Commissaire Le Floch und die silberne Hand (eBook)
464 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-25047-8 (ISBN)
Die Autopsie ergibt, dass das Zimmermädchen mit einer Art Pflock ermordet worden ist. Passt diese tödliche Verwundung nicht auffällig gut zu dem Hausbesitzer selbst, zu Monsieur Saint-Florentin? Dieser hat nach einer Kriegsverletzung vom König eine silberne Hand geschenkt bekommen, die auf seinem Armstumpf sitzt ...
Jean-François Parot, 1946 geboren, studierte an der Sorbonne in Paris Geschichte und Ethnologie, absolvierte eine Ausbildung als Ägyptologe und spezialisierte sich auf das 18. Jahrhundert. Nach dem Militärdienst schlug er die diplomatische Laufbahn ein. Seine Romanreihe um Commissaire Le Floch wurde nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen anderen Ländern ein großer Erfolg. Jean-François Parot verstarb am 23. Mai 2018.
Prolog
Die dunkle Nacht nahm den Dingen alle Farben.
Maurice Scève
Sonntag, den 2. Oktober 1774
Was bedeutete dieses ungewöhnliche Rendezvous? Sie würde ihm derartige Launen austreiben, er würde schon sehen. Was bildete er sich ein! Die Etage der Dienerschaft bot genügend Gelegenheiten, um sie nicht zu unwillkommenen nächtlichen Eskapaden zu zwingen. Ein Glück, dass ihre Aufgaben in den Gemächern von Madame diesen gut aussehenden Weiberhelden für einen Großteil des Tages von ihr fernhielten. Er nutzte häufig ihren Aufenthalt in den Gemeinschaftsräumen des Hôtel Saint-Florentin aus, um … Nun ja, der Mann war eben unersättlich.
Aber was konnte sie ihm schon mit Recht verweigern? Sie verdankte ihm schließlich ihre Stelle und damit eine gewisse Sicherheit.
Die Wartezeit verlängerte sich, und der Kerzenstummel, der die Fleischküche spärlich beleuchtete, würde nicht mehr lange brennen. Es handelte sich um einen großen, dunklen Raum mit Kaminen aus geschwärzten Steinen, auf deren vorgebauten Simsen allerlei Gerätschaften wie Bratspieße, Zahngestänge und Fettpfannen standen und lagen.
Sie musste lachen über ihre Dreistigkeit: Jeden Tag stahl sie Kerzenstummel in den Gemächern der oberen Etagen und vermehrte dadurch ihren Vorrat. Ein paarmal wäre sie beinahe ertappt worden. Sie musste sich nicht nur vor ihrer stets wachsamen Herrin in Acht nehmen, sondern auch vor den anderen Dienstboten, die ihr Konkurrenz beim Klauen machten und wie sie hinter allem her waren, was einen einträglichen Wiederverkauf versprach. Das Kerzenwachs wurde dabei nach Gewicht berechnet.
Ein metallisches Klirren zerriss die Stille. Ihr Herz schlug so wild, dass es wehtat. In banger Erwartung hielt sie den Atem an, ohne dass etwas geschah. Wieder eine dieser Ratten, dachte sie, die man einfach nicht loswurde. Eines dieser räudigen und satten grauen Viecher, die sich von den Küchenabfällen und den Resten ernährten, die in der großen Vorratskammer aufbewahrt wurden. Dort fanden sich ebenfalls genügend Sachen, mit denen sich gute Geschäfte machen ließen. Die besten Stücke verkaufte sie an ein paar Wirtshäuser und die Essensreste an einen dieser Hersteller von Suppen aus Abfällen, deren dampfende Wagen den Ärmsten auf den Straßen für ein paar Kupfermünzen einen Augenblick des Trostes schenkten. Eine Erfahrung, die sie vor gar nicht so langer Zeit selbst gemacht hatte, nachdem sie aus ihrem Elternhaus geflohen war. Noch immer meinte sie, diesen säuerlichen und fauligen Nachgeschmack im Mund zu haben, den kein Gewürz zu übertönen vermochte. Allein beim Gedanken daran wurde ihr übel.
Nach wie vor spitzte sie die Ohren in der Hoffnung, den schweren Schritt ihres Liebhabers zu hören. Ein fernes Miauen ertönte. Sie konnte sich ein spöttisches Lachen nicht verkneifen; die Kater hier waren zu nichts nutze, gemästet, wie sie von den Resten eines reich gedeckten Tisches waren. Lediglich ihre Augen, die in der Dunkelheit leuchteten, vermochten jemanden zu erschrecken, öfter hingegen erschraken sie selbst. Wenn sich eine Ratte von beachtlicher Größe, die gelblichen Zähne gefletscht, vor ihnen aufrichtete, traten sie kampflos den Rückzug an. Aber es waren nicht die Katzen, die ihr Angst machten. In den Ställen ihres Vaters, eines Viehzüchters im Faubourg Saint-Antoine, trieben sich die furchterregendsten Katzen herum, angelockt von den unzähligen Mäusen, die sich dort im Stroh und im Futter verbargen.
Sie wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken, versuchte sie vielmehr auszulöschen. Doch es half alles nichts, sie sah die letzten Momente, die sie mit ihrer Familie verbrachte hatte, immer wieder vor sich. Ihr Vater wollte sie unbedingt mit dem Sohn eines Nachbarn, einem Gärtner, verheiraten. Obwohl durchaus gut gebaut, war dieser Junge mit den vorstehenden Augen nicht nach ihrem Geschmack. Seine Art, ihr den Hof zu machen, war mehr als merkwürdig, denn sie bestand fast ausschließlich in langatmigen Aufzählungen von Salaten oder von Regeln für den Anbau in Frühbeeten, das Ganze ausgeschmückt mit Überlegungen, ob man Alleen lieber mit Hecken, Spalieren oder einem Zaun aus Rebpfählen säumen sollte. Der Antrittsbesuch bei den Vitrys hatte sie in ihrer Ablehnung bestärkt.
Deren Haus bestand unten aus einem einzigen großen Raum, in dem die Familie lebte und aß. Der Boden bestand aus gestampfter Erde, kein Vergleich also zu den gewachsten Fliesen in der elterlichen Wohnküche. Strohstühle, ein großer Tisch aus verwittertem Holz, ein Kachelofen, ein Springbrunnen aus Kupfer und ein schäbiges Buffet bildeten die ganze Einrichtung. Im ersten Stock gab es zwei Schlafzimmer mit einfachen Betten, von denen eines, in dem der Sohn schlief, das Nest des künftigen Paares werden sollte. Mutter Vitry, eine große, schwarzhaarige, dürre Frau mit Fingernägeln, die schmutzig und schadhaft vom Wühlen in der Erde waren, zählte ihr in schroffem Ton die Pflichten einer Gärtnersfrau auf. Sie müsse bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit um fünf Uhr morgens aufstehen und bis acht Uhr abends arbeiten. Mit einer einzigen Pause, um schnell und ohne Zeit zu verlieren eine Suppe oder einen Brotkanten zu essen. Und selbstverständlich müsse sie den Eltern ihres Mannes gehorchen, als wären es ihre eigenen.
Ihr Widerwille nahm zu, als man auf den Ehevertrag zu sprechen kam und auf das, was die Eheleute einzubringen hatten. Für sie war das neben einer Mitgift, deren Höhe die Augen der künftigen Schwiegereltern leuchten ließ, eine sich über Monate hinziehende Lieferung von frischem Dung für die Beete der Vitrys.
Am Tag der Verlobung und der Unterschrift vor dem Notar suchte sie, gequält von der Aussicht auf ein Leben an der Seite dieses Tölpels, aus einer plötzlichen Anwandlung heraus das Weite und ließ Kälber, Kühe, Ochsen, Misthaufen und Salate, einen verdatterten Verlobten und zwei bekümmerte Familien einfach stehen. Da sie fürchtete, gesucht zu werden, tauchte sie in der Großstadt unter, um sich im Meer der Menschenmassen zu verlieren.
Vater Pindron, tief gekränkt von der Handlungsweise seiner Tochter, unternahm nichts, um sie zu finden. Sie hatte die Familie entehrt, für ihn war sie gestorben und wurde sofort enterbt. Ihn selbst brachte die Schmach um. Er wurde krank, legte sich ins Bett und starb ein paar Tage später, während seine Witwe sich ins heimatliche Burgund zurückzog. Den Hof samt Inventar und Vieh hatte sie zu einem guten Preis einer vermögenden Familie von Viehzüchtern aus dem Faubourg verkauft, die sich notariell verpflichtete, ihr bis zu ihrem Tod eine Pension zu zahlen.
Ihre Tochter Marguerite hingegen irrte monatelang durch Paris, schlief auf den Quais und richtete sich Verstecke in den Pyramiden des Port au Bois ein, entweder am Quai Saint-Paul oder zwischen den Fässern am Quai de la Rapée. Das vom Fluss angeschwemmte Holz war teilweise zu vier- oder dreieckigen Pyramiden aufgeschichtet worden, ein großer Teil indes war unordentlich gestapelt oder willkürlich hingeworfen worden, sodass ein Labyrinth mit geheimnisvollen Ecken und Winkeln, Biegungen und Gässchen entstanden war, in dessen Innerem des Nachts ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen unterkroch und frühmorgens verstört und müde wieder zum Vorschein kam.
Die wenigen Louisdor, die Marguerite ihrem Vater gestohlen hatte, waren schnell aufgebraucht, aber da sie lesen und schreiben konnte, nutzte sie diese Kenntnisse bei den Ärmsten, um bis zum Winter durchzukommen. Eines Abends, an dem sie verzweifelt war und Hunger und Kälte sie quälten, begegnete sie einem gut gekleideten jungen Mann, der sie in seine Wohnung mitnahm und sie, nachdem sie sich gewaschen hatte, zu seinem willenlosen Geschöpf und Lustobjekt machte. Er kleidete sie ein, gab ihr zu essen und stellte sie seinem Schwager vor, der Maître d’hôtel beim Duc de La Vrillière war. Ihre Freude, eine Arbeit gefunden zu haben, verflog schnell. Sie war dort die Letzte in einer Armee von Dienstmädchen, die die Nachttöpfe und Eimer leerten, die ekelhaftesten Arbeiten erledigen und die bittersten Abfuhren einstecken mussten.
Sie brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass sie dem Schwager zu Willen würde sein müssen. Dieser, seit zwei Jahren Witwer, ertrug die Einsamkeit nicht und war hinter allem her, was im Hôtel Saint-Florentin Röcke trug. Sogleich entbrannte er für ihre Schönheit und Jugend. Anfangs widersetzte sie sich seinen Avancen, doch die Angst, wieder auf der Straße zu landen, war groß. Und so vertraute sie sich ihrem angeblichen Wohltäter, dem ebenso gut aussehenden wie skrupellosen jungen Mann, an, der sie auslachte und sie zusätzlich auszunutzen begann.
Immer häufiger lieh er sich kleine Summen von ihrem Lohn. Marguerite wusste nicht mehr, wie sie die Fesseln, die sie einschnürten, trotz ihrer Zwangslage abstreifen und sich der ständigen Avancen eines alten Knackers erwehren sollte. Alle möglichen Launen und Listen bot sie auf, um ihn sich vom Hals zu schaffen, scheute selbst vor flüchtigen Affären mit jüngeren Domestiken nicht zurück und machte keinen Hehl aus ihren Seitensprüngen, alles in der Hoffnung, dass er sich angewidert von ihr abwandte. Vergeblich. Damit steigerte sie sein Verlangen nach ihr nur. Unaufhörlich quälte ihn die Eifersucht, und es kam zu schrecklichen Szenen zwischen ihnen.
Tränen traten ihr in die Augen. Das alles war nämlich nicht das Schlimmste. Die Ereignisse, die sich drei Tage zuvor abgespielt hatten, wollten ihr nicht aus dem Kopf. Ihr junger Liebhaber war am Abend nach seinem Dienst erschienen, um sie abzuholen. Sie hatte durch eine Hintertür das Haus verlassen müssen, um zu ihm in seine Kutsche zu steigen. Nach einer langen Fahrt hatte er...
Erscheint lt. Verlag | 18.11.2019 |
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Reihe/Serie | Commissaire Le Floch-Serie | Commissaire Le Floch-Serie |
Übersetzer | Michael Killisch-Horn |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Le Crime de l'Hôtel Saint Florentin |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | Dienstboten • eBooks • Frankreich • Historische Kriminalromane • König Ludwig XV. • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Liebesaffären • Paris im 18. Jahrhundert • Rinderwahnsinn • Versailles |
ISBN-10 | 3-641-25047-1 / 3641250471 |
ISBN-13 | 978-3-641-25047-8 / 9783641250478 |
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