Die Wunder von Little No Horse (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
512 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1834-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wunder von Little No Horse -  Louise Erdrich
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Mehr als ein halbes Jahrhundert hat Vater Damien Modeste sich ganz in den Dienst seines geliebten Stammes der Ojibwe im abgelegenen Reservat Little No Horse gestellt. Nun da sein Leben zu Ende geht, muss er fürchten, dass das große Geheimnis seines Lebens doch noch ans Licht kommen könnte: er ist in Wahrheit eine Frau. In ihrem bislang nichts ins Deutsche übertragenen Meisterwerk erkundet Louise Erdrich das Wesen der Zeit und den Geist einer Frau, die sich gezwungen fühlte, sich selbst zu verleugnen, um ihrem Glauben dienen zu können. Ein Buch mit Herz, großartig erzählt. »Lustig und elegisch, absurd und tragisch.« New York Times



Louise Erdrich, geboren 1954 als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Sie erhielt den National Book Award, den PEN/Saul Bellow Award und den Library of Congress Prize. Louise Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books. Im Aufbau Verlag ist ihr Roman 'Der Gott am Ende der Straße' und im Aufbau Taschenbuch ihre Romane 'Liebeszauber', 'Die Rübenkönigin', 'Der Club der singenden Metzger', 'Der Klang der Trommel', 'Solange du lebst', 'Das Haus des Windes' und 'Ein Lied für die Geister' lieferbar. Gesine Schröder übersetzt seit 2007 aus dem Englischen und hat u.a. Jennifer duBois und Curtis Sittenfield ins Deutsche übertragen. Nach Aufenthalten in den USA, Australien, Indien, England und Kanada lebt sie in Berlin.

Prolog
Der alte Priester
1996


Auf den Schattenseiten der Hügel und Senken des Reservats lag Raureif, doch die Morgenluft war von milden südlichen Winden beinahe warm. Father Damien erlebte seine besten Stunden spätabends oder kurz nach dem Erwachen, wenn er nur einen Becher heißes Wasser zu sich genommen hatte. Er war alt, sehr alt, aber geistig rege, solange er nichts essen musste. In der museumsreifen Soutane saß er in seinem Lieblingssessel und schaute auf den Friedhof hinaus, der sich gleich hinter dem verwilderten Garten seines Altersruhesitzes über einen flachen Hügel erstreckte. Seine Gedanken durchdrangen die klare Luft, das Gewirr der Äste, die über den Grabsteinen wogten, die Wolken, den Himmel, ja sogar die Zeit – straff und flink sprangen sie aus ihm hervor, einer nach dem anderen, bis er sein winziges Frühstück aus Toastbrot und Kaffee einnahm. Danach erschlaffte sein Verstand. Er pflegte dann wieder ein wenig zu dösen, oft bis in seinen Mittagsschlaf hinein.

In letzter Zeit wurde er oft von Schlaftrunkenheit befallen, meist vor dem Abendessen und manchmal, was am peinlichsten war, während er samstags die Nachmittagsmesse las. Wenn er wieder ganz wach war, zog er sich den Abend über an seinen Schreibtisch zurück und verbat sich dort jegliche Störung. Dann verfasste er glühende politische Streitschriften, strenge geistliche Sendschreiben, Beobachtungen über das Leben im Reservat für Geschichtszeitschriften sowie Gedichte. Zudem brachte er lange Texte zu Papier, die er als Berichte bezeichnete und an den Papst verschickte – seit 1912, seit Beginn seiner Amtszeit im Reservat, hatte er jeden einzelnen Heiligen Vater angeschrieben. Bei dieser Arbeit trank Father Damien stets ein paar Schlückchen Wein, und bis es Zeit wurde, sich schlafen zu legen, war er meist »befriedet«, wie er es nannte. Diesmal allerdings zeigte der Wein die gegensätzliche Wirkung – er verschärfte seinen Eifer noch, statt ihn zu dämpfen, trieb die Spitze seines billigen Füllfederhalters schneller über das Papier und bündelte seine Gedanken.

An Seine Heiligkeit den Papst

Vatikan, Rom, Italien

Letzter Bericht von den Wundern in Little No Horse

Niedergeschrieben von

Father Damien Modeste

Eure Heiligkeit, ich spreche aus unerhörter Ferne zu Ihnen. Ich habe so viel zu erzählen und so wenig Zeit. Mich hat in der letzten Zeit eine entsetzliche Schwere befallen. Das muss wohl bedeuten, dass nun doch noch die Stunde meines Todes naht; deshalb diese Vertraulichkeit und diese Hast. Ich hoffe, Sie können mir meine Unbeholfenheit vergeben, denn zum Korrigieren bleibt mir keine Zeit!

Meine Handschrift ist zum Verzweifeln zittrig, aber hoffentlich dennoch lesbar.

Ich weiß nicht einmal, ob meine bisherigen Berichte bei Ihnen angekommen sind – die Korrespondenz reicht insgesamt bis zum Beginn dieses Jahrhunderts zurück, doch die neuesten gingen naturgemäß an Sie. In meine Briefe sind Zeugnisse aus verschiedensten Quellen eingeflossen, unter anderem aus Beichten. Einmal habe ich die Identität einer Mörderin geheim gehalten, eine Seelenqual, die mich noch heute peinigt. Aeternus Pater, es muss genug Material in Ihrem Besitz sein, um mehrere Tresorräume voller Aktenschränke zu füllen. Darf ich, da dies der letzte meiner Berichte sein wird, diesmal endlich auf Ihre Antwort hoffen?

Hier unterbrach sich Father Damien und rückte gereizt seinen hölzernen Bürostuhl zurecht. In seinem Kopf pulsierten Lichter. Er warf den Füllfederhalter hin, dass es klapperte, und starrte geistesabwesend auf die säuberlich sortierten Umschläge und Karteikarten, das Briefpapier, die Briefmarken und die Akten in den Fächern seines Sekretärs. Er fand es oft tröstlich, Kleinigkeiten zu ordnen, und jetzt, wo er mit seinen Ausführungen unzufrieden war, begann er Papierstapel zu begradigen und Schreibgeräte nebeneinander anzuordnen. Das hielt ihn eine Weile beschäftigt, bis er begriff, was ihn so sehr bedrückte. Offenbar durfte man keine Antwort erwarten, o nein, das wäre schließlich viel zu menschlich! Eine persönliche Antwort des Papstes nach Jahrzehnten treuer Korrespondenz. Konnte man es so überhaupt nennen, wo dieses Wort doch ein Mindestmaß an Gegenseitigkeit suggerierte, zumindest den Anschein eines Austauschs? In all der Zeit hatte Father Damien noch nicht einmal einen Formbrief zurückerhalten. Selbst eine Autogrammkarte wäre besser als nichts gewesen, und nicht einmal die hatte er bekommen. Es war ein einseitiges Gespräch, das er hier führte, ein Monolog, der getreulich und beharrlich nach der Wahrheit strebte und seine Sorgen darüber kundtat, was sich jenseits des mit Eicheln übersäten Rasens, hinter der Hecke, dort drüben zwischen den geweißten Klostermauern zugetragen hatte …

Ein großer Schluck Rotwein. Diese schmerzliche Klarheit – war sie vielleicht dem Rebensaft zu verdanken? Es musste ein besonders potenter Jahrgang sein. Father Damien griff nach der Flasche und betrachtete das Etikett. Ein obskurer Beaujolais, kräftig und fruchtig, den ein fürsorgliches Gemeindemitglied auf seiner Türschwelle hinterlassen hatte. Ja, es war der Wein, französischer Wein, blaurot auf der Zunge und klar, der ihn zu Vorwürfen verleitete, wo jede Schuldzuweisung nutzlos war. Seine Stimmung hob sich. Immerhin – Father Damien lehnte sich, das Glas an den Lippen, zurück und nahm einen kleineren Schluck – war der Papst ein viel beschäftigter Mann! Hatte er etwa Zeit für dieses elende Nest und für einen beharrlichen, nichtsnutzigen Geistlichen, der nicht einmal mehr gerade Zeilen schreiben konnte, ohne ein Lineal zu Hilfe zu nehmen wie ein Schulkind? Keine Zeit, keine Zeit für den Nonsens oder die ungeheuerlichen spirituellen Vorgänge, deren Zeuge ich geworden bin. Keine Zeit.

Wiewohl mir nicht die Ehre einer Antwort zuteilwurde, habe ich jahrzehntelang nie darin nachgelassen, von den ersten Tagen meiner Arbeit auf diesem entlegenen Posten an, jene ungewöhnlichen Ereignisse niederzuschreiben, die zu Spekulationen über den Seligenstatus einer gewissen Schwester Leopolda führten, die jüngst (wenn auch vielleicht nicht vollständig) verstarb. Zwar nicht formell vom Beichtgeheimnis entbunden, habe ich es dennoch nach zahllosen in peinigender Selbstbefragung zugebrachten Nächten für meine Pflicht gehalten, einen Teil der Belege zusammenzustellen, die mir in jenen langen Selbstgesprächen im Beichtstuhl vorgetragen wurden.

Ich hoffe, dass der Ernst meiner Aufgabe es in diesem speziellen Fall rechtfertigt, dass ich gebeichtete Sünden weitererzähle. Wie gesagt, habe ich das in mich gesetzte Vertrauen nicht leichtfertig missbraucht. Ohne irgendeinen Ihrer Vorgänger im Besonderen beschuldigen zu wollen, muss ich doch gestehen, dass es mir sehr geholfen hätte, hätte der eine oder andere Papst es sich angelegen sein lassen, mir in dieser Frage Orientierung zu geben. Zweifellos, o Quell des Glaubens, muss es dafür Gründe außerhalb meines Gesichtsfelds geben, Dinge, die meinen Verstand übersteigen. Mag sein, dass das Schweigen von jenseits meiner bescheidenen Grenzen eine Prüfung gewesen ist, ein Maßnehmen meiner Beständigkeit, meines Glaubens.

Falls ja, soll dieser letzte Bericht meine Standhaftigkeit beweisen.

Und wieder die brennenden Hände, Arthritis, und ein Schreibkrampf dazu. Father Damien legte den Stift diesmal behutsam beiseite und massierte seine linke Hand mit der rechten, als wollte er ein Tuch auswringen. So viel und so konzentriert hatte er lange nicht mehr geschrieben – seit vielen Wochen oder Monaten nicht. Selbst nach zwei Gläsern Wein flossen seine Gedanken noch so reichlich, dass er beschloss weiterzumachen. Wer wusste schließlich, wie viele Abende ihm auf Erden blieben? Seine Hand am Stiel des Weinglases überraschte ihn – langgliedrig und gekrümmt, herrlich abgenutzt und weich, die ovalen Nägel schildpattfarben. Lange Zeit war er alt gewesen; jetzt war er jenseits von alt. Eine wandelnde Mumie. Dass ausgerechnet er sich als so langlebig erweisen sollte! Ausgerechnet! Er fuhr sich über das Haar, die dünnen, schütteren Strähnen, und über die geschwungene Narbe, einen Schnörkel, der viele frühe Erinnerungen durchgestrichen hatte. Das Herz in seiner Brust war so empfindlich, so schreckhaft. Viele einfache Dinge bereiteten ihm jetzt Schwierigkeiten. Kinder zum Beispiel. Er hatte es immer genossen, ihnen zu begegnen, doch jetzt brachte ihr Überschwang ihn durcheinander. Von ihren Stimmen, ihren raschen Bewegungen wurde ihm schwindlig. Er musste sich setzen, sein Herz zur Ruhe bringen und Kraft schöpfen. Auch sein Gehör bereitete ihm Kummer: Manchmal hörte er alles, jeden Unterton der Chopin-Préludes, die er auch jetzt noch, wenn auch linkisch tastend, spielte, jedes Rascheln seiner Laken; dann wieder verschwand alles im Rauschen eines unsichtbaren Meers.

Dennoch war er noch immer ein exzellenter Beichtvater. Sein Hörgerät voll aufgedreht, beugte er sich dicht an das Gitter. Sündenbekenntnisse zu hören, über die Geschichten seiner Mitmenschen nachzusinnen und diese schließlich mit großer Geste von ihren Verfehlungen zu absolvieren, die Sünder rein und frei aus der Kirche zu entlassen, das war Father Damien das Liebste der Sakramente. Er vergab ihnen mit peinlichst genauer Milde, aber immer rückhaltlos, und war stolz auf die originellen Bußen, die er sich passend zu den jeweiligen Sünden überlegte. Den Büßern gefielen sein ehrliches Interesse an ihren...

Erscheint lt. Verlag 8.11.2019
Übersetzer Gesine Schröder
Sprache deutsch
Original-Titel The Last Report on the Miracles at Little No Horse (AT)
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ein ganzes Leben • Frauenfigur • Frau Mann • Identität • Indianer • Jahrhundertroman • Lebensgeschichte • Native Americans • Transparent • transperson • Ureinwohner
ISBN-10 3-8412-1834-2 / 3841218342
ISBN-13 978-3-8412-1834-6 / 9783841218346
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