere Gesellschaft fordern oder die Aufarbeitung von geschehenem Unrecht. Und die Zuhörer können auf ihren Schildern Krenz und Honecker und die Stasi schmähen, niemand schreitet ein, selbst dann nicht, als sie Regierende während ihrer Reden niederpfeifen. Die Folge dieses Ereignisses besteht auch in der Offensichtlichkeit dessen, dass es in der DDR nun einerseits folgenlos bleibt, seine abweichende Meinung öffentlich kundzutun – und dass diese abweichenden Meinungen andererseits eben endlich Wirkung zeigen. Weil sich, nach Wochen der Zusammenkünfte und Verlautbarungen, bereits etwas getan hat. Dafür ist das Zustandekommen dieses Tags der beste Beweis.
Doch so richtig es ist, dass die Genehmigung der Demonstration am 4. November zeigt, wie sehr dieser restriktive Staat unter Druck steht, so falsch wäre es zu glauben, er habe an diesem Tag bereits nachgegeben. Ja, die DDR ist im Herbst 1989 nicht nur politisch, sondern auch finanziell bankrott, die Natur ebenso kaputt wie viele Städte, die Rituale ebenso leer wie viele Kaufhallen. Ja, für die Mehrheit der Bürger ist Michail Gorbatschow mit seiner Politik von Glasnost und Perestroika, von Offenheit und Umgestaltung, ein Hoffnungsträger und die Tatsache, dass die DDR-Führung sich dem großen Bruder plötzlich widersetzt und den Reformen in der Sowjetunion gegenüber taub stellt, ist für viele unerträglich. Ja, allein am Vortag der Alexanderplatz-Demonstration, am Freitag, den 3. November, sind weitere 3000 Flüchtlinge aus der DDR in Prag angekommen, das Land, jeder spürt es, blutet aus. Ja, Erich Honecker ist nach achtzehn Jahren am 18. Oktober als Generalsekretär des Zentralkomitees der SED zurückgetreten. Doch die meisten langjährigen Politbüro-Mitglieder sind an diesem 4. November 1989 noch im Amt, und Honeckers Nachfolger Egon Krenz hat in seiner Antrittsrede zwar von «Wende» geredet, aber seither überhaupt keine Aufbruchsstimmung verbreitet.
Niemand hat an diesem Tag außerdem vergessen, dass Krenz nach dem Massaker am 4. Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Spätsommer bei einem China-Besuch Verständnis für das blutige Vorgehen dort geäußert hat. Nur knapp einen Monat vor dem 4. November hat sich bei den Protesten rund um den 40. Nationalfeiertag auch in der DDR gezeigt, in Berlin, Leipzig, Dresden und anderswo, zu welchen Gewaltexzessen gegen seine Leute dieser Staat fähig ist. Allein in Berlin werden am 7. und 8. Oktober mehr als tausend Menschen festgenommen, viele misshandelt und verletzt. Am 9. Oktober, als in Leipzig die Straßen voll wie nie waren und die Sorge im ganzen Land größer denn je, dass es zu einer «chinesischen Lösung» kommt, war zwar kein Schuss gefallen. Und doch, das zeigen aus heutiger Sicht Dokumente des Ministeriums für Staatssicherheit und das zeigen auch Repressalien gegen Regimegegner, die noch auf diesen Sonnabend folgen sollen, ist es alles andere als selbstverständlich, dass der 4. November gewaltfrei verläuft. An der Berliner Mauer, um deren Fall es fünf Tage vor dem Mauerfall gar nicht geht, stehen die Truppen bereit. Dass während der Demonstration und Kundgebung auf dem Alexanderplatz und auch in den Stunden danach nichts passiert, ist vielmehr ein weiteres Wunder aus dieser Zeit, in der so oft von Wundern die Rede ist.
Ein Jahr zuvor, am 1. und 2. Oktober 1988, trat Rio Reiser auf Einladung der FDJ, die von SED-Chefideologe Kurt Hager angewiesen worden war, der entnervten Jugend mehr attraktive Rock-Konzerte zu bieten, zwei Abende vor jeweils 6000 Besuchern in der Berliner Seelenbinder-Halle auf. «Keine Macht für Niemand» durfte Reiser auf Weisung der Bezirksleitung nicht spielen. Aber vielleicht hatte die Partei die Lage und das Lebensgefühl der Leute wieder mal nicht richtig eingeschätzt. Denn am lautesten mitgesungen und am längsten gefeiert wurde Reisers Hymne «Der Traum ist aus»:
Gibt es ein Land auf der Erde,...
Erscheint lt. Verlag | 15.10.2019 |
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Zusatzinfo | Mit 10 s/w Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 30 Jahre Wiedervereinigung • DDR • Mauerfall • Pressefreiheit • Schabowski • Wende-Jubiläum |
ISBN-10 | 3-644-00558-3 / 3644005583 |
ISBN-13 | 978-3-644-00558-7 / 9783644005587 |
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Größe: 3,7 MB
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