Die jungen Bestien (eBook)

Ein Krimi aus dem Piemont

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00038-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die jungen Bestien -  Davide Longo
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Ein neuer Kriminalfall aus Piemont, in dem der schweigsame Bergkauz und heimliche Menschenkenner Corso Bramard ermittelt: Bei dem Bau einer Bahnschnellstrecke zwischen Mailand und Turin werden die Überreste von zwölf Leichen gefunden, und eine Spur führt in die Zeit des italienischen Terrorismus, der Brigate Rosse. Im Turiner Herbst 1977 hatten ein paar Jugendliche den Parteisitz der rechten MSI in Brand gesetzt. Dabei war ein Mann ums Leben gekommen, der sich nachts in den Räumen aufhielt. Wussten die Jugendlichen, dass ein Mensch im Gebäude war? War alles nur ein Spiel der jungen Leute, in jenen aufgeheizten Zeiten, oder wollten sie wirklich einen Mord begehen? Niemand kennt die Antwort, die Jugendlichen sind seitdem spurlos verschwunden. Fast vierzig Jahre später suchen zwei Kommissare und ihr ehemaliger Kollege Corso Bramard nach einer Verbindung zu jenem Fall. Die Drei geraten in einen schier unbezwingbaren Strudel aus italienischer omertà und Lüge. Und doch nähern sie sich beharrlich einer Wahrheit, die von der Politik unter den Teppich gekehrt wurde.

Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbu?cher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Premio Grinzane Cavour, dem Prix Le Point für den besten europäischen Kriminalroman 2024 und dem Premio Via Po. Aus seiner international gefeierten Krimireihe aus dem Piemont erschienen bisher: «Der Fall Bramard», «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» sowie «Am Samstag wird abgerechnet».

Davide Longo, 1971 in Carmagnola im Piemont geboren, lebt in Turin, wo er am Literaturinstitut Scuola Holden unterrichtet. Er schreibt Prosa, Hörspiele und Drehbücher und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Premio Grinzane Cavour für das beste Debüt und dem Premio Via Po. Sein Roman «Der aufrechte Mann» wurde von der Presse enthusiastisch aufgenommen, «Der Steingänger» sogar verfilmt. «Der Fall Bramard» begründet eine Krimireihe aus dem Piemont, die mit «Die jungen Bestien», «Schlichte Wut» und «Am Samstag wird abgerechnet» fortgesetzt wird. Barbara Kleiner, geboren 1952, lebt in München. Übersetzerin u.a. von Primo Levi, Ippolito Nievo, Italo Svevo, Paolo Giordano, Davide Longo; ausgezeichnet mit dem Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW, dem Deutsch–Italienischen Übersetzerpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung. 

Kapitel 1


«Hier können Sie nicht durch.»

Arcadipane nimmt die Zigarette aus dem Mund und betrachtet die massige Gestalt in der gelben Regenkleidung, die ihm den Weg versperrt. Zwei Handbreit größer als er, obwohl seine Stiefel im Morast versinken.

«Warum nicht?»

Der Mann denkt nach. Ein langwieriger Gedanke, der Arcadipane Zeit lässt, die durch einen alten Bruch nach rechts verschobene Nase wahrzunehmen, die slawischen Backenknochen und den nicht ganz unangenehmen Mundgeruch nach Anis und Tabak. Das Ganze dreißig, fünfunddreißig Jahre alt.

«Sie haben gesagt, ich soll niemand durchlassen», wiederholt der andere unter seiner Kapuze hervor mit erhobener Stimme, um das Prasseln des Regens zu übertönen.

Arcadipane führt die Zigarette wieder zum Mund, aber der Filter ist schon mit Wasser vollgesogen. Er wirft sie weg und sieht zu, wie sie im Schlamm versinkt, von den Regentropfen mit einer Präzision getroffen, wie wenn ein Hammer auf einen breitköpfigen Nagel schlägt.

«Wer sie?»

Das Stammhirn des Mannes nimmt die vorherrschende Schwingung in der Frage wahr und gibt die Information ans Großhirn weiter, das diesen zwei Handbreit kleineren Typen, untersetzt und ohne Regenschirm, den er zwei Minuten zuvor aus einem gepflegten Alfa Quadrifoglio hat aussteigen sehen, als physisch und hierarchisch ungefährlich einstuft.

«Der mit dem Regenmantel, der Commissario», sagt er und weist irgendwohin. «Er hat gesagt, ich soll keinen durchlassen.»

Durch den Regenschleier zählt Arcadipane vier Gestalten, die unbeweglich mit dem Rücken zu ihm stehen und etwas am Boden fixieren. Unweit davon ein Bagger, ein Lastwagen und ein Kran. Die Berge und der Himmel im Hintergrund scheinen aus ein und derselben melancholischen, trägen, erstickenden, nostalgischen und ersterbenden Materie gemacht. Verdammt noch mal, denkt er. Ist es wieder so weit.

Er kramt in der Jackentasche, bis seine Finger auf deren filzigem Grund ein Lakritzbonbon ertasten. Er führt es zum Mund und beginnt es zu kauen. Nach und nach löst sich der Knoten, der ihm die Kehle zuschnürte. In den Vordergrund treten wieder die Kälte, die Säure des Kaffees, den er vor einer halben Stunde an einer Raststätte getrunken hat, und der Grund, weshalb er hier ist.

«Was baut ihr hier?», fragt er.

«Wir bauen nichts.»

«Was macht ihr dann?»

«Wir verlegen Kabel.»

«Was für Kabel?»

Der Mann versenkt die Hände in den Taschen und schweigt. Arcadipane bemerkt die Rochade. Widerwillig fährt er mit der Linken in die Lammlederjacke, die ihm die Schwiegereltern geschenkt haben, und holt den Ausweis hervor. Der Mann betrachtet das Dokument, dann Arcadipane, dann wieder den Ausweis.

Er breitet die Arme aus, wie um zu sagen: «Wie sollte ich das wissen!»

Arcadipane weiß, dass er in Wirklichkeit denkt: Warum, verdammt noch mal, hast du das nicht gleich gesagt? Aber dreihundertsechsundsechzig Lokaltermine wie dieser hier haben ihn gelehrt, dass die Leute, auch wenn sie nichts zu verbergen haben, einem Polizisten nie das sagen, was ihnen als Erstes in den Sinn kommt. Und auch nicht das, was ihnen als Zweites einfällt. Man soll sich da keine Illusionen machen: Der Müllsack geht nicht von allein zur Tonne, oder wie Bramard sagte, die Wahrheit gibt es nicht in natura, sie ist immer ein Konstrukt.

«Was für Kabel verlegt ihr also?»

«Elektrokabel», sagt der Mann. «Kabel für die Bahn.»

Arcadipane sieht sich um: Reisfelder, so weit das Auge reicht, und in einem Kilometer Entfernung die Trasse des Hochgeschwindigkeitszugs, wo eben ein Frecciarossa vorbeifährt, so unhörbar wie ein Finger auf Samt. Mailand–Turin in fünfzig Minuten. Sehr viel weiter weg, in Richtung Sonnenuntergang, ein verfallenes Bauerngehöft. Sonst nichts.

«Ich habe ihn jedenfalls nicht gefunden», sagt der Mann.

«Ach nein? Und wer hat ihn gefunden?»

«Mein Cousin Nicolae.»

«Dein Cousin Nicolae, und du heißt?»

«Roman.»

«Roman», wiederholt Arcadipane und lenkt seinen Blick auf die Gruppe hinter dem massigen Kerl. «Einer davon ist also dein Cousin, und die anderen beiden?»

«Der Kleinere ist Vincenzo. Der andere ist der Chef, Signor Coletto. Aber den haben wir erst später gerufen.»

Arcadipane nickt, während er auf seine halbhohen Schuhe schaut, von denen aus dem Schlamm nur das in Plastik gefasste Ende eines der Schnürsenkel herausschaut. Wer weiß, wie man das nennt. Wenn dieses Teil einen Namen hat, kennt Mariangela ihn bestimmt. Auch Bramard würde ihn kennen. Die einzigen Menschen, die solche Dinge wissen.

«Willst du mir etwas sagen, oder soll ich mit Signor Coletto reden?»

Der Junge kratzt sich den blonden Dreitagebart.

«Der Chef wollte jemand mit Kranführerschein», sagt er. «Da habe ich den von meinem Cousin kopiert. Aber jetzt bin ich dabei, ihn zu machen.»

«Und …»

«Eben in Italien angekommen, habe ich vier Monate wegen Beteiligung an einer Schlägerei gesessen. Der Chef weiß das nicht. Er will nur saubere Leute.»

Arcadipane schaut auf seine geröteten und vor Kälte geschwollenen Hände. Isolierband am Ringfinger, um den Ehering nicht zu zerkratzen.

Er weiß, dass er am Abend zu der kleinen Frau zurückkehren wird, die aufgeweckter ist als er und die sich seiner angenommen hat, dass er ihr erzählen wird, was vorgefallen ist, und dass sie, noch bevor er geduscht hat, miteinander vögeln werden.

Er weiß das, weil das eins der Dinge ist, die man in Gegenwart eines Toten sieht. Sogar eines Toten wie diesem hier.

Was die Leute jedoch nicht wissen, ist, dass dieser Effekt nicht anhält. Auch die Toten werden zur Gewohnheit, wenn man von Berufs wegen damit zu tun hat.

«Letztes Jahr haben wir einen verhaftet», sagt er. «An jedem Sechsten des Monats sah er, wie die Nachbarin etwas im Garten vergrub, und er kam zu der Überzeugung, das müsse die Rente sein. Als er daher Geld brauchte, ist er zu der Alten gegangen, hat ihr mit einem Schraubenschlüssel den Schädel eingeschlagen und angefangen zu buddeln. Weißt du, was er gefunden hat?»

Roman sieht ihn an, der Blick auf sanfte Weise gefährlich, so musste er dreingeschaut haben, als er frisch nach Italien kam, als er, verängstigt und allein, machte, was die Freunde ihm sagten, nämlich in den Bars handgreiflich werden, nackte Frauen anschauen gehen und einen gebrauchten BMW begehren; bis die kleine Frau, die aufgeweckter war als er, aus wer weiß welchem Grund beschloss, dem Tölpel vom Land zu helfen, der jeden Morgen mit einem versabberten Kissen und großer Lust auf Milch aufwachte.

«Dreihundertzwölf Keramikhündchen», sagt Arcadipane. «Die bekam sie jeden Monatsanfang per Post geschickt.»

Roman denkt ein paar Sekunden lang nach. Schweres Tischlerhandwerk: etwas mit Hobeln, Schraubzwingen, Gewichten und Flaschenzügen.

«Also sagen Sie es ihm? Das mit dem Führerschein und … alles andere?»

Arcadipane lässt sich einen Moment Zeit.

«Darf ich dir zwei Ratschläge geben?»

Der große Junge nickt.

«Erstens, wenn du etwas verbirgst, muss es die Mühe wert sein. Zweitens, geh immer davon aus, dass die anderen intelligenter sind als du, und du wirst sehen, du täuschst dich nur selten. Könntest du mir jetzt aus dem Weg gehen?»

Roman tritt beiseite. Arcadipane setzt seine halbhohen Schuhe in die tiefen Stapfen, die der Mann hinterlassen hat, und geht weiter. Zwanzig Meter Wasser und Schlamm, und er hat die Gruppe erreicht.

«Guten Tag, Commissario.»

Arcadipane stellt sich neben Pedrelli, ohne den Gruß zu erwidern. Er weiß, auch ohne ihn anzusehen, dass er fünfzig Jahre alt ist, ebenso viel Kilo am Leib, borstiges Haar und chronische Gastritis hat und in den letzten sechzehn Jahren keinen einzigen Tag krankgeschrieben war.

«Unsere Leute?»

«Ich habe sie Plastiksäcke holen geschickt», sagt Pedrelli. «Zusammen mit dem Direktor haben wir überlegt, dass wir eine Überdachung bauen und das Wasser vom Fundort abpumpen.»

Arcadipane mustert den «Direktor», Signor Coletto, in Regenhose und Funktionsjacke: Er hatte immer gedacht, diese Typen mit Muttermal gebe es nur auf Plakaten für piemontesische Komödien, hingegen …

«Wir haben eine Pumpe, die man an den Caterpillar anschließen kann», sagt er, «aber solang es hineinregnet …»

Arcadipane nickt, der Akzent befremdet ihn. Er betrachtet die zwei in gelber Regenkleidung: Nicolae ist etwas dicker als sein Cousin, aber vom selben Schlag; der andere hingegen, Vincenzo, ist um die fünfzig, schmächtig, mit gelber Haut und hinlänglich Sizilianer, um zu wissen, dass Schweigen keine Sünde ist.

«Also?», fragt Arcadipane und deutet auf die Grube voller Wasser, um die die vier herumstehen.

Pedrelli holt sein Notizbuch hervor, aber sofort machen sich zwei blaue Flecken auf der sorgfältig beschriebenen Seite breit. Er steckt es schnell wieder ein.

«Gegen zwölf», sagt er auswendig, «hat der Arbeiter Nicolae Popescu in der Baugrube einen menschlichen Schädel gefunden und hat dem Baggerführer gesagt, er solle anhalten. Sie haben Signor Coletto gerufen, den Baustellenleiter, der dann uns gerufen hat.»

Arcadipane blickt in die Runde. Unter ihren Kapuzen...

Erscheint lt. Verlag 28.1.2020
Reihe/Serie Bramard und Arcadipane ermitteln
Übersetzer Barbara Kleiner
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aldo Moro • Andrea Camilleri • Brigate Rosse • Buch aus Italien • Camilleri • Donna Leon • Italien • italienischer kriminalroman • Italienischer Roman • ItalienKrimi • Italien, Piemont, Turin, siebziger Jahre, Brigate rosse, Kriminalroman • Italokrimi • Kriminalroman • Krimi Taschenbuch • Lombardei • Mailand • Piemont • Piemontkrimi • RAF • Roten Brigaden • Siebziger Jahre • Turin
ISBN-10 3-644-00038-7 / 3644000387
ISBN-13 978-3-644-00038-4 / 9783644000384
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