Auf Erden sind wir kurz grandios (eBook)

Roman

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
272 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-26495-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Auf Erden sind wir kurz grandios -  Ocean Vuong
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'Ein grandioses Buch! Eine Reise in die Vergangenheit, in die Kindheit, nach Vietnam, in die Gewalt und die Liebe.' Sasa Stanisic - Der Debütroman von Ocean Vuong
'Lass mich von vorn anfangen. Ma ...' Der Brief eines Sohnes an die vietnamesische Mutter, die ihn nie lesen wird. Die Tochter eines amerikanischen Soldaten und eines vietnamesischen Bauernmädchens ist Analphabetin, kann kaum Englisch und arbeitet in einem Nagelstudio. Sie ist das Produkt eines vergessenen Krieges. Der Sohn, ein schmächtiger Außenseiter, erzählt - von der Schizophrenie der Großmutter, den geschundenen Händen der prügelnden Mutter und seiner tragischen ersten Liebe zu einem amerikanischen Jungen. Vuong schreibt mit alles durchdringender Klarheit von einem Leben, in dem Gewalt und Zartheit aufeinanderprallen. Das kraftvollste Debüt der letzten Jahre, geschrieben in einer Sprache von grandioser Schönheit.

Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon, Vietnam, geboren und zog im Alter von zwei Jahren nach Amerika, wo er heute lebt. Für seine Lyrik wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt u.a. mit dem Whiting Award for Poetry (2016) und dem T.S. Eliot Prize (2017). Bei Hanser erschien zuletzt sein Debütroman Auf Erden sind wir kurz grandios (2019).

Ocean Vuong

Auf Erden sind wir kurz grandios

Roman

Aus dem Englischen von Anne-Kristin Mittag

Carl Hanser Verlag

p quá!«, hast du einmal ausgerufen und auf den Kolibri gedeutet, der über der cremefarbenen Orchidee im Nachbarsgarten schwirrte. »So schön!« Du fragtest mich nach seinem Namen, und ich antwortete auf Englisch — der einzigen Sprache, die ich dafür hatte. Du nicktest ausdruckslos.

Am nächsten Tag hattest du den Namen schon vergessen, die Silben entschlüpften deiner Zunge geradewegs. Als ich aber dann aus der Stadt nach Hause kam, sah ich den Futterspender für den Kolibri in unserem Vorgarten, die Glaskugel mit dem klaren, süßen Nektar zwischen bunten Plastikblüten, die nadelkopfgroße Löcher für den Schnabel hatten. Auf meine Frage hin fischtest du den zerdrückten Karton aus dem Müll, zeigtest auf den Kolibri, seine verschwimmenden Flügel und den zugespitzten Schnabel — ein Vogel, den du nicht benennen, aber nichtsdestoweniger erkennen konntest. »Đp quá«, hast du gelächelt. »Đp quá.«

Als du an jenem Abend heimkamst und nachdem Lan und ich unsere Portion Tee-Reis gegessen hatten, liefen wir gemeinsam die vierzig Minuten zu Fuß zum C-Town-Supermarkt an der New Britain Avenue. Es war kurz vor Ladenschluss und die Gänge waren leer. Du wolltest Ochsenschwanz kaufen, um für die kalte Winterwoche, die vor uns lag, Bún bò Huế zu kochen.

Lan und ich standen Hand in Hand neben dir an der Theke, während du die Vitrine mit den marmorierten Fleischstücken absuchtest. Als du die Ochsenschwänze nicht entdecken konntest, hast du dem Mann hinter der Theke gewunken. Auf seine Frage, was es denn sein dürfe, zögertest du einen Augenblick zu lang und sagtest dann auf Vietnamesisch: »Đuôi bò. Anh có đuôi bò không?«

Sein Blick huschte über jedes unserer Gesichter. Er beugte sich vor, fragte noch mal. Lans Hand zuckte in meinem Griff. Ungelenk hast du dir den Zeigefinger ins Kreuz gehalten, dich leicht zur Seite gedreht, damit der Mann deinen Rücken sehen konnte, dann hast du mit dem Finger gewackelt und muhende Laute von dir gegeben. Mit deiner anderen Hand deutetest du ein Paar Hörner über deinem Kopf an. Du drehtest und wendetest dich hierhin und dorthin, behutsam, damit er jeden Teil dieser Vorstellung sehen konnte: Hörner, Schwanz, Ochse. Aber er lachte nur, zuerst mit der Hand über dem Mund, dann lauter, dröhnend. Der Schweiß auf deiner Stirn reflektierte das Neonlicht. Eine mittelalte Frau, die mit einer Packung Lucky-Charms-Getreideflocken an uns vorbeischlurfte, unterdrückte ein Lächeln. Deine Zunge spielte an einem Backenzahn, wölbte deine Wange nach außen. Es sah aus, als würdest du in trockener Luft ertrinken. Du versuchtest es mit den paar Brocken Französisch, die du noch aus deiner Kindheit wusstest. »Derrière de vache!«, verlangtest du mit vortretender Halsschlagader. Zur Antwort rief er ins Hinterzimmer, von wo ein kleinerer Mann mit dunkleren Gesichtszügen auftauchte und dich auf Spanisch ansprach. Lan ließ meine Hand los und schloss sich dir an — Mutter und Tochter wirbelten muhend im Kreis, Lan die ganze Zeit kichernd.

Die Männer brüllten vor Lachen, schlugen auf die Theke, ließen ihre riesigen weißen Zähne aufblitzen. Mit schweißnassem, flehendem Gesicht wandtest du dich an mich: »Sag’s ihnen. Los, sag ihnen, was wir brauchen.« Ich wusste nicht, dass Ochsenschwanz Ochsenschwanz hieß. Ich schüttelte den Kopf, Scham wallte in mir hoch. Die Männer starrten, ihr Glucksen war jetzt verwirrter Sorge gewichen. Der Supermarkt machte zu. Einer von ihnen fragte noch einmal, mit gesenktem Kopf, ernst. Aber wir wandten uns ab. Wir gaben den Ochsenschwanz auf, die Bún bò Huế. Stattdessen schnapptest du dir eine Packung Wonder Bread und ein Glas Mayonnaise. Keiner von uns sprach, als wir zur Kasse gingen; unsere Worte plötzlich überall falsch, selbst in unseren Mündern.

In der Schlange vor der Kasse, zwischen den Schokoriegeln und Zeitschriften, stand ein Korb mit Stimmungsringen. Du nahmst einen Ring in die Hand und suchtest, nachdem du auf den Preis gesehen hattest, drei aus, einen für jeden von uns. »Đp quá«, sagtest du nach einem Augenblick kaum hörbar. »Đp quá

Kein Gegenstand ist in einer ständigen Beziehung zur Lust, schrieb Barthes. Für den Schriftsteller jedoch ist es die Muttersprache. Doch was, wenn die Muttersprache verkümmert ist? Was, wenn diese Sprache nicht nur das Symbol einer Leere, sondern diese Leere selbst ist, was, wenn die Zunge herausgeschnitten ist? Kann man Lust an Verlust haben, ohne sich völlig zu verlieren? Das Vietnamesisch, das ich spreche, habe ich von dir, eines, dessen Diktion und Syntax nur das Niveau der zweiten Klasse erreichen.

Du warst noch ein Mädchen, als du von einem Bananenwäldchen aus zusahst, wie dein Schulhaus nach einem amerikanischen Napalmangriff einstürzte. Mit fünf hast du das letzte Mal ein Klassenzimmer betreten. Unsere Muttersprache ist so überhaupt keine Mutter — sondern eine Waise. Unser Vietnamesisch eine Zeitkapsel, die den Punkt markiert, an dem deine Bildung endete, zu Asche zerfiel. Ma, unsere Muttersprache zu sprechen heißt, nur teilweise auf Vietnamesisch zu sprechen, aber ganz auf Krieg.

In jener Nacht schwor ich mir, dass ich nie wieder stumm sein würde, wenn es nötig wäre, dass ich für dich spreche. So begann meine Laufbahn als offizieller Familiendolmetscher. Von da an füllte ich unsere Lücken, unser Schweigen, Stottern, wann immer ich konnte. Ich wechselte fließend zwischen den Sprachen. Ich zog unsere Sprache aus und trug mein Englisch wie eine Maske, damit andere mein Gesicht — und damit deins — sehen konnten.

Als du für ein Jahr in der Uhrenfabrik gearbeitet hast, rief ich deinen Chef an und sagte in meinem höflichsten Ton, dass meine Mutter ihre Stunden gerne reduziert hätte. Warum? Weil sie erschöpft war, weil sie in der Badewanne einschlief, wenn sie von der Arbeit heimkam, und ich Angst hatte, sie würde ertrinken. Eine Woche später wurden deine Stunden gekürzt. Oder jene Male — es waren so viele —, wenn ich die Nummer im Victoria’s-Secret-Katalog anrief und BHs, Wäsche, Leggings für dich bestellte. Wie die Telefonistinnen nach einem Moment der Verwirrung über die präpubertäre Stimme am anderen Ende der Leitung ganz verzückt darüber waren, dass ein Junge Unterwäsche für seine Mutter kaufte. Sie girrten in den Hörer und legten oft noch kostenlosen Versand obendrauf. Und sie fragten mich nach der Schule, nach Zeichentrickserien, die ich gerade sah, sie erzählten mir von ihren eigenen Söhnen, dass du, meine Mutter, ja so glücklich sein musstest.

Ich weiß nicht, ob du glücklich bist, Ma. Ich habe nie gefragt.

Zurück in der Wohnung, hatten wir keinen Ochsenschwanz. Dafür hatten wir drei Stimmungsringe, die jetzt an unseren Fingern schimmerten. Du lagst bäuchlings auf einer Decke auf dem Fußboden, während Lan, die auf deinem Rücken saß, die Verspannungen und harten Stränge in deinen Schultern durchknetete. Im grünlichen Licht des Fernsehers sahen wir alle wie unter Wasser aus. Lan murmelte mal wieder einen Monolog aus einem ihrer Leben vor sich hin, jeder Satz ein Remix des letzten, und hielt nur inne, um dich zu fragen, wo es wehtat.

Zwei Sprachen schließen sich gegenseitig aus, heißt es sinngemäß bei Barthes, und ziehen eine dritte an. Manchmal sind unsere Worte dünn gesät oder einfach spurlos verschwunden. In diesem Fall kann die Hand, wenn auch in den Grenzen von Haut und Knorpel, diese dritte Sprache sein, die zuspricht, wo die Zunge versagt.

Es stimmt, dass wir im Vietnamesischen selten Ich liebe dich sagen, und wenn, dann fast immer auf Englisch. Zärtlichkeit und Liebe drücken sich für uns am deutlichsten durch fürsorgliche Gesten aus: weiße Haare auszupfen, oder wenn du dich an deinen Sohn schmiegst, um Flugturbulenzen abzufedern und damit seine Furcht. Oder so wie jetzt — als Lan mir zurief: »Little Dog, komm her und hilf mir, deiner Mutter zu helfen.« Also knieten wir uns links und rechts neben dich und wälzten die verhärteten Stränge in deinen Oberarmen hinab zu den Handgelenken, den Fingern aus. Für einen Augenblick, beinahe zu flüchtig, um etwas zu bedeuten, ergab das Sinn — dass drei Menschen auf dem Boden, durch Berührung miteinander verbunden, so etwas wie das Wort Familie ergaben.

Du stöhntest vor...

Erscheint lt. Verlag 22.7.2019
Übersetzer Anne-Kristin Mittag
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel On earth we're briefly gorgeous
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerikanischer Traum • Brief • Debüt • Depression • Emotionalität • Familie • Faschismus • Forward Prize • Gender • Gewalt • Großmutter • Homosexualität • Identität • Krieg • Liebe • Louise Glück • Migration • Mutter • Night Sky with Exit Wounds • Race • Schizophrenie • Trauma • T.S. Eliot Prize • Unglück • Vietnam • Whiting Award
ISBN-10 3-446-26495-7 / 3446264957
ISBN-13 978-3-446-26495-3 / 9783446264953
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