Stasiland (eBook)
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491155-7 (ISBN)
Anna Funder, 1966 geboren, studierte in Melbourne und Berlin Germanistik, Englische Literatur und Rechtswissenschaften. Seit Ende der neunziger Jahre arbeitet sie als freie Autorin. Für ihr erstes Buch »Stasiland« (2002) erhielt sie den Samuel Johnson Award, den angesehensten Sachbuch-Preis in der englischsprachigen Welt. Ihr Roman »Alles, was ich bin« (S. Fischer, 2014) basiert auf einer wahren Begebenheit: 1935 wurden zwei bekannte deutsche Widerstandskämpferinnen vergiftet in ihren Betten aufgefunden. Das Schlafzimmer ihrer Wohnung im Londoner Exil war verschlossen. Die Bekanntschaft Anna Funders mit Ruth Blatt, einer Freundin dieser beiden Widerstandskämpferinnen, veranlasste die Autorin, Recherchen zu den mysteriösen Todesfällen in London anzustellen. In ?Alles, was ich bin? löst Funder die rätselhaften Tode mit einer Fiktion voller Mut, Liebe und Verrat. Der internationale Bestseller wurde allein in Australien mit dem renommiertesten Literaturpreis, dem Miles Franklin Prize, und sechs weiteren Preisen ausgezeichnet. Ihr Werk ist in 25 Sprachen übersetzt. Anna Funder lebt in Sydney.
Anna Funder, 1966 geboren, studierte in Melbourne und Berlin Germanistik, Englische Literatur und Rechtswissenschaften. Seit Ende der neunziger Jahre arbeitet sie als freie Autorin. Für ihr erstes Buch »Stasiland« (2002) erhielt sie den Samuel Johnson Award, den angesehensten Sachbuch-Preis in der englischsprachigen Welt. Ihr Roman »Alles, was ich bin« (S. Fischer, 2014) basiert auf einer wahren Begebenheit: 1935 wurden zwei bekannte deutsche Widerstandskämpferinnen vergiftet in ihren Betten aufgefunden. Das Schlafzimmer ihrer Wohnung im Londoner Exil war verschlossen. Die Bekanntschaft Anna Funders mit Ruth Blatt, einer Freundin dieser beiden Widerstandskämpferinnen, veranlasste die Autorin, Recherchen zu den mysteriösen Todesfällen in London anzustellen. In ›Alles, was ich bin‹ löst Funder die rätselhaften Tode mit einer Fiktion voller Mut, Liebe und Verrat. Der internationale Bestseller wurde allein in Australien mit dem renommiertesten Literaturpreis, dem Miles Franklin Prize, und sechs weiteren Preisen ausgezeichnet. Ihr Werk ist in 25 Sprachen übersetzt. Anna Funder lebt in Sydney. Anna Funder, 1966 geboren, studierte in Melbourne und Berlin Germanistik, Englische Literatur und Rechtswissenschaften. Seit Ende der neunziger Jahre arbeitet sie als freie Autorin. Für ihr erstes Buch »Stasiland« (2002) erhielt sie den Samuel Johnson Award, den angesehensten Sachbuch-Preis in der englischsprachigen Welt. Ihr Roman »Alles, was ich bin« (S. Fischer, 2014) basiert auf einer wahren Begebenheit: 1935 wurden zwei bekannte deutsche Widerstandskämpferinnen vergiftet in ihren Betten aufgefunden. Das Schlafzimmer ihrer Wohnung im Londoner Exil war verschlossen. Die Bekanntschaft Anna Funders mit Ruth Blatt, einer Freundin dieser beiden Widerstandskämpferinnen, veranlasste die Autorin, Recherchen zu den mysteriösen Todesfällen in London anzustellen. In ›Alles, was ich bin‹ löst Funder die rätselhaften Tode mit einer Fiktion voller Mut, Liebe und Verrat. Der internationale Bestseller wurde allein in Australien mit dem renommiertesten Literaturpreis, dem Miles Franklin Prize, und sechs weiteren Preisen ausgezeichnet. Ihr Werk ist in 25 Sprachen übersetzt. Anna Funder lebt in Sydney.
Wer die DDR wirklich verstehen will, kommt an diesem Werk nicht vorbei. Es ist eines der besten und wichtigsten Bücher zum Thema.
Berlin, Winter 1996
Verkatert bugsiere ich mich wie ein Auto durch die Menschenmenge am Bahnhof Alexanderplatz. Mehrmals verschätze ich mich mit der Entfernung und schramme an einer Mülltonne und einer Litfasssäule entlang. Morgen werden auf meiner Haut blaue Flecken erscheinen wie Bilder von einem Negativ.
Grinsend wendet sich ein Mann von der Mauer ab und zieht seinen Hosenschlitz zu. Ihm fehlen Schnürsenkel und ein paar Zähne; sein Gesicht ist ebenso aus dem Leim wie seine Schuhe. Ein anderer Mann im Overall, mit einem Besen breit wie ein Tennisplatz-Feger, schiebt Desinfektionsgranulat den Bahnsteig entlang. Er formt Bögen aus grünem Pulver, Zigarettenkippen und Urin. Ein Betrunkener torkelt, als könne der Boden ihn nicht halten.
Ich will mit der S-Bahn zum Ostbahnhof, um dort in den Regionalzug nach Leipzig zu steigen, etwa zwei Stunden von hier. Ich setze mich auf eine grüne Bank, blicke auf die grünen Kacheln, atme grüne Luft. Auf einmal wird mir übel. Ich muss unbedingt an die Luft und bahne mir den Weg zurück zur Treppe nach oben. Dort ist der Alexanderplatz, eine riesige weite Fläche aus grauem Beton, entworfen, damit die Leute sich klein fühlen. Es funktioniert.
Es schneit. Ich bewege mich durch den Matsch zu den Toiletten. Genau wie die Zuggleise sind sie unterirdisch angebracht, aber niemand hat daran gedacht, sie mit dem Bahnhof zu verbinden, für den sie da sind. Während ich die Stufen hinuntergehe, überwältigt mich der widerliche aseptische Geruch.
Unten steht eine korpulente Frau mit violetter Schürze und schrillem Make-up. Schützend lehnt sie sich über ihre Stapel Kondome, Papiertücher und Tampons auf dem gläsernen Tresen. Offensichtlich eine Frau, die den Müll des Lebens nicht scheut. Sie hat glänzende, weiche Haut und mehr als ein weiches Doppelkinn. Etwa fünfundsechzig ist sie.
»Guten Morgen«, sage ich. Ich bin befangen. Ich habe Geschichten von deutschen Babys gehört, deren Input an Nahrung und Output an Fäkalien man gewogen hat, um die Verhältnismäßigkeit herauszufinden. Schon immer fand ich diese Art mütterlicher Beobachtung unpassend. Nachdem ich die Toilette benutzt habe, lege ich eine Münze auf ihren Teller. Mir kommt der Verdacht, dass die Desinfektionströpfchen die Ausdünstungen menschlicher Körper mit etwas Schlimmerem übertünchen sollen.
»Wie isses da oben?«, will die Klofrau wissen und weist mit dem Kopf die Treppe hoch.
»Ganz schön kalt.« Ich zuckele meinen kleinen Rucksack zurecht. »Aber nicht allzu schlimm, nicht allzu viel Schneematsch.«
»Das ist doch gar nichts«, schnieft sie.
Ich weiß nicht, ob das Drohung oder Prahlerei ist, jedenfalls ist es das, was sie Berliner Schnauze nennen. Ich habe keine Lust, hier zu bleiben, aber hinauf in die Kälte will ich auch nicht. Der Desinfektionsgeruch ist so scharf, dass ich nicht weiß, ob es mir schlechter oder besser geht.
»Seit einundzwanzig Jahren bin ich jetzt hier, seit Winter ’75. Ich habe weit Schlimmeres als das hier gesehen.«
»Ganz schön lange Zeit.«
»Und ob. Stammkunden habe ich, wissen Sie. Die kennen mich, und ich kenn sie. Einmal war ein Prinz da, ein Hohenzollern.«
Wahrscheinlich erzählt sie jedem von dem Prinzen, geht mir durch den Kopf. Aber es funktioniert – ich werde neugierig. »Äh, bevor die Mauer fiel oder danach?«
»Davor. Er war auf einer Tagesreise aus dem Westen. Ich habe eine ganze Menge Leute aus dem Westen hier gehabt. Er hat mich auf sein Schloss eingeladen« – sie streicht mit der glatten Hand über ihren riesigen Busen –, »aber natürlich konnte ich nicht.«
Natürlich konnte sie nicht: Die Berliner Mauer verlief ein paar Kilometer von hier, und über die kam man nicht hinweg. Zusammen mit der Chinesischen Mauer war sie eines der längsten Bauwerke aller Zeiten, die Menschen voneinander trennen sollten. Ihre Geschichten werden immer unglaubwürdiger und zugleich immer besser. Und plötzlich rieche ich den ganzen Gestank gar nicht mehr. »Sind Sie gereist, seit die Mauer gefallen ist?«, frage ich. Sie wirft den Kopf zurück. Ich sehe, dass sie violetten Lidstrich aufgetragen hat, der phosphoresziert.
»Noch nicht. Aber ich würde gerne. Bali oder so. Oder China. Ja, China.« Sie trommelt mit den bemalten Fingernägeln auf der Glasvitrine und blickt verträumt in mittlere Fernen über meine linke Schulter. »Wissen Sie, was ich wirklich gerne tun würde? Am liebsten würde ich mal einen Blick auf deren Mauer werfen.«
Der Zug fährt aus dem Ostbahnhof hinaus und erreicht seine Fahrgeschwindigkeit. Das Geschaukel wirkt beruhigend wie eine Wiege, bringt meine nervösen Finger zum Stillstand. Die Stimme des Schaffners kommt aus dem Lautsprecher und sagt unsere Stationen an: Wannsee, Lutherstadt Wittenberg, Bitterfeld. Im Norden Deutschlands lebe ich im grauen Bereich: graue Gebäude, graue Erde, graue Vögel, graue Bäume. Draußen spult sich die Stadt und dann das Land in Schwarzweiß ab.
Die vergangene Nacht ist rauchig verschwommen – einer der Kneipenbesuche mit Klaus und seinen Freunden. Trotzdem ist es nicht ein Kater der Sorte, dass man für den ganzen Tag verloren ist. Es ist die interessantere Variante, bei der die unterbrochenen Schaltstellen der Nerven sich wie von selbst wieder zusammenfügen und dabei manchmal ihre alten Gleise verlassen und neue, seltsame Verbindungen eingehen. Ich erinnere mich an Dinge, an die ich mich vorher nicht erinnert habe, Dinge, die nicht aus dem geordneten Erinnerungslager stammen, das ich meine Vergangenheit nenne. Ich erinnere mich an den Damenbart meiner Mutter in der Sonne, erinnere mich an das heftige Hunger-und-Verlorenheits-Gefühl der Pubertät, erinnere mich an den Geruch der Straßenbahnbremsen im Sommer nach verbrannter Kreide. Du denkst, du hast deine Vergangenheit in ordentlich beschrifteten Fächern abgelegt, aber irgendwo lauert sie darauf, sich selbst neu zusammenzufügen.
Ich erinnere mich daran, wie ich Deutsch lernte – so schön, so seltsam –, in der Schule, in Australien, auf der anderen Seite der Erde. Meine Familie war verdutzt darüber, dass ich eine so komische, hässliche Sprache lernte, und natürlich war man zu fein, um dies auszusprechen, zudem die Sprache des Feindes. Aber mir gefiel daran, wie man lange, geschmeidige Wörter bilden konnte, indem man kurze zusammenfügte, baukastenartig. So wurden Dinge geschaffen, für die es im Englischen keinen Namen gab: Weltanschauung, Schadenfreude, Sippenhaft, Sonderweg, Scheißfreundlichkeit, Vergangenheitsbewältigung. Mir gefiel die schwungvolle Spannbreite von »herzlich« bis »Herzweh«. Und mir gefiel die Ordnung, die Direktheit, die ich in den Menschen vermutete. In den 1980er Jahren zog ich dann für eine Weile nach Westberlin und dachte lange und gründlich darüber nach, was wohl hinter dieser Mauer vor sich ging.
Eine schmerbäuchige Frau mir gegenüber wickelt ein belegtes Schwarzbrot aus. Bis jetzt ist es ihr gelungen, so zu tun, als sei ich gar nicht da, obwohl sich unsere Knie berühren könnten, wenn wir nicht aufpassen. Sie hat die Augenbrauen zu Bögen der Überraschung oder Drohung übermalt.
Ich denke über die Gefühle nach, die ich für die frühere Deutsche Demokratische Republik entwickelt habe. Ein Land, das nicht mehr existiert, doch ich sitze hier im Zug und rase hindurch – vorbei an seinen einstürzenden Häusern und verwirrten Menschen. Dieses Gefühl bedarf eines Wortes, eines Kunstwortes: Ich kann es nur mit dem Ausdruck Horror-Romanze wiedergeben. Es ist ein dummes Gefühl, aber ich will nicht daran rütteln. Die Romanze ist Teil des Traums einer besseren Welt, die die deutschen Kommunisten aus der Asche ihrer Nazivergangenheit zu errichten suchten: jedem nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen. Der Horror kommt von dem, was sie in seinem Namen taten. Die DDR ist verschwunden, doch ihre Überbleibsel sind noch allgegenwärtig.
Meine Mitfahrerin holt eine Packung Zigaretten der Marke West heraus, die seit dem Fall der Mauer die beliebteste zu sein scheint. Sie zündet sich eine an und bläst den Rauch über meinen Kopf hinweg. Nachdem sie zu Ende geraucht hat, drückt sie die Kippe im Klappaschenbecher aus, verschränkt die Hände über dem Bauch und schläft ein. Ihr aufgemalter Gesichtsausdruck bleibt unverändert.
Zum ersten Mal besuchte ich Leipzig 1994, fast fünf Jahre nachdem die Mauer im November 1989 gefallen war. Ostdeutschland wirkte immer noch wie ein geheimer, umzäunter Garten, ein aus der Zeit gefallener Ort. Ich wäre nicht überrascht gewesen, hätten die Dinge hier anders geschmeckt – Äpfel wie Birnen oder Wein wie Blut. Leipzig war der Angelpunkt für das, was jetzt jeder die Wende nennt. Die Wende war die friedliche Revolution gegen die kommunistische Diktatur in Ostdeutschland, die einzige erfolgreiche Revolution in der Geschichte Deutschlands. Leipzig war der Beginn und das Herz davon. Jetzt, zwei Jahre später, kehre ich zurück.
1994 fand ich eine durch Wildwuchs geprägte Stadt vor. Krumm wanden sich die Straßen, und es gab bröckelnde Passagen, die unerwartet in den nächsten Häuserblock hineinführten, und niedrige Bögen schleusten die Leute in Kellerkneipen. Mein Stadtplan hatte mit dem wirklichen Leben in Leipzig nicht die geringste Ähnlichkeit. Leute, die Bescheid wussten, konnten verborgene Abkürzungen durch die Häuser nehmen oder namenlose Gänge entlang der Häuserblocks, mal ober-, mal unterirdisch. Ich verirrte mich hoffnungslos. Das Stasi-Museum in...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2019 |
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Nachwort | Anna Funder |
Übersetzer | Harald Riemann |
Zusatzinfo | 1 s/w-Abbildung |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1989 • 30 Jahre Mauerfall • Alles was ich bin • Bericht • Berlin • Berliner Mauer • Berlin Wall • Bespitzelung • DDR • Dissident • Einzelschicksal • Entdeckungsreise • Fall der Mauer • im • Kollaboration • Mauerfall • Miriam • Opfer • Ostdeutschland • Reise • Stasi • Überwachung • V-Mann • Wende • Wendejahr |
ISBN-10 | 3-10-491155-X / 310491155X |
ISBN-13 | 978-3-10-491155-7 / 9783104911557 |
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