Das zerbrochene Haus (eBook)
216 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6171-6 (ISBN)
Horst Krüger wurde am 17. September 1919 in Magdeburg geboren, seine Kindheit und Jugend verlebte er in Berlin. Dort und in Freiburg/Breisgau studierte Krüger Philosophie und Literaturwissenschaften. Nach dem Krieg Anfänge als Essayist und Literaturkritiker bei der Badischen Zeitung in Freiburg. Von 1952 bis 1967 Nachtprogramm-Redakteur im Südwestfunk Baden-Baden. Horst Krüger lebte bis zu seinem Tod am 21. Oktober 1999 als freier Autor in Frankfurt am Main.
Horst Krüger wurde am 17. September 1919 in Magdeburg geboren, seine Kindheit und Jugend verlebte er in Berlin. Dort und in Freiburg/Breisgau studierte Krüger Philosophie und Literaturwissenschaften. Nach dem Krieg Anfänge als Essayist und Literaturkritiker bei der Badischen Zeitung in Freiburg. Von 1952 bis 1967 Nachtprogramm-Redakteur im Südwestfunk Baden-Baden. Horst Krüger lebte bis zu seinem Tod am 21. Oktober 1999 als freier Autor in Frankfurt am Main.Martin Mosebach, geboren 1951, lebt in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen, Gedichte und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt.
Ein Ort wie Eichkamp
Berlin ist ein endloses Häusermeer, in dem ein Strom von Flugzeugen dauernd ertrinkt. Es ist eine große graue Steinwüste, die mich immer wieder erregt, wenn ich ihr entgegenschwebe: Magdeburg, Dessau, Brandenburg, Potsdam, Zoo. Sie bauen da U-Bahn-Schnellstrecken und Stadtautobahnen, tüfteln an raffinierten Avus-Verteilern und verwegenen Fernsehtürmen. Das alles ist das neue, moderne Berlin, das technische Karussell der Inselstadt, das sich dreht, von dem spröden, lakonischen Witz der Leute drinnen und vom Kapital von draußen betrieben. Es ist schön und strahlend, dieses neue Berlin, aber erst wenn ich in der S-Bahn sitze, die jetzt ziemlich leer und DDR-schäbig durch den Westen rollt, fühle ich mich eigentlich zu Hause. Das ist mein Berlin, das dröhnende, singende Trauma meiner Kindheit, mein stehengebliebenes eisernes Spielzeug, das immer noch mit seinem hellen, hastig schlagenden Ton zu sagen scheint: Du bist da, du bist wirklich da, so war es immer, so wird es bleiben. Berlin ist eine gelbpolierte Holzbank, hart und blank, ein regenverwaschenes, schmutziges Fenster, ein Abteil, in dem es unsäglich nach Reichsbahn riecht. Das ist ein Gemisch aus stehengebliebenem Rauch, Eisen und vielen Arbeiterkörpern, die aus Spandau kommen, Margarinestullen im Leib, mit Vierzehn einmal zur Konfirmation gewesen, dann täglich die Morgenpost gelesen. Berlin ist das alles und ist ein Groschenautomat auf dem zugigen Bahnsteig, aus dem man Pfefferminztabletten ziehen kann: weiß und grün, in steifes Silberpapier gewickelt. Es ist das Zuschlagen der elektrischen Türen und der Ruf am Bahnhof Westkreuz: »Bitte zurückbleiben!« Niemanden schreckt das mehr, niemand muß hier mehr zurückbleiben, aber der Ruf ist noch da und der Mann mit der Kelle und dann das plötzliche Anrucken. Berlin ist eine schäbige gelbe Fahrkarte für fünfzig Pfennig. Für fünzig Pfennig kannst du noch heute von Spandau bis in die Hauptstadt der DDR fahren.
Ich sitze in der S-Bahn, um nach Eichkamp zu fahren. Ich weiß, Eichkamp ist nicht das, was man heute ein Reportagethema nennt. Berlin-Reports sind gesucht und gefragt: Schreiben Sie uns einen Bericht über die Mauer oder die neue Philharmonie, die Kongreßhalle oder über den Weihnachtsmarkt drüben. So etwas ist immer erwünscht. Aber Eichkamp? Was ist das? Was soll das sein? Es steht in keinem Katalog Berliner Sehenswürdigkeiten; kein schwarzer Stammesfürst und kein Amerikaner, der über den Ozean kam, um den Kurfürstendamm entzückend und die Mauer abscheulich zu finden, wird nach Eichkamp geführt. Im Grunde ist Eichkamp nichts, nur eine kleine, belanglose Siedlung zwischen Neuwestend und Grunewald, wie es in den Randzonen der großen Stadt, wo sich das Häusermeer langsam ins Grüne und Ländliche auflöst, zahllose Siedlungen gibt. Eichkamp ist eigentlich nur eine Erinnerung für mich. Es ist der Ort meiner Kindheit. Hier wuchs ich auf, spielte auf der Straße Murmeln und Hopse und Himmel und Hölle, ging zur Schule und kehrte später von der Universität zum Essen und Schlafen hierher zurück. Eichkamp ist einfach meine Heimat, die ich – ein Fremder – nach mehr als zwanzig Jahren wiedersehen will.
Ich kehre als Bundesbürger zurück. Ich habe meinen Beruf und mein Auto, meine eigene Welt heute drüben gelassen; ich kehre allein zurück, nicht weil ich das rührend und schön finde, als erwachsener Mann den Spuren der Kindheit wieder nachzuschleichen. Abscheuliche Sehnsucht alternder Männer, sich über ihre Kindheit zu beugen: Obszönität der Greise, die klopfenden Herzens auf Spielplätzen hocken, als gäbe es da heimliche Paradiese zu entdecken. Eichkamp war für mich kein Paradies und meine Kindheit kein heimlicher Traum. Eichkamp war einfach meine Jugend unter Hitler, und ich möchte es wiedersehen und möchte endlich begreifen, wie das damals war unter Hitler. Jetzt ist schon mehr als eine Generation vergangen. Alles, was damals das Dritte Reich war: der Fackelzug Unter den Linden und der Jubel im Radio und der Rausch der Erneuerung, ist vorbei, vergangen, vergessen. Auch die Brotmarken und die Bomben über Eichkamp und die Gestapo, die manchmal aus der Innenstadt mit schwarzen Autos kam, sind längst vergessen. Jetzt müßte man es doch verstehen, meine ich. Jetzt liegt fast ein Menschenleben dazwischen, Rausch und Depression sind verklungen, alles ist neu und anders geworden. Ich bin ein Bürger der Bundesrepublik, ich komme aus dem Westen, ich komme nach Eichkamp, weil mich die Frage quält, wie das eigentlich war, was wir heute alle nicht mehr begreifen können. Jetzt, meine ich, müßte man es verstehen.
Nachts führen mich manchmal meine Träume nach Eichkamp zurück. Es sind schwere, angstvolle Träume. Träume, nach denen ich morgens gegen sechs wie zerschlagen erwache. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, Zeit einer Generation, Zeit zu vergessen. Warum kann ich nicht vergessen?
Mein Traum: Ich komme nach Eichkamp, ich stehe vor unserem Haus. Lange Risse ziehen sich durch die Außenwände, unser Haus ist von Preßluftbomben beschädigt. Ein kleines, zweistöckiges Reihenhaus an der Peripherie von Berlin, billig und rasch in den zwanziger Jahren errichtet. Jetzt ist alles auf eine klägliche Weise repariert, Türen und Fenster sind wacklig, im Innern der Holzfußboden brüchig. Im Herrenzimmer sitzt meine Mutter und liest meinem Vater aus einem Buch vor. Der Raum ist klein, niedrig und auf jene unbeschreiblich dissonante Weise möbliert, die man damals bürgerlich nannte: Warenhausramsch mit Erbstücken aus der guten alten Zeit angereichert. Runder Pilztisch mit Spitzendecke, Stehlampe mit Pappschirm, billiger Kiefernschreibtisch, kantig und mit Messingnägeln beschlagen. Ein viel zu großer Kronleuchter hängt mit langen Kristallbändern tief in den Raum: Erbstück aus Buckow. Ein riesiger Eichenschrank füllt fast ein Drittel des Zimmers: Erbstück aus Stralau; »unser Barockschrank«, hieß es zu Hause. Mein Vater sitzt teilnahmslos an seinem schwarzlackierten Schreibtisch. Er hat wie immer Akten vor sich, er kratzt sich wie immer am Kopf, an seiner »Wunde«: Verdun 1916. Meine Mutter versinkt hinter dem runden Pilztisch in einem stoffbezogenen, fleckigen Sessel; »unser Klubsessel«, hieß es. Das Licht der Lampe fällt mild über das Buch. Ihre Hände sind schmal, die Finger lang und feingliedrig und huschen nervös über die Zeilen. Sie hat katholische Augen: dunkel, gläubig, basedowstark. Etwas Verkündigendes liegt in ihrer Stimme. Sie liest aus einem Buch vor, das den Titel trägt: »Mein Kampf«. Es ist Spätsommer 1933.
Nein, meine Eltern sind niemals Nazis gewesen. Das ist es, das macht mir den Fall so suspekt. Sie lasen in diesem Buch des neuen Herrn Reichskanzlers mit den großen, erstaunten Augen von Kindern. Sie lasen ängstlich und erwartungsvoll darin: Ungeheure deutsche Hoffnung mußte da stehen. Sie hatten sonst keine Bücher, nur das Adreßbuch von Groß-Berlin, die Bibel und allerdings auch das »Jettchen Gebert«. Sonst nur Paul Lincke gehört, »Frau Luna« und so, und zu Silvester die »Fledermaus« im Admiralspalast und aus dem Radio manchmal das Wunschkonzert; wenn es hoch kam, die Ouvertüre zu »Donna Diana«. Meine Eltern waren auf jene rührende Weise »unpolitisch«, wie damals fast alle Eichkamper. In den zwölf Jahren unter Hitler bin ich in Eichkamp eigentlich nie einem wirklichen Nazi begegnet. Das ist es, das zieht mich zurück. Es waren lauter brave, fleißige Bürgerfamilien, ein wenig beschränkt und borniert, Kleinbürger, mit den Schrecken des Krieges und den Ängsten der Inflation im Rücken. Nun wollte man Ruhe. Man war Anfang der zwanziger Jahre nach Eichkamp gezogen, weil das eine neue grüne Insel war. Hier standen noch Kiefern und Föhren im Garten, zum Teufelssee war es nur eine Viertelstunde. Da konnten die Kinder baden. Man wollte sein Gemüse im Garten anbauen. Am Wochenende sprengte man zufrieden den Rasen. Es roch fast nach Land. In der Stadt rollten damals die goldenen, wilden zwanziger Jahre, man tanzte Charleston und begann schon zu steppen. Brecht und Eisenstein begannen hier ihren Siegeszug. Die Zeitungen meldeten Straßenschlachten vom Wedding, Barrikadenkämpfe vor dem Gewerkschaftshaus. Das lag weit weg von uns, wie durch Jahrhunderte getrennt. Abscheuliche, unbegreifliche Fälle von Unruhestiftung. In Eichkamp lernte ich früh, daß ein anständiger Deutscher immer unpolitisch ist.
Seltsames Gefühl, als jetzt der Zug im Bahnhof Eichkamp einfährt. Erinnern, vergessen, wiedererinnern, Verwandlung der Zeiten: Was ist das? Das ist doch nicht neu, was du jetzt tust, das hast du doch schon einmal erlebt, das war doch immer so: aufstehen von der gelbpolierten Bank, deine Sachen aus dem Netz nehmen, an fremden Leuten vorbeidrängen, den Messinggriff an der Tür umfassen, oben den Daumen herum, dann langsam den Griff nach rechts ziehen, aufreißen. Ein Gefühl von Mut. Während der Zug jetzt hart an der Bahnsteigkante dahinrast, ganz vortreten, der Fahrtwind bläst dir plötzlich ins Gesicht, und dann, während der Wagen nur noch langsam rollt, diese herrliche Versuchung, abzuspringen. Ich weiß, das ist verboten, es steht über der Tür, es war schon damals unter Hitler verboten, aber jetzt spüre ich wieder diese Versuchung, die mich als Tertianer so unbändig reizte: Wenn man im richtigen Augenblick abspringt und die Fliehkraft des Körpers mit den Füßen gut aufnimmt, kommt man mit demselben Schwung noch in Eichkamp die Treppe hoch, ist als erster oben an der Sperre, ist als erster draußen auf dem grünen Vorplatz, ist als erster in dem schmalen Gartenweg, der zur Siedlung führt.
Hinter dir gehen in gemächlichem Abstand die Eichkamper. Ein...
Erscheint lt. Verlag | 27.8.2019 |
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Nachwort | Martin Mosebach |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 30er Jahre • Aufarbeitung • Auschwitz • Drittes Reich • Erinnerung • Familie • Hitler • Holocaust • Jugend • kleinbürgerliches Milieu • Nationalsozialismus • Prozess • Rückblick • Zeitzeuge |
ISBN-10 | 3-7317-6171-8 / 3731761718 |
ISBN-13 | 978-3-7317-6171-6 / 9783731761716 |
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