Die Nächte von Paris (eBook)

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2019 | 1. Auflage
528 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32024-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Nächte von Paris -  Rétif de la Bretonne
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Nachts in der damals größten Stadt der Welt - und Augenzeuge, als die Revolution ausbricht.Ein Standardwerk der Paris-Literatur, der Großstadt- und der Revolutionsreportage. Zwanzig Jahre lang hat der »Nächtliche Zuschauer« Rétif de la Bretonne damit zugebracht, nach Sonnenuntergang die damals größte Stadt der Welt zu erkunden: Paris. In einem an Tausendundeine Nacht erinnernden Rahmen präsentiert er die merkwürdigsten seiner Erlebnisse und Begegnungen den Lesern. Grabräuber - Bücherschmuggel in Gemüsegärten - Die bedrängte Frau - Der Geräderte - Fleißige Nichtstuer - Der Plakatabreißer - Das Geheimnis der Waschfrauen - Der nützliche Spion - Der Zeittotschläger - Die ersten Ballons - Tumult und Radau: Schon eine kleine Auswahl aus dem Inhaltsverzeichnis lässt erahnen, was für ein Schatz an Geschichten und Beobachtungen hier zusammengekommen ist. Im Dezember 1788 erscheinen die ersten zwölf Bände dieses Riesenwerks, zwei weitere folgen im April 1789. Da spürt Rétif schon, wie sich in der Metropole neuer Stoff zu sammeln beginnt, Zündstoff für die Weltgeschichte. Er ist beim Ausbruch der Revolution selbst mit dabei. Von der Bastille kommt ihm eine Gruppe von Revolutionären mit den aufgespießten Köpfen des letzten Gouverneurs dieses Gefängnisses und des eben noch amtierenden Bürgermeisters von Paris entgegen. Er wird in den nächsten Jahren immer wieder Augenzeuge von Mord und Zerstörung, von Phasen des Glücks- und Freudentaumels, von Gräueltaten, Massakern, Hinrichtungen - und setzt sein Buch fort.

Rétif de la Bretonne (1734 bis 1806) wuchs bei Auxerre in der Bourgogne auf und zog als Drucker und Autor nach Paris. Er verfasste ca. 200 Bücher, darunter viele Romane, Sozialutopien und lizenziöse Schriften. Seine Nuits de Paris gelten als eines der ersten großen Werke der Großstadtsoziologie. An Monsieur Nicolas arbeitete er über viele Jahre hinweg. Das Buch wucherte ihm ins Uferlose. Er starb verarmt und vereinsamt.

Rétif de la Bretonne (1734 bis 1806) wuchs bei Auxerre in der Bourgogne auf und zog als Drucker und Autor nach Paris. Er verfasste ca. 200 Bücher, darunter viele Romane, Sozialutopien und lizenziöse Schriften. Seine Nuits de Paris gelten als eines der ersten großen Werke der Großstadtsoziologie. An Monsieur Nicolas arbeitete er über viele Jahre hinweg. Das Buch wucherte ihm ins Uferlose. Er starb verarmt und vereinsamt. Reinhard Kaiser lebt und arbeitet als Autor und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er schrieb eigene Sachbücher und Romane und entdeckte für Deutschland u.a. Nancy Mitford und Vivant Denon wieder. In spektakulären Ausgaben bringt er den Deutschen das Werk Grimmelshausens wieder näher. Zuletzt hat er aus Rétif de la Bretonnes Vielbändern »Monsieur Nicolas« und »Die Nächte von Paris« kluge Auswahlen getroffen und diese übersetzt – und sie damit erstmals in all ihrer literarischen Größe einem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Reinhard Kaiser lebt und arbeitet als Autor und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er schrieb eigene Sachbücher und Romane und entdeckte für Deutschland u.a. Nancy Mitford und Vivant Denon wieder. In spektakulären Ausgaben bringt er den Deutschen das Werk Grimmelshausens wieder näher. Zuletzt hat er aus Rétif de la Bretonnes Vielbändern »Monsieur Nicolas« und »Die Nächte von Paris« kluge Auswahlen getroffen und diese übersetzt – und sie damit erstmals in all ihrer literarischen Größe einem deutschen Publikum zugänglich gemacht.

Das trauernde Herz (5. Nacht)


Auch am nächsten Tag ließ mich der Gedanke an das, was ich am Abend zuvor gehört hatte, nicht los. Ehe ich die Marquise besuchte, ging ich in die Rue Bourg l’Abbé. Es war erst neun Uhr. Alle Geschäfte waren noch geöffnet. Ich erkundigte mich in der Nachbarschaft – bei der hübschen Verkäuferin in einer Parfümerie, einer Tochter des Hauses, die gerade allein hinter der Theke stand.

»Ach, Monsieur!«, sagte diese junge Person zu mir. »Sie haben ihn also auch gehört! Wir hören ihn oft. Er ist der liebenswürdigste, achtbarste, sanfteste Mann, den man sich vorstellen kann … Solange sie lebte, hat er den Anstand stets sorgsam gewahrt! Nie hat er sie kompromittiert!«

»Aber wen denn, Mademoiselle?«

»Nun ja, Madame d’Imberval … Sehen Sie doch, da kommt er gerade … Sie könnten … Er ist höflich, anständig … Gehen Sie zu ihm. Wenn Sie mit ihm über Madame d’Imberval sprechen, werden Sie willkommen sein … Gehen Sie nur.«

Ich folgte dem Rat der kleinen Person. Ich betrat das Haus und fragte den Portier nach Monsieur d’Imberval.

»Sie meinen bestimmt Monsieur d’Angeval, nicht wahr?«

»Mag sein«, antwortete ich. Er ließ ein verwundertes Pfeifen hören, und ich ging nach oben.

Ich klopfe behutsam. Ein junger Mann mit wirrem Haar und feuchten Augen öffnet mir. Als er mich sieht, weicht er zurück.

»Junger Mann, Sie interessieren mich«, sage ich. »Sie werden sich doch nicht weigern, jemandem, der genauso unglücklich ist wie Sie, von Ihrem Unglück zu erzählen? Ich bin ein empfindsamer Mensch. Es kann Ihrem Schmerz nichts anhaben, wenn Sie mit mir darüber sprechen.«

Da nahm er meine Hand und ließ mich eintreten.

Zwei zweiarmige Leuchter erhellten seine Wohnung. Überall standen gläserne Schaukästen. Darin waren verschiedene Arten von Mänteln ausgestellt, außerdem Frauenkleider aller Art, für alle Jahreszeiten und in allen Farben, Hauben in allen Formen, Schuhe – mit einem Wort, alles, was einer schönen Frau gut steht. Im hinteren Teil der Wohnung sah man undeutlich die Umrisse des Portals einer Kapelle. Unter einem Baldachin hingen dort die Porträts zweier Gestalten, die einander anblickten und von denen eines den jungen Mann darstellte. Zwischen diesen beiden sah man eine schöne, sorgfältig zurechtgemachte Frauengestalt in einem frischen Kleid, lachend und mit einer Miene, als wollte sie im nächsten Augenblick etwas sagen. Ich hielt sie für eine lebendige Schönheit, bis mich ihre Reglosigkeit davon überzeugte, dass es sich um eine Wachsfigur handelte. Das Porträt der Frau unter dem Baldachin glich dieser Figur vollkommen. Es war mit Blumen gekrönt, während über dem Bildnis des jungen Mannes ein Trauerflor drapiert war.

Der junge Mann ließ mich alles betrachten, ohne etwas zu sagen. Schließlich wandte ich mich an ihn.

»Beweinen Sie eine innig verehrte Gattin, eine Schwester, eine Geliebte?«

»Sie ist weder meine Schwester noch meine Geliebte noch meine Gemahlin – sie ist meine Freundin … Aber wer sind Sie?«

»Ich bin der Nächtliche Zuschauer.«

»Ich habe von Ihnen gehört. Sie sind der Mann, den ich kennenlernen wollte, in der Hoffnung, Sie könnten die Bitterkeit meines Kummers lindern … Wollen Sie meine schmerzliche Geschichte hören?«

»Von Herzen gern!«, antwortete ich.

»Vor zweieinhalb Jahren wurde ich dank eines Zufalls bei einer Dame zum Essen eingeladen, die ich nur sehr flüchtig kannte. Mit keinem der Gäste stand ich in irgendeiner Beziehung, sodass ich bei Tisch auf ungefähr fünfzehn für mich ganz neue Gesichter traf. Unter ihnen waren drei sehr hübsche Personen, zwei Blonde und eine Dunkelhaarige. Die ältere der beiden Blonden sah mich immer wieder an. Die beiden anderen erschienen mir zu jung. Es war jene Erste, mit der ich ins Gespräch kam und bald auch vertraut wurde. Ich sprach sie mit Mademoiselle an, ohne dass jemand sich darüber zu wundern schien. Einigen Worten, die eine dunkelhaarige, sehr lebhafte, strahlende Dame an sie richtete, entnahm ich, dass sie deren Schwester oder Schwägerin war. Da ich die Lebensverhältnisse der Dame mit dem dunklen Haar kannte, fand ich, dass die bezaubernde Blonde nur desto besser zu mir passte. Denn schon im ersten Moment hatte ich beschlossen, sie für mich einzunehmen und alles zu tun, um sie zu gewinnen. Ach, dieser Tag war köstlich!

Dem Essen folgte der Spaziergang. Nun reichte ich der Dame mit dem dunklen Haar den Arm, um sie mir gewogen zu machen. Aber sobald wir den Jardin du Luxembourg erreicht hatten, versuchte ich, mich der reizenden Blonden wieder zu nähern, und von da an trennten wir uns nicht mehr, obwohl ich in den Blicken der dunklen Dame eine gewisse Abkühlung wahrnahm. Ich konnte mich von Eleonore nicht mehr trennen. Schließlich rief ihre Schwägerin nach ihr.

Die Herrin des Hauses, bei der ich gegessen hatte, nutzte den Augenblick, um mir etwas zu sagen.

›Alle hier‹, sagte sie lachend, ›haben bemerkt, wie sehr Madame d’Imberval es Ihnen angetan hat!‹

›Madame?!‹, rief ich.

›Ja, Madame d’Imberval. Die junge Person, die Sie verlassen hat, ist mit dem Bruder der Dame verheiratet, die jetzt gerade mit ihr spricht. Diese Dame hat sie hierher mitgebracht. Ich selbst kannte sie kaum, aber mit ihrer Schwägerin bin ich befreundet.‹

Ich war nach dieser Mitteilung wie vernichtet. Tief betrübt und wie vor den Kopf gestoßen zog ich mich zurück – fest entschlossen, die allzu liebenswerte Eleonore nicht wiederzusehen.

Drei oder vier Tage später machte ich Madame de Nebli (der Dame, die mich eingeladen hatte) einen Besuch. Sie sah, wie traurig ich war, und versuchte, mich aufzumuntern.

›Trotzdem‹, sagte ich zu ihr, ›ich bin sehr betrübt. Man sollte es bei allen Gesellschaften so machen wie ein Offizier, mit dem ich befreundet bin. Wenn man von ihm eingeladen wird, versäumt er es nie, einen über die anderen Gäste zu unterrichten – Name, Stand, Charakter, Lebensverhältnisse. Auf diese Weise bewahrt er einen vor allerlei, oft gefährlichen Unvorsichtigkeiten. Etwa dass man schlecht über einen bekannten Mann spricht, während man gerade vor ihm steht. Und vor allem bewahrt einen dies vor einem Unglück, wie es mir widerfahren ist.‹

Ein Träne lief mir über die Wange. Madame de Nebli verging die Lust, mich zu necken. Sie wurde ernst und sagte wie zu sich selbst: ›Ach, die unglückliche Eleonore! Kaum gewonnen, ist ihr Glück schon wieder zerronnen!‹

›Wie bitte? Was sagen Sie da, Madame?‹

›Sie müssen wissen – Madame d’Imberval hat einen Liederjan geheiratet, der innerhalb von zwei Jahren ihre Mitgift und sein eigenes Vermögen durchgebracht hat. Vor drei Monaten hat er sich nach London abgesetzt. Eleonore lebt von einer bescheidenen Pension, die ihre Schwägerin ihr zahlt.‹

Diese niederschmetternde Erklärung erfüllte mich mit einem solchen Schmerz, dass ich lange Zeit starr dasaß.

Schließlich fragte ich noch einmal genauer nach und erfuhr in allen Einzelheiten, was ich wissen wollte. Ich verließ dieses Haus, um Luft zu schöpfen und das Durcheinander in meinem Kopf zu entwirren. Ich fand mich wieder im Jardin du Luxembourg – unter den Bäumen, die uns, Eleonore und mir, ein paar Tage zuvor ihren Schatten gespendet hatten – und dort fasste ich einen Entschluss.

›Ich habe Renten von fünfzehntausend Livres und keine Schulden. Ich werde ein paar Bücher schreiben, die mir etwas einbringen. Eleonore ist ins Unglück geraten, und ich bete sie an.‹

Ich verlasse den Park und eile hinüber in jene Straße. Mit pochendem Herzen stehe ich vor Eleonores Tür. Ich klopfe. Sie öffnet selbst, denn ihr Dienstmädchen ist ausgegangen. Sie wagt es nicht, mich anzusehen.

›Madame‹, sage ich, ›erlauben Sie einem Bewunderer und wahren Freund, Ihnen seine allerhöchste Wertschätzung zu bezeugen und außerdem … seine ganze Zuneigung!‹

Bei diesen Worten errötete Eleonore und lud mich fast wortlos ein, Platz zu nehmen.

›Ich habe nicht darauf gehofft, Monsieur, dass Sie mir die Ehre eines Besuchs erweisen!‹

›Gewiss, Madame, da Sie verheiratet sind … wie sollten Sie dies erwarten … Aber nachdem ich … diese Neuigkeit erfahren habe, hat mir etwas … anderes die Kraft gegeben, bis zu Ihnen vorzudringen … Die Gefühle, die Sie zuerst in mir geweckt haben, hege ich nicht mehr, Madame: Es ist kein Liebhaber … und auch kein Gemahl, der hier erscheint. Es ist ein zartfühlender Freund, dessen Herz so rein ist wie das Ihre … – Eleonore, ich nähere mich Ihnen als zartfühlender Bruder, der alles, was er hat, mit Ihnen teilen will. Wir werden zusammen essen. Unsere Einladungen werden wir gemeinsam arrangieren, und wir werden zusammen unsere Freunde besuchen, ins Theater gehen, Spaziergänge unternehmen. Und trennen werden wir uns erst um die Zeit, da ein Bruder seine Schwester verlassen muss. Ich wollte, Sie hätten unter Ihren Verwandten oder – besser noch – unter denen Ihres Mannes eine Person, die als ständiger Zeuge Ihres Betragens zur Verfügung stände, die bei Ihnen wohnt und in Ihrem Zimmer oder nebenan schläft. Dies sind die Vorschläge, die Ihr Bruder Ihnen macht und die Sie annehmen müssen, wenn Sie ihn nicht tief...

Erscheint lt. Verlag 22.8.2019
Übersetzer Reinhard Kaiser
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bastille • Frankreich • Französische Revolution • Geschichte • Gosse • Großstadt • Klassiker • Ludwig X • Ludwig XIV • Metropole • Monsieur Nicolas • Paris • Reinhard Kaiser • Reportage • Rétif de la Bretonne • Tausendundeinenacht • Weltgeschichte
ISBN-10 3-462-32024-6 / 3462320246
ISBN-13 978-3-462-32024-4 / 9783462320244
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